Zehntes Kapitel

[218] Es war in der dritten Woche nach ihrer Bekanntschaft, ein Freitagabend, und der junge Graf hatte noch keine zehn Minuten das Haus verlassen, als es oben an der Flurtür klopfte. Das war das Zeichen für die Polzin, die denn auch sofort erschien und sich mit der Pittelkow begrüßte.

»War Besuch hier, liebe Polzin? Ich meine bei Stine?«

»Kann ich wirklich nich sagen, liebe Frau Pittelkow. Sie wissen, wir sehen und hören nichts.«

Es schien, daß sich die Polzin über dies ihr Lieblingsthema[218] noch weiter verbreiten wollte, Stine jedoch, die das draußen auf dem Flur geführte Gespräch gehört und die Stimme der Schwester erkannt hatte, ließ es nicht dazu kommen. »Ei, das ist hübsch, Pauline, daß du da bist.« Und hiermit wandte sie sich wieder in ihr Zimmer zurück, um, vorsichtig umhersuchend, von einem schon im vollen Abendschatten stehenden Eckschrank die Lampe herunterzunehmen.

»Laß man, Stinechen«, sagte die Schwester. »Es ist so hübsch schmustrig hier, un das Schmustrige hab ich nu mal am liebsten, un is immer wie 'n altes schwarzes Kreppschintuch, wo man sich gleich einmummeln un anlehnen kann, un braucht nicht steif un grade zu sitzen. Nein, laß man, Stine; wir haben Licht genug von unten her. Sieh doch bloß, da kuckt ja der Mond grad über Sieboldten seinen Schornstein weg.«

Unter solchem Geplauder hatte die Pittelkow auf dem Sofa Platz genommen und sagte, während sie sich behaglich in die Kissen drückte: »Ja, was ich sagen wollte, Stine, das Grafchen war eben wieder hier?«

»Ja, Pauline.«

»Jott, Kind, wie dir die Backen brennen.«

»Ja, sie brennen mir. Aber ich weiß eigentlich nicht warum. Es ist fast zum Ärgern; ich bin rot geworden und brauchte doch nicht.«

»Ach, mein Stineken, werde du man rot; es is immer besser mal zuviel als mal zuwenig. Aber was ich sagen wollte, das Grafchen... Es gefällt mir nich, daß er hier immer bei Dagesschluß die Treppe raufsteigt, grad als müßt er die Betglocke läuten.«

»Er ist der beste Mensch von der Welt, Pauline. Nie hätt ich geglaubt, daß es einen so guten Menschen gäbe. Den ersten Tag hatte ich eine Aussprache mit ihm und redete von Anständigkeit und auf sich Halten, und daß ich ein ordentliches Mädchen sei. Aber ich schäme mich jetzt fast, daß ich so was gesagt habe. Denn immer ängstlich sein ist auch nicht gut und zeigt bloß, daß man sich nicht recht traut und daß man schwächer ist, als man sein sollte.«[219]

Die Pittelkow lächelte vor sich hin und schien antworten zu wollen, aber Stine fuhr fort: »Ja, Pauline, der beste Mensch, ohne Falsch und ohne Hochmut, aber auch ohne Glück. Wenn er mir so gegenübersitzt, ist es mir oft, als ob wir die Rollen vertauscht hätten und als ob ich eine Prinzessin wär und könnt ihn glücklich machen. Er sieht mich dann immer an und hört auf jedes Wort, das ich spreche, nicht bloß zum Schein und aus Haberei, nein, solch dummes Ding bin ich nicht mehr, mir so was einzubilden, wenn es nicht wahr wäre. Nichts von bloß so tun; ich seh es ihm an, daß er wirklich dabei ist und daß ihn alles freut, was ich da so hinplaudere. Freilich, du wirst mich für eitel halten und es nicht glauben wollen.«

»O warum nich, Stine? Warum soll ich es nich glauben? Ich glaub es alles. Aber alles hat auch seinen Grund und sogar seinen guten Grund. Und ich kenn ihn auch.«

»Und ich denke mir, ich kenn ihn auch und weiß, woran es liegt. Sieh, es liegt daran, er hat so wenig Menschen gesehen und noch weniger kennengelernt. In seiner Eltern Hause gab es nicht viel davon – sie sind alle stolz und hart, und seine Mutter ist seine Stiefmutter –, und dann hat er Kameraden und Vorgesetzte gehabt und hat gehört, wie seine Kameraden und seine Vorgesetzten sprechen; aber wie Menschen sprechen, das hat er nicht gehört, das weiß er nicht recht. Ich denke mir das nicht aus, ich hab es von ihm, es sind seine eigenen Worte. Ja, Pauline, daran liegt es. Das ist der Grund, daß ich armes Ding ihm gefalle; nichts weiter. Er ist unglücklich in seinem Haus und seiner Familie. Vor allem aber denke nur nicht, er sei mein Anbeter oder Liebhaber, oder wie du's sonst noch nennen willst. Ich sehe wohl, daß er mich liebhat, aber das ist doch was andres, und das kann ich dir sagen, noch ist kein Wort über seine Lippen gekommen, dessen ich mich vor Gott und Menschen oder vor mir selber zu schämen hätte.«

