Achtes Kapitel

Hilde bei Melcher Harms

[301] Um Mittag aber schürzte sich Hilde, nahm eine der großen, zugeschrägten Milchkufen und schritt über ein in den steilen Rasen eingeschnittenes Gartentreppchen erst auf das Feld und dann auf die Sieben-Morgen zu, wo, wie sie wußte, Melcher Harms seine Herde weidete.

Der Alte, den seine siebzig Jahre mehr erhoben als niedergedrückt hatten, war – das Los aller Konventikler – ebensosehr der Spott wie der Neid des Dorfes. Und ein Rätsel dazu. Selbst über seine Zugehörigkeit zu dieser oder jener Sekte wußte niemand Bestimmtes, und wenn er einerseits unzweifelhaft unter dem Einfluß einer herrnhutischen und dann wieder einer geisterseherischen Strömung war, so war es doch ebenso sicher, daß er sich unter Umständen von jedem derartigen Einflusse frei zu machen und seinen eigenen Eingebungen zu folgen liebte. Widersprüche, die dadurch in sein Leben und sein Bekenntnis kamen, kümmerten ihn wenig, am wenigsten aber die Gräfin oben, die gerade um dieser seiner Freiheit und anscheinenden Willkürlichkeit willen an sein Erleuchtet- und Erwecktsein glaubte.

Was Hildens Schritt in diesem Augenblicke beflügelte, war freilich ein anderes und wurzelte neben einem immer wachsenden Hange, den Alten seine Märchen und Geschichten erzählen zu hören, einfach in einem lebhaften Gefühle des Dankes und der Liebe. Schon aus ihrem heute so freudig bewegten Gange sprach dieses Gefühl, und Joost, der sein Sielenzeug eben über den heiß von der Mittagssonne beschienenen Zaun hing, sah ihr nach und sagte: »Süh moal. Mit eens wedder prall und drall.«[301]

Und ihr leichter Schritt hielt an und verriet nichts von Ermüdung. Aber der Weg mußte doch anstrengender gewesen sein als sonst, denn sie war erhitzt, als sie bei Melcher Harms oben ankam. Der saß auf einer großen Graswalze, sein Strickzeug in der Hand, und sagte: »Du kommst wieder wegen der Milch, Hilde. Warum schickst du nicht Mutter Rentsch oder die Christel?« Und dabei nahm er ein groß Stück wollenes Zeug, das ihm als Mantel diente, und warf es ihr über Kopf und Schulter; denn so heiß es auf dem Weg hinauf gewesen, so herbstlich kühl war es oben am Waldrande hin, an dem die Herde weidete.

Hilde ließ sich die Vermummung gefallen, sah ihn freundlich an und sagte: »Die Milch? Ihr wißt ja, Vater Harms, es ist nicht wegen der Milch, es ist wegen Euch, daß ich komme. Der Vater ist fort nach Ilseburg, und erst um die sechste Stunde will er wie der dasein und einen frohen Tag haben. Denn er hat heute Geburtstag. Neunundvierzig. Und ich finde, es sieht's ihm keiner an.«

»Da hast du recht«, antwortete der Alte. »Und ich will dir sagen, woher es kommt. Er hat die Kraft. Und die Kraft hat er, weil er Gott hat und lebt nach seinen Geboten. Und wäre der da drüben nicht« – und dabei wies er nach dem Pfarrhause hinüber, aus dessen Dach eben ein friedlicher Rauch aufstieg –, »so hätt ich ihn lang in unserem Saal. Aber ich mag es dem Sörgel nicht antun, obwohlen er auf dem Irrpfad ist. Und kann kein Friede sein zwischen ihm und mir.«

»Er hat aber die Liebe«, sagte Hilde.

»Ja, die hat er. Nicht die große, die hebt und heiligt und die nur gedeiht, wo der Boden des rechten Glaubens ist; aber die kleine hat er, die heilt und hilft. Und weil er sie hat und weil er das hat, was die Menschen ein gutes Herz nennen, darum laß ich ihn und decke seine Schwäche vor aller Welt nicht auf.«

Unter diesem Gespräch hatte sich Hilde wieder aus dem Stück Zeug herausgewickelt und warf es ein paar Schritte hinter sich auf eine Stelle zu, die hoch in Gras stand, als ob sie bei der letzten Heumahd vergessen wäre. Die vordersten[302] Bäume des Waldes traten bis dicht heran und bildeten ein Dach darüber.

