Einundzwanzigstes Kapitel

[127] Die Nachricht von dem Unglück auf dem See hatte Franziska wirklich erschüttert, aber Josephinen, als sie nach einer halben Stunde das Zimmer wieder verließ, war es nichtsdestoweniger gelungen, das Gleichgewicht in ihrer Herrin Seele wenigstens so weit wiederherzustellen, daß alle vorerzählten Ereignisse nur noch nachwirkten, als ob sie sich im vorigen Jahrhundert oder weit weg in einem überseeischen Lande zugetragen hätten. In keinem Falle nahm Franziska Veranlassung, ihre Tagesordnung[127] dadurch stören zu lassen, die für heut einfach lautete: Brief an Gräfin Judith.

Unmittelbar nach ihrer Ankunft hatte sie bereits an diese geschrieben, aber doch nur wenige Zeilen, Zeilen, auf die weder eine Antwort erwartet noch eingetroffen war. So lag denn eine wirkliche Schreibepflicht vor.

»Schon seit einigen Tagen, meine gnädigste Gräfin, war ich willens, meiner ersten Benachrichtigung von hier einen längeren Brief folgen zu lassen, sah mich aber immer wieder an der Ausführung meines Vorhabens verhindert.

Auch der heutige Tag schien mich durch ein schweres Unglück auf unserem See, das dem Geistlichen von Nagy-Förös das Leben kostete – selbst das Allerheiligste versank in die Tiefe –, meinem Vorhaben abermals untreu machen zu wollen. Ich entreiße mich aber der dadurch hervorgerufenen Stimmung und schreibe.

Vierzig Tage sind es heute, daß ich auf Schloß Arpa bin, und die lange kurze Zeit liegt hinter mir wie ein Traum. Die Güte des Grafen gegen mich ist grenzenlos, seine Nachsicht rührend, seine Meinung von mir beschämend. Er findet, daß mir nicht ausreichend gehuldigt wird, und zürnt darüber mit der Nachbarschaft, die sich seiner Ansicht nach mehr als statthaft zurückhält; es gelingt mir aber immer wieder, einen Ausbruch seiner Empfindlichkeit zu hindern und ihm den gegenwärtigen Zustand als einen erklärlichen, entschuldbaren und sehr wahrscheinlich auch vorübergehenden darzustellen.

Ich habe mich nun hier völlig eingelebt, und so mag es mir gestattet sein, Ihnen, meine gnädigste Gräfin, ein Bild dieses Lebens zu geben.

Den Morgen verbring ich mit Petöfy; dann folgen viele Stunden, in denen ich mir allein gehöre. Das Zimmer, das ich bewohne – das zweifensterige neben dem großen Eßsaal –, gönnt mir einen Blick über den See, dessen Schönheit mich immer wieder entzückt. Anfänglich jeden Tag und jetzt jeden zweiten Tag kommt der Herr Curatus von Szegenihaza herauf und gibt mir eine Sprachstunde (magyarisch), die sehr oft eine Doppelstunde[128] wird. Gescheit und fromm, dabei persönlich ohne jedweden Anspruch, gehört er ganz jenen selbstsuchtlosen und aller Eitelkeit entkleideten Geistlichen zu, denen man in Ihrer Kirche häufiger begegnet als in der unsrigen. Ich disputiere mit ihm beinahe mehr, als ich konjugiere, woraus mir der Vorteil wird, im Ungrischlernen auch zugleich die katholische Kirche kennenzulernen, von der ich offen gestanden bis dahin sehr unausreichende Begriffe hatte.