»Glaub es«, sagte die Pittelkow. »Glaub es alles. Aber, meine liebe Stine, das ist es ja eben. Ich hab es mir so gedacht, gerade so. Gleich als ich ihn das erste Mal sah, als die beiden[220] Alten mit da waren und Wanda Holofernessen köppte, da wußt ich es. Sieh, Kind, es sind mir so viele Mannsleute zu Gesichte gekommen, und wenn ich welche sehe, na, so kenn ich sie gleich durch un durch un kann sie aussuchen wie Handschuh nach der Nummer un weiß gleich, was los is. Un mit dem jungen Grafen is nich viel los. Er is man schwächlich, un die Schwächlichen sind immer so un richten mehr Schaden an als die Dollen.«

Stine sah die Schwester an.

»Ja, du siehst mich an, Kind. Aber es is wahr un wahrhaftig so. Du denkst wunder, wie du mich beruhigst, wenn du sagst: ›Es is keine Liebschaft.‹ Ach, meine liebe Stine, damit beruhigst du mich gar nich; konträr im Gegenteil. Liebschaft, Liebschaft. Jott, Liebschaft is lange nich das schlimmste. Heut is sie noch, un morgen is sie nich mehr, un er geht da hin, und sie geht da hin, un den dritten Tag singen sie wieder alle beide: ›Geh du nur hin, ich hab mein Teil.‹ Ach, Stine, Liebschaft! Glaube mir, daran stirbt keiner, un auch nich mal, wenn's schlimm geht. Was is es denn groß? Na, dann läuft 'ne Olga mehr in der Welt rum, un in vierzehn Tagen kräht nich Huhn, nich Hahn mehr danach. Nein, nein, Stine, Liebschaft is nich viel, Liebschaft is eigentlich gar nichts. Aber wenn's hier sitzt« (und sie wies aufs Herz), »dann wird es was, dann wird es eklig.«

Stine lächelte.

»Du lachst, und ich weiß auch warum. Du lachst, weil du denkst, Pauline weiß nichts davon und kann auch nichts davon wissen, denn es hat ihr nie hier gesessen. Un das hat auch seine Richtigkeit damit. Ich bin noch so drum rumgekommen. Aber, meine liebe Stine, man erlebt nich bloß an sich selbst, man erlebt auch an andern. Un ich sage dir, von so was, wie du mit dem Grafen vorhast oder der Graf mit dir, von so was is noch nie was Gutes gekommen. Es hat nu mal jeder seinen Platz, un daran kannst du nichts ändern, un daran kann auch das Grafchen nichts ändern. Ich puste was auf die Grafen, alt oder jung, das weißt du, hast es ja oft genug gesehen. Aber ich kann[221] so lange pusten, wie ich will, ich puste sie doch nich weg, un den Unterschied auch nich; sie sind nun mal da, und sind, wie sie sind, und sind anders aufgepäppelt wie wir, und können aus ihrer Haut nicht raus. Un wenn einer mal raus will, so leiden es die andern nich und ruhen nich eher, als bis er wieder drinsteckt. Un denn kannst du hier so lang in die Sonne kucken, bis sie morgens bei Polzins oder bei der Frau Privatsekretär wieder rauskommt, er kommt doch nich, er sitzt erster Klasse mit Plüsch un hat noch ein Luftkissen bei sich, un sie hat 'nen blauen Schleier an 'n Hut, und so geht es heidi! nach Italien. Un das is denn, was sie Hochzeitsreise nennen.«

»Ach, Pauline, so kommt es nich.«

»Ja, so kommt es, mein armes Stineken. Un wenn es nich so kommt, na, denn kommt es noch schlimmer, denn is er ein Eigensinn un will partout mit 'n Kopp durch die Wand, un da hast du denn den Kladderadatsch erst recht. Glaube mir, Kind, von 'ne unglückliche Liebe kann sich einer noch wieder erholen un ganz gut rausmausern, aber von 's unglückliche Leben nich.«

Quelle:
Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 5, Berlin und Weimar 21973, S. 218-222.
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