»Es ist keine gute Stelle«, sagte der Alte, während er sich halb umwandte. »Da liegt der Heidenstein. Und ist ein Spuk dabei.«

»Spuk!« lachte Hilde. »Spuk! Und Ihr glaubt daran, Vater Melcher? Ich nicht, und der alte Sörgel auch nicht. Und wenn er hörte, daß Ihr von Spuk sprecht, so würd er auch wohl von ›Irrpfad‹ sprechen. Aber von Eurem

»Ja, das würd er«, antwortete Melcher Harms. »Ein jeder nach seinen Gaben. Und der Alte drüben ist arm und dunkel. Am dunkelsten aber da, wo seine Vernunft und seine Weisheit anfängt und sein Licht am hellen Tage brennt. Denn der halbe Glaube, der jetzt in die Welt gekommen ist und mit seinem armen irdischen Licht alles aufklären und erleuchten will und sich heller dünkt als die Gnadensonne, das ist das unnütze Licht, das bei Tage brennt.«

»Aber, Vater Melcher, Ihr sprecht von halbem Glauben und steht mit Eurem Spuk in dem, was schlimmer ist, im Aberglauben.«

»Nein, Hilde. So gewiß ein Gott ist – und ich hab es dir oft gesagt, und du hast es mir nachgesprochen –, so gewiß auch ist ein Teufel. Und sie haben beid ihre Heerscharen. Und nun höre wohl. An die lichten Heerscharen, da glauben sie, die Klugen und Selbstgerechten, aber an die finsteren Heerscharen, da glauben sie nicht. Und sind doch so sicher da wie die lichten. Und tun beide, was über die Natur geht, über die Natur, soweit wir sie verstehen. Und tun es die guten Engel, so heißt es Wunder, und tun es die bösen Engel, so heißt es Spuk.«

»Und meint Ihr, daß auch die Gräfin drüben daran glaubt?« entgegnete Hilde.

»Die glaubt daran, denn sie hat davon an ihrem eigenen Haus erfahren. Aber auch das Wunder und die Gnade. Denn ihr Urahn, der war Kämmerling im Dienste von Herzog Heinrich, von dem du wissen wirst. Und als der Herzog Heinrich wiederkam aus dem Gelobten Lande und der Spuk und der[303] Versucher überwunden waren, da war alles Wunder und Gnade. Wunder und Gnade durch viele Jahre hin.«

»Oh, erzählt mir davon! Und danach auch von dem Kämmerling.«

Melcher Harms lächelte, daß ihr der Urahn der Gräfin so vor allem am Herzen zu liegen schien, und begann dann, während er sein Strickzeug wieder in die Hand nahm: »Es sind nun schon viele hundert Jahre, und unser Schloß drüben hatte noch keine Zacken und Giebel, da war alles hier herum ein großes, großes Land, und der Herr in dem Lande war Herzog Heinrich. Das Land aber hieß, wie heute noch, das Braunschweiger Land. Und als Kaiser Rotbart auszog, um das Grab zu gewinnen, da zog auch der Herzog Heinrich mit ihm, und seine Herzogin Mechthildis ließ er zurück in seinem Schloß.«

»Und auch den Kämmerling?«

»Auch den

»Und wie hieß der?«

»Einhart von Burckersrode. Der blieb bei der Herzogin und war schon alt. Herzog Heinrich aber fuhr mit dem Kaiser flußabwärts viele, viele Wochen lang. Und auf Ostern kamen sie bis an eine große Stadt, die schon am Meere lag, und empfingen Geschenke, so viel, daß sich jeder, der mit ihnen war, in Sammet und Seide kleiden konnte.«

»In Sammet und Seide!« bewunderte Hilde.

»Und danach stiegen sie wieder zu Schiff und fuhren dem Gelobten Lande zu. Aber sie fanden es nicht, und alle starben Hungers; und als die Not am größten war, da senkte sich ein Wundervogel herab, den sie Greif nennen, der hob den Herzog in seinen Fängen auf und trug ihn ans Ufer in sein Nest. Da waren viel junge Greife, die die Hälse nach ihm reckten, aber er erschlug sie, groß und klein, und nahm eine Greifenklaue mit sich. Die hängt im Dome bis diesen Tag.«

»Ich weiß. Aber wie geht es weiter?«

»Und danach stieg unser Herzog aus dem Greifennest und sah sich in einem tiefen Walde, darin ein Drachen und ein Löwe miteinander kämpften. Er aber stellte sich zu dem Löwen[304] und tötete den Drachen. Und von Stund an war ihm der Löwe treu und untertan und trug ihm die Hirsch und Rehe zu.

So zogen sie miteinander eine lange Strecke Wegs; aber der Wald war endlos, und sie kamen nicht heraus.

