Vierzehntes Kapitel

Drei Jahre später

[341] Es war nun wieder Herbst, der dritte, seitdem Baltzer Bocholt in seine schwere Krankheit gefallen war, und die Berglehnen hüben und drüben standen wieder in Rot und Gelb, und die Sommerfäden zogen wieder, und der Rauch aus den Häusern und Hütten stieg gerade auf in die klare, stille Luft.

Es hatte sich nichts geändert im Tal, am wenigsten oben auf dem Schloß, und die Beamten und Verwalter kamen alle Freitage nach wie vor zum Rapport, und das Feuer brannte nach wie vor in der Halle bei Winter- und Sommerzeit. Auch die schwarze Witwenhaube der Gräfin hatte noch dieselbe tiefe Schnebbe wie vordem, und nur ihr Haar, das unter der Haube hervorsah, war um ein weniges weißer und spärlicher geworden.

Und wie die Gräfin oben auf dem Schloß, so Sörgel unten in seiner Pfarre, der nach wie vor zu Lust und Erbauung seiner[341] Emmeroder predigte, trotzdem er nahe an achtzig war. Und wenn er so sonntags auf seiner Kanzel stand und den Schwindel kommen fühlte, daran er seit Jahren litt, so wußt er rasch ein Ende zu finden und sagte nur: »Der Friede Gottes, der besser ist als alle Vernunft, sei mit euch allen!« und gab nach der Orgel hin ein Zeichen. Und ehe eine Minute vorüber war, sang die Gemeinde ihren letzten Vers, und war keiner unter ihnen, der an dem Predigtabbruch einen ernstlichen Anstoß genommen hätte. Vielmehr schloß ihn mancher in sein Gebet ein und betete zu Gott, daß er ihnen den alten Sörgel, krank oder gesund, noch lange Zeit erhalten möge. Denn er war ein guter, christlicher Mann, christlich in seinem Gemüte, wenn auch nicht immer in seinem Bekenntnis, und liebte seine Gemeinde, darin er über fünfzig Jahre getraut und getauft und mit all seiner Aufklärung keinen nachweisbaren Schaden angerichtet hatte.

Und wie drinnen in Pfarr und Kirche, so war auch draußen auf dem Kirchhof alles beim alten geblieben, und wenn ein Unterschied gegen früher war, so war es der, daß die Stechpalmen etwas höher über die Feldsteinmauer hinausgewachsen und zwei Gräber etwas besser gepflegt waren als seit lange: das von Hildes Mutter und das von des Heidereiters erster Frau. Beide standen wieder in Blumen, und während auf dem einen die Gitterknöpfe neu vergoldet waren, waren auf dem anderen die gelben Buchstaben und das Dach über dem Holzkreuz erneuert worden.

In der Tat, nichts hatte sich verändert, und wer in die Talschlucht einbog, der hörte wie früher das Klappern und Stampfen von Diegels Mühle her und sah wie früher die schrägliegende Tanne, die von Ellernklipp herab ihre Nadeln auf den schmalen, an der Felswand hinführenden Fußweg streute. Nichts hatte Wandel oder Abweichung erfahren, auch das Einerlei des Herkommens nicht, und die Tage dreier Jahre, weil sie so gleichmäßig gewesen, waren auch dem Gedächtnis gleichmäßig entschwunden.

Alle, nur einen ausgenommen. Und wenn dieser eine, was nicht selten geschah, unter mancher Zutat und Ausschmückung[342] in der Spinnstube durchgesprochen wurde, so hieß es von der einen Seite: wie schön sie gewesen sei und wie blaß. Aber andere lachten bloß und bestritten es und sagten: sie sei nicht blasser gewesen als sonst. Und warum auch? Es sei doch, trotz seiner fünfzig, ein Glück für sie. Denn was habe sie denn mitgebracht in die Ehe? Natürlich die langen Wimpern. Aber die Wimpern, du mein Gott, die hätten ja von Jugend auf die Mauser gehabt, und neben einer fehlten immer zwei. Und dann das bißchen rote Haar. I nun, das möchte gehen. Aber woher habe sie's denn? Von der Muthe nicht, die sei schwarz gewesen; und von dem Rochussen erst recht nicht, der sei pechschwarz gewesen und eigentlich überhaupt bloß ein Zigeuner.

