Hugo an Elise

[120] Sorgen Sie nicht, Liebe! Ich träume nicht mehr. Ich habe die einschläfernde Trauer abgeworfen. Der Schmerz ist kein Wahn, aber die Klage ist eine Schwäche. Man beklagt Niemand als sich selbst. Das Liebkosen der Seele nimmt dem Leid seinen aufregenden Stachel. Unter die Füße mit dem Geschick, und frei gehoben das Auge in die Welt hinaus, die unser ist und die der Mensch gestaltet, wenn er sich nicht durch sie gestalten läßt! –

Ich fange wieder an zu leben, Elise! Der Bau in Wehrheim schreitet zum Erstaunen vor. Er soll beendet sein, ehe der Winter uns überfällt. Täglich bin ich dort. Die Leute jubeln über meinen Eifer. Abends fahre ich auf kleinem Fischerboot den raschen Strom hinunter. Ich durchschneide pfeilschnell die Fluth. Komme ich dann an Ihrem Garten vorbei, dann lege ich dort an, gehe eilig nach dem Amthofe und hole[120] mir Georg, der schon die Stunden bis zu meiner Ankunft zählt. Wir sitzen dann Beide in dem kleinen Cabinett auf dem Sopha, der Tisch mit Baukasten und Soldaten steht vor uns. Ich muß ihm erzählen, während er das neue Haus drüben in Wehrheim noch baut. Gestern nahm ich ihn mit herüber im Kahn. Er sprang und klopfte vor Freude in die Hände. Die ganze Zeit sprach er von Ihnen, und meine Gedanken errathend, sagte er seitdem zuversichtlich: »Für Mutter ist das schöne Schloß drüben, da will ich zu ihr reisen.«

Sehen Sie, Elise! das ist es, was mich beseelt, was meinem Muthe Flügel giebt. Verstehen Sie mich, Liebe? Denken Sie sichs einen Augenblick. Sie dort wohnend, das Kind in Ihrer Nähe, ich auf der Burg, jeder Augenblick unser! Ich komme, ich gehe, wir gehen mit einander, wir besuchen die gute Madame Lindhof, sie besucht Sie wieder, Georg mit ihr wie natürlich, unsere Gespräche, unsere Beschäftigungen begegnen sich wie ehemals. Der Garten in Wehrheim wird ganz Ihre Schöpfung. Sie pflanzen, räumen weg, was Ihren Plänen entgegen ist. Ich helfe Ihnen; bald fassen Blumen ohne Zahl den frischen Rasen ein, Springbrunnen, leicht von dem Strom herbeigeleitet, nässen den grünen Abhang. Hier[121] findet Georg seinen Spielplatz. Sie sitzen vor dem Hause unter schattigen Arcaden, und haben ihn stets unter Augen; ich lese Ihnen vor, zeichne, was Sie Neues in Gedanken entwarfen. Wir sprechen darüber, ich werfe Ihnen Dies und Jenes ein, Sie widerlegen meine Gründe, der Streit giebt der Unterhaltung neues Leben, ich kann nicht nachgeben, und Sie thun doch, was Sie wollen, denn ich ende damit, die Ausführung in Ihre Hände zu legen.

Oder Sie sind allein. Sie erwarten mich. Ich bleibe lange aus. Ihr liebes Auge liegt unruhig auf dem silberhellen Fluß. Vom jenseitigen Ufer soll ich herüberkommen. Kein dunkler Punkt bewegt sich auf den glänzenden Wellen. Sie sehen und sehen, und werden ungeduldig. Da macht Sie naher Ruderschlag von der Seite des Dorfs aufmerksam, Sie gehen hinunter bis zum Ufer, dort rechts, wo die Birken am Vorsprunge der kleinen Insel ihre wallende Zweige niedersenken, rauscht mein kleines Fahrzeug heran. Ich sehe Sie, und bin Ihnen nun im Augenblick ganz nahe. Scheltend empfangen Sie den Freund, doch müssen Sie ihm verzeihen, denn Sie kennen ihn zu gut, Sie wollen ihn auch nicht anders, als er ist, ängstigend darf ihn keine Rücksicht befangen,[122] und könnte er die Freiheit im Handeln opfern, er wäre nicht mehr derselbe. Deshalb war auch die Ungeduld nicht Zorn, gesteigerte Erwartung nenne ich sie lieber, und wie nun der Erwartete kommt, ist das Wölkchen verschwunden.