Da befiel den Herzog eine tiefe Trauer, zumal wenn er an sein Land und seine Herzogin gedachte. Denn es ging nun schon in das siebente Jahr, daß er ausgezogen war. Und als er so lag, erschien ihm der Versucher und sagte: ›Gestern mittag ist ein anderer bei dir eingezogen und will Wirtschaft halten. Und er nimmt dein Weib und dein Land.‹ Und bei diesen Worten grämte sich der Herzog mehr noch als zuvor, denn er liebte die Herzogin; und er rang und betete, wie wir alle tun, wenn wir in Not und Bitterkeit des Herzens sind, und rief Gott an um seine Hülfe und seinen Beistand. Und das alles hörte der Versucher und sagte: ›Du redest umsonst zu deinem Gott; ich aber, ich werde dir helfen und dich bis in deine Stadt führen, heute noch, und dich ohne Schaden auf den Giersberg niederlegen. Danach aber werd ich in diesen Wald zurückkehren und auch deinen Löwen einholen. Und alles, was du zu tun hast, ist, daß du zwischeninne nicht schlafen sollst; und schläfst du nicht, so hast du gewonnen, und schläfst du doch, so hast du verspielt und bist mein mit Leib und mit Seele.‹

Darein willigte der Herzog, und der Versucher ergriff ihn und trug ihn im Sturme durch die Luft.«

In diesem Augenblick aber zuckte Hilde heftig zusammen, denn ein Windstoß, als wär es der Sturm, von dem Melcher Harms eben gesprochen hatte, fuhr über die Stelle fort, wo sie saßen, und die Schalen der Bucheckern, die bis dahin oben am Waldesrande hin gelegen hatten, tanzten an ihnen vorüber.

Und dann war es wieder still, und der Alte, der des Zwischenfalles nur wenig geachtet hatte, nahm den Faden wieder auf und erzählte weiter: »Und siehe, der Versucher hielt sein Wort und legte den Herzog auf den Giersberg nieder und fuhr auch im Fluge wieder zurück, daß er den Löwen hole. Den Herzog aber überkam eine Todesmüdigkeit, und wiewohlen er wußte: ›Wachet und betet‹, so war seines Fleisches Schwäche doch[305] größer als seine Kraft, und er schlief ein. Fest und schwer. Und als nun der Böse mit dem Löwen abermals herankam und schon aus der Ferne den Herzog schlafen sah, da wurd ihm wohl in seinem teuflischen Herzen, und er freute sich seines Sieges; aber der Löwe hatte seinen Herzog auch gesehen, und weil er den Schlafenden nicht als schlafend erkannte, wohl aber ihn schon gestorben glaubte, so fing er an zu brüllen vor Schmerz über den Tod seines Herrn. Und von diesem Gebrüll erwachte der Herzog und war gerettet, gerettet durch die Treue. Ja, Hilde, die rettet immer. Und Gott erhalte sie dir, so du sie hast, und gebe sie dir, so du sie nicht hast.«

Es war ersichtlich, daß er in gleichem Sinne noch weitersprechen wollte. Wie von ungefähr aber wurd in eben diesem Augenblick ein Knistern hörbar, und als beide sich umblickten, sahen sie, daß Martin auf dem Heidensteine stand und das Mantelstück ihnen wie zu Gruß und Willkomm entgegenschwenkte. »Hoiho!« Und gleich danach sprang er auf sie zu, bot ihnen guten Tag und setzte sich.

»Von wo kommst du ?« fragte Hilde.

»Von woher ich immer komme. Von den Holzschlägern. Es ist jetzt da hin, daß sie schlagen, keine fünfhundert Schritt hinter Ellernklipp. Und wenn Vater Harms den Wiesenstrich nimmt, der zwischen dem Kamp und dem Walde läuft, dann ist es zum Abrufen nah.«

»Aber wie kamst du nur auf den Stein?«

»Ich schlich mich ran und duckte mich.«

Unter diesem Gespräche war Melcher Harms immer ernster und unruhiger geworden. Hilde jedoch hatte seiner Unruhe nicht acht und sagte nur: »Ich will das Ende hören.«

Und der Alte bezwang alles, was von Furcht und Sorge während dieser letzten Minuten über ihn gekommen war, und sagte, während er sich wieder zu Hilde wandte: »Die Treue seines Löwen also hatte den Herzog gerettet. Und so ging er bis vor das Schloß und hörte von der Halle her eine große Musik von Trommeln und Pfeifen, und er wußte nun wohl, daß es eine Hochzeit sei. Da nahm er einen Ring vom Finger, gab ihn[306] dem alten Burckersrode – dem Kämmerling – und beschwor ihn, daß er den Ring zur Herzogin Mechthildis hineintrage. Und als diese des Ringes ansichtig wurde, hob sie sich von der Tafel und sagte: ›Das ist meines lieben Herrn Ring, und er ist wieder da und ist nicht tot, und ich will ihn sehen und wieder die Seine sein.‹ Und als sie so gesprochen, führte man den Fremden, von dem der Ring kam, in die Halle des Schlosses, und die Herzogin sank vor ihm nieder und rief: ›Ich danke Gott, daß er mein still Gebet erhöret hat.‹ Und sie lud ihn neben sich, und alle sahen nun, daß es der Herzog war, und jeder gedachte der alten Zeit; aber des falschen Bräutigams, um dessentwillen die Hochzeitstafel angerichtet worden, gedachte keiner mehr.«

