Sechstes Kapitel

[20] »Wird es denn nimmermehr Tag werden!« – rief ich aus – indem ich die Thüre des Balkons auseinander schlug und mich trotzig – als müsse die Sonne meinen Befehlen gehorchen – auf das eiserne Gitter lehnte. Aber ach! noch verweilte die Sonne! – noch war kein Bothe zu hören. Halb vier Uhr war er weggeritten, jetzt repetirte meine Uhr – wie? sollte sie unrecht gehen? – erst vier!! – ach! das begriff ich nun wohl: vor einer Stunde war keine Antwort zu hoffen.

Unmuthsvoll streckte ich mich auf das Sopha, und der junge Despot, welcher vor einigen Augenblicken der Sonne gebiethen[20] wollte; lag nun bald vom Schlummer überwunden, seiner Stärke, wie seiner Schwäche sich nicht mehr bewußt.

Als ich erwachte, sah ich meine Tante mit einem offnen Briefe an meiner Seite sitzen.

»Sie haben?« – fragte ich – und streckte die Hand zitternd nach dem Briefe aus. –

»Ja, sie haben es angenommen« – fiel meine Tante ein – »aber mit einer Bedingung.«

»O alle mögliche! alle mögliche Bedingungen« – rief ich, und sprang vom Sopha auf.

Die Tante. Es wird dir schwer werden, lieber Gustav – aber es ist nun einmahl nicht anders.

Ich. Was? um Gottes willen! was wird mir schwer werden?

Sie. Sie nicht zu sehn.

[21] Ich. Sie nicht zu sehen! – wie, haben Sie recht gelesen? sieht das da?

Sie. Lies selbst. Wie ich dir sage: nur unter dieser Bedingung.

»Ach ich bin verloren! ich bin ein unglücklicher Mensch!« – Mit diesen Ausrufungen übertäubte ich jetzt alle Trostgründe meiner Tante.

Doch endlich legte sich der Sturm, ich fing an mich zu sammeln, und sah nun freilich wohl ein: daß meine Lage bey weitem nicht so hoffnungslos war; als sie es anfangs geschienen hatte, daß sich noch mancher bedeutender Vortheil von Mariens Nähe ziehen ließe, und daß es nichts weniger als unmöglich seyn würde, sie zu sehen; ohne von ihr gesehen zu werden.

Das unterscheidentste Kennzeichen der ersten, so wie der wahren Liebe – vielleicht sind diese beyden Worte gleichbedeutend – ist Genügsamkeit. Es bedurfte[22] nichts als die Hoffnung, Marien sehen und beobachten zu können; um den schwärzesten Unmuth durch die beseeligendste Phantasie zu verdrängen.

Den folgenden Abend wollten die Frauenzimmer nach dem Pachtergütchen abgehen: ich eilte daher, mich noch zuvor an dem Anblicke der Zimmer zu laben, welche nun bald alle meine Wünsche in sich schließen sollten. Meine Tante machte alle Vorkehrungen zur Einrichtung des kleinen Hauses: aber ob ich gleich jetzt zum ersten Mahl etwas der Dankbarkeit ähnliches für sie empfand; so war es mir dennoch nicht möglich, meine Begierde bis zu ihrer Abreise bezähmen zu können, und ich sprengte vom Hofe, noch ehe ihr Wagen vorgefahren war.[23]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Gustavs Verirrungen. Leipzig 1801, S. 20-24.
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