|
[124] Der Curatus, der am andern Vormittage wie gewöhnlich zum Unterricht kam, war mit der Übertragung zufrieden und erheiterte sich an Franziskas Entsetzen über den Inhalt der Ballade. Dabei nahm er zugleich Veranlassung, den Literarhistoriker zu spielen, Barcsai sei Lieblingsballade von alter Zeit her und seinem Stoffe nach nicht schrecklicher als andere. Das sei nun mal Balladenrecht, wenigstens in Ungarn. Es gäbe kaum ein altes Volkslied, darin nicht Verrat und Untreue vorkämen, denn das Lied spiegle das Leben. Allerdings verlange das Volksgefühl hinterher auch Sühne, ja, sei dabei ziemlich streng und gestatte meist nur die Wahl zwischen Eingemauert- und Angezündetwerden. Aber das letztere werde bevorzugt, weil es bunter und lebendiger sei.
So ging das Geplauder, und alle Schrecknisse der Barcsaiballade[124] waren aus ihrer Seele weggescherzt, als der Graf sie gleich nach Ablauf der Unterrichtsstunde zur Spazierfahrt abholte.
Diese Spazierfahrten, die meist in die Berge hinein, aber auch wohl um die nördlichen Buchtungen des Sees gingen, blieben Franziskas besondere Freude, was nicht überraschen durfte. Der Graf war auf diesen Fahrten am gesprächigsten und plauderte dann viel von seinen Kinder- und Jugendjahren, von seiner geschwisterlichen Liebe zu Gräfin Judith und wie schön und reizend sie gewesen sei, bis endlich der alte Gundolskirchen, ein hausbackener Steiermärker, einer von denen, die mit Reiterstiefeln zur Welt kommen, an die Stelle der ihr angeborenen magyarischen Grazie die deutsche Würde vulgo Schwerfälligkeit gesetzt habe, den Rest habe dann die Kirche getan.
Allemal, wenn das Gespräch diese Richtung nahm, nahm Franziska wahr, daß es dem Grafen in der Neigung lag, über die kirchlich und zugleich schwerfällig-deutsch gewordene Schwester Judith in einen spöttischen Ton zu verfallen, aber ebensowenig entging ihr, daß es diesem spöttischen Ton an Unbefangenheit gebrach. Soviel er sich dagegen sträuben mochte, die Schwester hatte doch das, was ihm fehlte: Klarheit und Einheit. Sie war jede Stunde dieselbe, während er auf jedem Gebiete schwankte. Selbst sein prononciert ungrischer Patriotismus, so voll und ehrlich er war, war doch schließlich nicht ganz das, wofür er ihn ausgab, und so kamen ihm selbst zum Trotz immer wieder Stunden, in denen er empfand, ohne Hof und Hauptstadt eigentlich nicht existieren zu können. Es ging eben ein Bruch durch sein Leben und seine Denkweise.
Wochen vergingen. Eine besondere Freude war ihm die Vorliebe, mit der Franziska ihren Studien oblag, und nur ein Schatten lagerte sich über diese glückliche Zeit: allerlei Herrenbesuch aus der Nachbarschaft kam, oft mehr, als lieb und bequem war, aber die Damen blieben aus und ließen mit jedem Tage deutlicher erkennen, daß man die Mesalliance betonen wolle. Der Graf ärgerte sich heftig und begann den Besuchern, ja[125] selbst Szabô gegenüber, eine große Kühle zu zeigen und ließ sich dann im Gespräche mit Franziska, wenn der Besuch endlich fort war, bis zu Bitterkeiten und Drohungen hinreißen. Er sei nicht gewohnt, einen solchen Affront zu dulden; ob man ihn etwa zwingen wolle, sich an die Revision der ungrischen Stammbäume zu machen? Er habe lange genug gelebt, um das Wunderbarste darüber berichten zu können. In dieser erregten Sprache ging es weiter. Aber so heftig er war, so wurd es doch schließlich Franziska nie schwer, die Zornesfalte wieder wegzudisputieren. »Laß, Petöfy, du zwingst mich sonst, dir einen Kursus über vornehme Welt zu halten! Ich will dir erzählen, wie's kommt. Eines Tages sind wir in Pest, und ein Erzherzog oder vielleicht die Kaiserin selbst ladet uns in ihre Zirkel. Andrassy reicht mir den Arm, und Prinzessin Gisela gebt eine Viertelstunde lang in irgendeinem Poetensteig oder noch besser auf einer freien Parkwiese, wo wir hundert Zuschauer haben, mit mir spazieren. Sieh, ich biete jede Wette, den andern Vormittag weiß ich mich vor Besuch, auch vor Damenbesuch, nicht mehr zu retten.«
Es war eines Morgens im September, als dies Gespräch geführt wurde. Franziska zog sich gleich darnach in ihre Zimmer zurück und klingelte nach Josephinen. Diese war meistens guter Laune, hatte Neuigkeiten und erhielt jeden Tag einen langen und zärtlichen Brief von ihrem Wiener Bräutigam, was sie freilich nicht hinderte, sich von dem halben Schloß Arpa den Hof machen zu lassen. Dieses beständige Kokettieren, und noch dazu nach allen Seiten hin, berührte Franziska wenig angenehm, aber der Wiener Brief und die Lust und Ungeniertheit, womit seitens der Empfängerin der Inhalt desselben jedesmal zum besten gegeben wurde, ließen sie doch über manches hinwegsehen und brachten es zuwege, daß die Toilettestunde keineswegs zu den schlimmsten des Tages zählte.
»Nun, Josephine, was schreibt er heute?«
»Kein Brief gekommen.«
»Aber die Zeitungen sind doch schon da. Vielleicht ist er dir untreu geworden.«[126]
»O nicht doch, gnädigste Gräfin, das kann nicht sein. Ich hab einen Charme von klein auf, und wer den Charme hat, von dem kann keiner wieder los.«
»Er könnt aber doch gehört haben, daß du hier herumkokettierst und sogar mit dem Andras dein Wesen treibst.«
»Mag er. Da wird er bloß eifersüchtig, und mit der Eifersucht wächst der Charme. Das weiß ich. Übrigens brauchen wir heute keine Briefe, gnädigste Gräfin, denn wir haben genug mit uns selber zu tun. Ist ja seit gestern abend, als wäre der Böse los im Gebirg und auf dem See.«
»Was gibt es denn?«
»Ein Wildschwein hat dem Försterssohn von Szent-Görgey die Seit aufgerissen; liegt auf den Tod. Und auf dem See gestern abend, als die Fähre von Nagy-Förös nach Mihalifalva hinüber wollt, ist das Boot umgekippt, und ihrer elf sind ertrunken. Und der elfte war der Kaplan, das heißt ein junger Kaplan, hübsch und blaß, der einem Kranken die Sterbesakramente bringen wollt. Und hat das Allerheiligste hoch in der Hand gehalten, immer über dem Wasser. Aber es hat ihn auch nicht retten gekonnt.«
»Ich begreife nicht, daß mir der Graf nicht davon gesprochen hat.«
»Es kommt eben erst aufs Schloß, und der Herr Graf wissen es noch keine Viertelstund. Es ist das Neueste.«
Ausgewählte Ausgaben von
Graf Petöfy
|