Denken Sie sich das Alles in dem Verhältniß einziger, großer, umfassender Zuneigung, sehen Sie die tiefe Ahndung solchen Bundes, wie wir ihn immer gedacht, wie er uns in unzähligen Gesprächen vorgeschwebt, fragen Sie sich, ob irgend eine, von den gewöhnlichen Armseligkeiten, die den Menschen gefangen halten, dagegen ausreiche?

Sind Sie doch frei, Elise! Ich weiß es. Keine Nothwendigkeit bindet Sie an den Ort Ihres jetzigen Aufenthaltes. Und welch' ein Aufenthalt! Wollen Sie sich wirklich so hart strafen, den edlen, klaren Geist an der gemeinen Alltäglichkeit des Lebens abzustumpfen? Geben Sie doch den Thorheiten des Vorurtheils nicht in dem groben Irrthume nach, als könne die Ertödtung dessen, was uns Gott ähnlich macht, Gott gefallen. Was heißt denn Buße? Fragen Sie einmal die Weisen, die soviel davon reden, ob ihnen je der Begriff klar aufgegangen ist?

Glauben Sie mir, ich habe in dieser langen,[123] gedrückten Zeit viel hierüber mit mir zu thun gehabt. Alles Leere, Nichtige, Abgerissene und darum Selbstische, büßt der Mensch durch Erfüllung oder Nichterfüllung seiner Wünsche. Beides kann Strafe werden. Doch, was das Eigenthum seiner heiligsten Ueberzeugung, was sein frei gewordenes Dasein, was der Ursprung, wie der Zweck seiner Erdenlaufbahn ist, das giebt er nur zum Scheine den Umständen hin. Der Trieb, der ihn zum zweitenmale im Bewußtsein erschuf, der stirbt nicht, den verhüllt die Gewalt andrängender Ereignisse wohl eine Weile; aber, was ist, das ist! Es lassen sich nur Abkömmnisse mit ihm schließen, zu besiegen finden wir im Kampf der Wahrheit nichts als die Lüge.

Es wäre himmelschreiend, wollten Sie sich glauben machen, Sie seien von dem Gott, der Ihnen diese Seele einhauchte, verdammt, sich in die Knechtschaft der Bedürftigkeit zu schmiegen, um es zu büßen, daß Sie dachten und empfanden, wie das Kind seiner Gedanken! Ich habe Ihren Brief, Elise! in demselben Zimmer gelesen, auf derselben Stelle, wo Sie mir sagten: »Ich kann alles hingeben, was man von mir fordert, doch die Fähigkeit, Sie in Ihrem innern[124] und äußern Thun zu begleiten, die lasse ich mir durch kein Schreckbild des Vorurtheils rauben.«

Glauben Sie in der willkührlichen Haft den Gebrauch jener Fähigkeit zu bewahren?

Elise! sein Sie gewiß, wie Strick und Band den Gliedern ihre geschmeidige Beweglichkeit rauben, so geht es dem Geist, der unterdrückt ist, und den Käfig über sich zufallen läßt.

Und nun noch ein Wort über Georg. Das zarte, besondere Kind fordert Ihre ganze Aufmerksamkeit. Er ist, ich leugne es Ihnen nicht, er ist anders geworden, langsam, stille, abgesondert, schließt er sich nur selten, und dann heimlich und nur für Augenblicke auf. Sein Anblick machte mir den Eindruck einer fremden, köstlichen Blume, die, in einen Gemüsgarten verpflanzt, die grobe Erde und die wuchernden Nachbarpflanzen zurückhalten. Seine gute, treue Pflegerin ist von jener weichlichen Sorgfalt für ihn, die Alles thut, aber das Rechte nicht trifft. Sie wacht mit steter Sorgfalt über jeden seiner Schritte, er wagt deshalb selten einen ungewöhnlichen, ja, ich finde ihn ängstlich, die Augen fragend auf die Großmutter, was Madame Lindhof auch für ihn ist, gerichtet. Als ich ihm das Erstemal mit dieser begegnete, ward er ganz roth,[125] that blöde, und antwortete mir gar nicht. Ich überließ ihn sich selbst. Nach einer Weile schlich er um mich herum, ging neben mir, faßte meine Hand, und als es Niemand hörte, fragte er nach Ihnen. Ich erwiederte, daß ich Sie lange nicht gesehen hätte, er wisse ja, Sie seien verreist. Ich, im Gegentheil, wolle von ihm hören, wann Sie wiederkommen würden? Ich bereute, das Letztere gesagt zu haben, denn der arme Kleine sah zu Boden und blieb eine Strecke hinter uns zurück, um unbemerkt weinen zu können. Es mußte ihm sehr wehe thun, sich wieder einmal in seinen Erwartungen getäuscht zu finden.