Und so ging das Gerede und Gelach. Aber an dem Tage, wo die Hochzeit stattgefunden hatte, da war es anders gewesen, und alles hatte sich herzugedrängt, um das Paar zu sehen. Überall, an der Hecke hin, hatten sie schon vom ersten Läuten an gestanden, und in der Kirche hatte kein Apfel mehr zur Erde gekonnt. Und hatte nicht anders sein können, denn auch viele Ilseburger waren herübergekommen, und in dem gräflichen Chorstuhl hatte nicht bloß die Gräfin gesessen, sondern auch ihr Besuch: Offiziere aus dem Preußischen und Sächsischen her, und darunter ein alter General mit bloß einem Auge und einem schwarzen Seidenfleck auf dem anderen. Und dann war der alte Sörgel von der Sakristei her erschienen und hatte vor dem Altar ein kurzes Gebet gesprochen, ernst und schön; aber eine kleine Weile, da war ihm das Zittern gekommen, an dem er noch mehr litt als an dem Schwindel, und sie hatten ihm einen Stuhl bringen müssen. Und weil er nun so niedrig saß, waren Baltzer Bocholt und Hilde niedergekniet, und so zu den Knienden hatte der Alte gesprochen und ihnen die Traurede gehalten. Er hatte den Text dazu wohlweislich aus dem Buche Ruth genommen, weil er sich der Vorliebe Hildens für das Weib des Boas aus früheren Tagen her sehr wohl erinnert hatte. Der Text aber hatte gelautet: »Und Ruth sprach zu Naemi: Laß mich aufs Feld gehen und Ähren lesen, dem nach, vor dem ich Gnade finde.« So waren die Worte gewesen, über die der[343] Alte geredet, eindringlich, liebevoll und kurz. Und als er zuletzt die Formel gesprochen und sie zusammengegeben, hatte sich Hilde von der Bank erhoben, auf der sie gekniet; aber Baltzer Bocholt war noch auf seinen Knien geblieben und hatte sich erst aufgerichtet, als ihm Hilde zugeflüstert, es sei Zeit. Und danach hatte jeder sehen können, wie's ihm um den Mund gezuckt, keiner aber deutlicher als der alte Melcher Harms, der all die Zeit über unterm Chorstuhl der Gräfin gestanden.

Und danach hatte man die Kirche verlassen, und alle Geladenen waren in das Hochzeitshaus hinübergegangen, um an dem Schmaus und der Freude des Tages teilzunehmen; an Melcher Harms aber, der seitens des Heidereiters nicht aufgefordert worden, war einer der gräflichen Diener mit der Weisung herangetreten, daß ihn die Gräfin um die sechste Stunde zu sprechen wünsche.

Da hatte sich der Alte verneigt. Und mit dem sechsten Glockenschlage war er erschienen und durch die große Halle hin auf einen mit einem vergoldeten Gitter eingefaßten Balkon geführt worden, auf dem die Gräfin mit ihren Gästen Platz genommen und eben ein angeregtes Gespräch begonnen hatte. Zumeist mit dem alten General, der quer saß und mit seinem zugeklebten Auge – denn die Dinge dieser Welt bedeuteten ihm nichts mehr – in die Landschaft sah. Als aber die Gräfin ihres Schützlings ansichtig geworden, hatte sie sich erhoben und ihn ihren Gästen als ihren »besten Freund« vorgestellt, was bei den jungen Herren ein Lächeln und eine Verwunderung, bei dem alten General indessen, der ein Zinzendorfscher war, eine freudige Zustimmung gefunden hatte.

»Setzt Euch, Melcher Harms. Hierher, bitte. Ich habe den Herren von Euch erzählt. Und der Herr General, der im Bekenntnis steht und an die Wunder und Wege Gottes glaubt, möcht Euch kennenlernen und ein Wort von Euch vernehmen. Ihr waret in der Kirche heut und habt den alten Sörgel gehört. Wie schien er Euch?«

»Er hat mir das Herz getroffen . Und das hat er, weil er die Liebe hat. In der steht er und wirket in Segen, obwohlen er den[344] Quell des Glaubens vermissen läßt, um die, die wahrhaft dürsten, damit zu tränken. Er hat nur die zweite Liebe, die Menschenliebe... Zumeist aber liebt er die Hilde, das liebe Kind, das nun heute seines Pflegevaters ehelich Weib geworden ist. Und Gott gebe seinen Segen und tue das Füllhorn seiner Gnaden auf und woll alles zum Guten und Besten wenden.«

»Aber, Vater Melcher, das klingt ja fast, als fürchtet Ihr ein Gegenteil! Und ich denke doch, alles liegt gut. Ich habe wohl reden hören von des Heidereiters Sohn, und daß sie den geliebt hätt und nicht den Alten. Aber Ihr wißt, wir haben ihn in unseren Amtsblättern aufrufen lassen und danach in allen Gazetten, ohne daß er gekommen wär oder ein Zeichen seines Lebens gegeben hätte. Und ist nun tot befunden und erklärt. Oder glaubt Ihr, er werde wiederkommen?«

»Er wird nicht wiederkommen«, antwortete Melcher, indem er seine Stimme hob. »Und wenn er wiederkommt, so kommt er, woher wir ihn nicht rufen können. Und kommt freiwillig, um noch zu ordnen, was zu ordnen ist. Denn ewig und unwandelbar ist das Gesetz!«

Alle horchten auf.

Die Gräfin aber entgegnete: »Ich weiß, Vater Melcher, daß Ihr an solche Erscheinungen glaubt, und ist nicht Ort und Stunde, dafür oder dawider zu streiten. Und auch nicht darüber« – und hier verbeugte sich der alte General gegen die Gräfin –, »ob nicht die Gnade mächtiger und unwandelbarer ist als das Gesetz. Über all das nicht heute. Heute nur das: Ihr wißt, daß er tot ist?«

Der Alte bejahte.