Da jubelte Hilde, daß es so gut gekommen, und Melcher Harms freute sich ihres Frohsinns und schloß: »Und ein fromm und herrlich Regiment begann all umher und konnte nicht anders sein in seiner Nähe. Denn er war, wie Fürsten sein sollen: treu und tapfer und gnädig und gerecht. Und hatte den Glauben. Und als er siebzig alt war, da ließ er sein Gemahl rufen und sagte: ›Meines Lebens Leben ist nicht lange mehr, und ich befehle nun Leib und Seele Christo Jesu, meinem lieben Herrn. Der wolle mein pflegen in Ewigkeit.‹ Und so starb er, und das Land ging in Trauer, und in Trauer ging Mechthilde, sein Gemahl. Aber der Löwe legte sich auf seines Herrn Grab und nahm nicht Speise noch Trank. Und so lag er und regte sich nicht, bis auch er gestorben war.«

»Und das ist da, wo noch heute der Löwe steht. Weißt du, Martin?« Und Hilde dankte dem Alten und sah nach dem Schloß hinüber, das eben jetzt im vollen Scheine der Nachmittagssonne dalag. Ein Habicht schwebte still und mit ausgebreitetem Flügelpaar darüber und schoß endlich in den finsteren Eichenwald nieder, der den alten Giebelbau drüben in seinen Armen hielt.

Und alle drei sahen's und hingen ihren Gedanken nach und hörten nichts als das nahe und ferne Herdengeläut und dann und wann das Echo, wenn ein Schuß in den Bergen fiel.[307]

Am stillsten aber war der Alte geworden, und Hilde, die gern wissen wollte, was es sei, sagte: »Geh vorauf, Martin.«

»Ihr wollt wieder allein sein«, lachte dieser. »Aber wie du willst. Nur verplaudere dich nicht und bleib nicht zu lang. Um die sechste Stunde will der Vater wieder dasein. Du weißt, er hat es nicht gern, wenn wer fehlt. Und nun gar heut.«

Und damit lief er schräg über die Berglehne fort und auf die lange Buchenhecke zu, die zu des Heidereiters Hause herniederführte.

Beide sahen ihm eine Weile nach. Dann sagte Hilde: »Ihr habt etwas, Vater Harms. Und es ist was mit dem Martin. Ich weiß wohl, Ihr seht alles und habt nichts Gutes gesehen. Sagt mir, was es ist.«

Er schwieg und schien unschlüssig in sich abzuwägen. Endlich nahm er Hildens Hand und sagte: »Ja, du hast recht, es ist was mit dem Martin... Er hat auf dem Heidenstein gelegen.«

»Oh, das hab ich auch.«

»Es ist ein Opferstein. Und sie sagen: wer darauf schläft, den opfern die finsteren Mächte.«

»Ja, wer darauf schläft

»Aber ich denke, Kind, ich hab es weggebetet.«

»Könnt Ihr das, Vater Harms?«

»Nicht immer. Aber oft. Das Gebet kann viel, und du wirst es noch erfahren. Aber erfahr es nicht zu früh, Hilde. Denn ich muß es dir noch einmal sagen, wir beten erst, wenn wir im Unglück sind. Und ich wünsche dir glückliche Tage. Ja, Kind, auch irdisch Glück ist süß.«

Über Hilden ergoß es sich blutrot, und es war ihr, als hab er in ihrem Herzen gelesen. »Ich muß mich nun eilen«, sagte sie, während sie sich rasch erhob und, ohne sich um die leergebliebene Kufe zu kümmern, über die Wiese hin bergab lief, immer in derselben Richtung, die Martin vor ihr genommen hatte.

Der alte Melcher aber war nur noch ernster und nachdenklicher geworden und redete halblaut und in abgerissenen Sätzen[308] vor sich hin: »Ich werd es nicht wegbeten, und keiner wird es. Ihr Blut ist ihr Los, und den Jungen reißt sie mit hinein. Es geschieht, was muß, und die Wunder, die wir sehen, sind keine Wunder... Ewig und unwandelbar ist das Gesetz.«

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 3, Berlin und Weimar 21973, S. 301-309.
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