Er tröstete sich aber, als wir jetzt in das Haus traten, welches er so lange nicht besuchen durfte, weil die gute, ängstliche Frau den Eindruck scheute, den das Wiedersehen der geliebten Stätte auf ihn machen könnte. Sie hatte ganz falsch vorausgesehen. Das Kind lebte hier auf. Es war seine Welt, in die es zurückkehrte. Er sprang und jubelte in den Zimmern umher, und war nur durch das Versprechen, morgen wieder mit mir hierher zurückzukommen, zum Weggehen zu bewegen.

Liebste Elise! können Sie säumen, den schönen[126] Knaben aus seiner wunderlichen Abspannung herauszureißen?


Bis hierher hatte ich geschrieben. Mir war das Herz warm und bewegt geworden. Ich hielt nicht mit mir allein aus. Das Wetter war unfreundlich, die Sonne schon untergegangen, ich trat ans Fenster. Drüben im andern Flügel brannte der große Camin hell in des Oheims Zimmer. Der Schatten von Jemand, der auf-und niederging, verdeckte die Flamme augenblicklich. Das ist er! dachte ich, der einsam wie du, die Stunden an sich hinziehen läßt. Ich eilte zu ihm hinüber. Er lächelte angenehm überrascht, als ich die Thüre öffnete. »Guten Abend,« sagte er sehr weich, indem er mir die Hand entgegen streckte. Er rückte mir selbst den Armstuhl dem seinigen gegenüber am Camin zurecht. Wir setzten uns. »Ich war heute in Wehrheim,« hub er nach einer Weile an. »Die Arbeit rückt ja gewaltig vor. Ich freue mich, daß Dich das beschäftigt,« setzte er hinzu. »Nun,« entgegnete ich, »es ist eine Aufgabe, so lange man sie zu lösen bemüht ist, beschäftigt es freilich.«

»Du hast eine Absicht dabei,« sagte er, und[127] einen Augenblick innehaltend, fuhr er fort: »Ich begreife es sehr wohl, daß Du, Deiner Neigung gemäß, frei und eigenthümlich zu wohnen und zu leben gedenkst. Wir werden ja darum doch nicht geschieden sein?« lächelte er, mir aufs neue die Hand reichend. Ich beugte mich über die väterliche Hand, die mich so schonend in Schmerz und Widerwärtigkeit berührt hatte, ihn fest versichernd, daß ich gar nicht daran denke, die Burg zu verlassen, und nur beenden wolle, was er mir anzufangen erlaubte. Er sah mich überrascht an. Wieder im Sessel zurückgelehnt, meinte er: ich gliche doch oft meinem seligen Vater außerordentlich.

Er hätte mich an diesen gerade jetzt nicht erinnern sollen. Es erkältete mich unwillkührlich, daß er der Aehnlichkeit so nebenbei erwähnen konnte. Wahrscheinlich errieth er mich, denn, war es nun das Feuer, oder trieb ihm das Blut vom Herzen nach dem Kopfe? genug, er schien zu erröthen, da er jetzt die Hand vor die Augen hielt, als schirme er diese vor der Flamme.

»Sage mir doch,« bat er hierauf, »was ist denn an dem Gerede, das unter den Leuten umherläuft, von einer schwarzen Hand, die den Vorübergehenden eines Morgens von dem[128] Gerüste herabgewinkt und sie von der Stelle weggescheucht haben soll? Nach einer stürmischen Gewitternacht, setzt man hinzu, sei sie sichtbar geworden, so, als schleudre sie der Blitz herab; was denn für ein drohendes Zeichen angesehen, und dem Bau nichts Gutes geweissagt wird, insbesondere, da man Deinen erwachten Eifer, ihn zu vollenden, für Trotz hält, und ihn frech schilt.«