»Nun denn, so seh ich nicht, was Euch Furcht oder Sorge schafft. Oder mißtraut Ihr dem Manne? Daß er bei Jahren, ist nicht vom Übel. Es sind nicht die schlechtesten Ehen, wo der Mann sein Ansehen verdoppelt, weil er zugleich ein Vater und Erzieher ist. Ich hab umgekehrt mehr Ehen daran scheitern sehen, daß dies Ansehen fehlte. Der Baltzer Bocholt aber hat das Ansehen; er ist ein ehrenhafter Mann und wird die Hilde nicht an den Altar gezwungen haben.«[345]

Der Alte schwieg.

»Ihr schweigt. Wenn Ihr es anders wißt, so sagt es. Ich hab eine Teilnahme für das Kind. Ich meine für die junge Frau.«

»Nein, er wird die Hilde nicht an den Altar gezwungen haben«, wiederholte Melcher Harms die Worte der Gräfin. »Und doch ist es ein Zwang.«

»Ihr müßt deutlicher sprechen, Vater Melcher. Ihr seid zu vorsichtig in Eurer Rede.«

»Nun denn, Gräfin, sie hat nie vergessen, was er an ihr getan; aber zugleich auch ist sie die Furcht vor ihm nie losgeworden. Und aus Furcht und Dankbarkeit ist es gekommen, und aus Furcht und Dankbarkeit hat sie ja gesagt.«

Unter diesem Gespräch hatte sich die Teilnahme des alten Generals, dem in der Tat ein gut herrnhutisch Herz in der Brust schlug, immer aufrichtiger dem »Erweckten von Emmerode« zugewandt; die Gräfin aber antwortete: »Sörgel und Ihr, Melcher Harms, ihr seid ihr Freund. Aber Ihr wißt doch, was die Leute sagen: sie lebe so müd und matt in den Tag hinein; und stille Wasser seien tief. Und sei keiner, dem sie's nicht angetan. Und habe doch selber kein Herz und keine Liebe. Ja, lächelt nur! Ihr seht, ich habe meine Zuträgerschaften. Aber ich mißtraue solchem Urteil, und nun sagt mir das Eure.«

»Wer das alles von der Hilde gesagt hat, der hat sie gut genug gekannt. Aber er ist auf halbem Wege stehengeblieben. Ja, Gräfin, es ist eine sehnsüchtige Natur, die Liebe will. Und daß ich's sagen muß: auch irdische Liebe. Danach trachtete sie durch Tag und Jahr und wartete darauf und wartet noch. Und ist all' umsonst, wie lang sie warte. Denn ich seh ihre Zukunft so klar wie die Tanne drüben auf Ellernklipp, und weil sie's auf Erden nicht finden wird, so wird sie's suchen lernen dort oben und wird sich klären und in himmlischer Liebe leben und sterben. Und wird ein Engel sein auf Erden. All das seh ich, und sehe nichts mehr von ihrer Schuld und Schwäche. Ja, Gräfin, eine Gebenedeite wird sie sein, sie, die heute nach dem unerforschlichen Ratschlusse Gottes ihres Pflegevaters Frau geworden[346] ist. Und wird die Kraft haben, viel manchen von uns freizubeten, zumal auch einen, den ich heute nicht nennen will.«

Er hatte das alles mit dem ganzen Leuchteblick eines echten Konventiklers gesprochen, der sich seiner Prophetengabe voll bewußt ist, und selbst die jungen Herren, die sich anfangs nur spöttische Bemerkungen über das »Orakel von Emmerode« zugeflüstert hatten, waren still geworden. Der alte General aber, als Melcher Harms jetzt aufstand, stand mit ihm auf und gab ihm das Geleite durch Saal und Halle hin bis an die Wendeltreppe.

Die jungen Offiziere ihrerseits hatten inzwischen ihren Übermut wiedergewonnen und zogen sich, ungestört von der Gräfin, in eine Balkonecke zurück, die jedem einzelnen einen Blick auf das Tal und das gegenüberliegende Haus des Heidereiters gönnte.

»Sieh, Lothar«, sagte der eine, »sie stecken jetzt drüben die Lichter an.«

»Aber ohne Hymens Fackel.«

»Es wird so schlimm nicht sein«, entgegnete der erste wieder. »L'appetit vient... Und nun gar die: blaß und rotblond und matt und müde. Wir sagen ›languissant‹, und ich denke, wir wissen, was es meint.«

»Aber languissant ist irdisch. Und du hast doch gehört, mit dem Irdischen ist es für sie vorbei.«

»Nicht doch. Er sprach bloß von der Zukunft. Und wenn wir auf die warten, ich mein auf die Zukunft, so wachsen wir uns auch noch in die himmlische Liebe hinein. Beiläufig, wie denkst du sie dir?«

»Entbehrlich.«

Und sie lachten und medisierten weiter.

In des Heidereiters Haus aber wuchs der festliche Lärm, und als spät nach Mitternacht alles heimkehrte, war keiner, der nicht versichert hätte, daß dies die lustigste Hochzeit seit Menschengedenken gewesen sei.

»Und je lustiger die Hochzeit, desto glücklicher das Paar.«[347]

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 3, Berlin und Weimar 21973, S. 341-348.
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