Neben dem Geistlichen ist es der alte Toldy, der meine Zeit am meisten in Anspruch nimmt. Er lebt mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart, und unter den Gegenständen seiner Adoration steht Comtesse Judith obenan. Ein wahres Kreuz könnte mir sein bei jeder Gelegenheit hervortretendes Magyarentum sein, wenn nicht die Naivität, mit der sich dasselbe gibt, etwas Versöhnendes und oft etwas geradezu Rührendes hätte. So nehm ich ihn denn als Type, folg ihm liebevoll auch in seinen Schwächen und vervollständige durch mein Geplauder mit ihm die Sprachstudien, zu denen der Geistliche von Szegenihaza die Fundamente legt. Meine Fortschritte setzen mich beinahe selbst in Verwunderung, aber mehr noch, als sie mich verwundern, beglücken sie mich. Denn ich gehöre nun diesem Lande mit meinem Herzen, und wenn vielleicht nicht voll mit meinem Herzen, so doch mit meinen Entschlüssen an und will das ganz sein, was zu sein ich mir an jenem mir unvergeßlichen Tage vornahm, der mir zuerst Ihr schönes Herz und Ihre wohlwollenden Gesinnungen für mich offenbarte. Nach dem nur kurzen Diner, sechs Uhr, folgen Fahrten über Land, ein paarmal auch schon über den See. Das schönste Wetter hat uns bis jetzt begünstigt; nicht einmal ein Gewitter zog in den heißen Tagen herauf. Den Tee nehmen wir abwechselnd auf der Plattform in Front des Schlosses oder auf der obersten Gartenterrasse, die sich mehr und mehr in einen Blumengarten verwandelt hat. Ich erzähle dann, was ich von Josephine gehört oder auch in den Zeitungen gelesen habe, wobei mich immer wieder die schöne Milde des Grafen überrascht und ein Gerechtigkeitssinn, der, so möcht ich annehmen, auch[129] Sie, gnädigste Gräfin, in Erstaunen setzen würde. Denn er ist doch anders, als Sie vermeinen, anders in diesem und manchem andern Punkte. Wohl zeigt er sich unruhig und unbefriedigt und sucht die Ruhe nicht da, wo sie vielleicht einzig und allein zu finden ist, aber er sucht sie doch und nicht bloß in dem, was man Zerstreuungen nennt. Er birgt vielmehr umgekehrt einen Schatz von Gemüt in seinem Herzen, und daß er nur selten und immer nur flüchtig und andeutungsweise davon spricht, ist mir ein Beweis mehr von seiner tiefer angelegten Natur. Erst gestern abend auf unserer Spazierfahrt bei Sonnenuntergang, was er besonders liebt, überraschte mich wieder ein Wort von ihm. Die Sonne stand schon unter dem Horizont, aber in dem zurückgebliebenen Glutscheine spiegelte sich noch von unten her ihr Schattenbild. Er wies darauf hin und sagte: ›Sieh, Franziska, das ist das Leben oder doch sein Ausgang. Wenn die Sonne fort ist, bleibt uns ihr Bild noch eine Weile zurück, aber ein Schattenbild nur, und auch das ist kurz.‹ In dieser Weise spricht er öfter zu mir und verrät darin einen Anflug von Resignation, der mich betrübt. In allem andern aber bin ich glücklich und unzweifelhaft um vieles glücklicher, als ich zu hoffen wagte. Gute Sterne haben bisher über meinem Leben auf Schloß Arpa gestanden, und von dem, was ich fürchtete, hat sich nichts erfüllt. Ich fürchtete mich vor Unfreiheit, auch vor Unfreiheit in kleinen Dingen, aber in Wahrheit bin ich freier geworden. Wieviel schöner ist dies Leben als das, das abgeschlossen hinter mir liegt und in dem eines war, das mich stets empörte: das Sichbewerbenmüssen um Gunst und Liebe. Hier hab ich beides als ein freies Geschenk.

Anfang Dezember will Petöfy wieder nach Wien zurück. Ich freue mich darauf und auch nicht. Das laute, großstädtische Leben hat einen unendlichen Reiz für mich gehabt und hat ihn vielleicht noch, aber ich möchte nur Zuschauer darin sein und nur andere leben und erleben lassen. Selbst wieder eine Rolle darin zu spielen widerstrebt meinem innersten Herzenszuge. Mir will es scheinen, daß ich, wenn nicht für die Stille, so doch für die Kontemplation geboren und in dem, was mir zurückliegt,[130] in einem Irrtum befangen gewesen bin. Ich habe noch eine Sehnsucht, aber diese Sehnsucht ist nicht die Welt. Oder irrt ich auch darin wieder? Schließen Sie mich in Ihre Gebete ein. Ihre Ihnen dankbar und herzlich ergebene

Franziska Petöfy«

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 4, Berlin und Weimar 21973, S. 127-131.
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