Ich lachte, ob mir gleich die Sache an sich, und wie sie sich zugetragen, einen ganz andern Eindruck zurückgelassen hatte. »Sie sehen wohl,« sagte ich mit leichtem Achselzucken, »daß eine bloße Zufälligkeit dem Verlangen nach Spukereien Vorschub leisten mußte. Unsere Geistergeschichten haben einen sehr materiellen Boden; es wird mit aller Mühe nichts Geistiges daraus.« Ich erzählte ihm nun, daß mir auf einem nächtlichen Ritte nach Wehrheim, bei einer heftigen Bewegung mit dem Arme, der abgezogene, lose in der Hand gehaltene schwarze Handschuh entfahren, und auf einer Stange des Gerüstes hängen geblieben sei. »Es ist wahr,« fuhr ich fort, »es hatte etwas Erschreckendes, und ich trug auch Sorge, am folgenden Tage in aller Frühe den Handschuh von der Stange herabnehmen zu lassen, was vielleicht[129] nur dazu diente, die Sache unaufgeklärt zu lassen.«

»Ich dachte es wohl!« erwiederte der Comthur. Aber er ward still, und es fiel mir auf, als er nach einer kurzen Pause, während welcher wir beide, jeder auf eine eigene Art beschäftigt, in das Feuer sahen, äußerte: »Das Zusammentreffen offenbarer oder verborgener Umstände hat seine Bedeutung, die der Mensch voraus empfinden will, und deshalb übereilt er sich im Urtheil, oder quält sich mit Ahndungen.«

Er war hier aufgestanden, und ging, den Kopf gebeugt, die Hände auf dem Rücken, wie Sie seine Art kennen, in dem großen, hohen, grauen Zimmer auf und ab. Ich folgte ihm mit den Augen, der Raum, den er durchschnitt, war mir noch nie so weit, so leer, wir beide einsame Menschen nie so vereinzelt vorgekommen. »Wollen wir eine Parthie Schach spielen?« fragte ich, ebenfalls meinen Platz verlassend.

»Gern, sehr gern!« war die Antwort. Ich suchte den kleinen Tisch mit der gefächerten Platte, an dem wir sonst so oft spielten. Er müsse im Nebenzimmer stehen, meinte der Comthur. Ich ging dahin, fand ihn aber nicht. »Ach![130] ich besinne mich jetzt,« rief ich, und stutzte unwillkührlich.

In Emma's Zimmer hatten wir das Letztemal gespielt. Der Oheim verstand mich. »Laß es,« sagte er, »ich will – –!« »Bewahre!« versetzte ich beschämt. Ich zündete ein Licht an, und eilte durch den Seitengang, die kleine Wendeltreppe hinauf, in das vordere Thurmzimmer. Elise! hier saßen wir, wenige Tage vor Emma's Abreise; sie lag in dem anstoßenden Cabinett auf ihrem Ruhebette, die Mutter las ihr vor, der Arzt und ich führten Krieg auf den schwarzen und weißen Feldern, der Comthur, auf- und abgehend, wie heute, begleitete mit klugem Blick unsre Züge. Es war sehr heiß im Zimmer, man durfte, der feuchten Luft wegen, die Fenster nicht öffnen. Ich hörte Emma sagen: »nehmen Sie mir den Shawl ab, ich verbrenne.«

Mein Gott! die verschlossene Luft war wieder so drückend und gepreßt, sie lag zentnerschwer auf meiner Brust. Ich sah umher nach dem Tischchen. Man hatte ohnlängst hier geräumt, und die Gemächer gereinigt, das Geräth stand zusammengeschoben in den Winkeln. Ich fand endlich, was mich hierher führte; doch neben Emma's Ruhebett, den Shawl, jener amaranthfarbene,[131] den ich ihr geschenkt, und den sie so liebte, daß sie ihn immer trug, hing über die Kissen der Rücklehne. Das grelle Roth schnitt mir durch die Seele. Ich sah das bleiche Gesichtchen, an das sich die Falten des Tuches einst schmiegten, ich hörte das »Ich verbrenne!« mit dem Ausdruck des Unvermögens, es länger ertragen zu können, wieder, und fühlte die Gluthen, die das beste Herz verzehrt hatten.

Den Shawl über dem Arm, das Tischchen in der Hand, eilte ich hinunter zum Oheim. Er sah mich erst verwundert an, dann wurden seine Züge sehr weich, er umarmte mich, ich fühlte seine Thränen auf meiner Wange. Leise, als scheute er sich, ein Heiligthum zu entweihen, berührte er mit den Spitzen der Finger das traurige Andenken. »Es ist dies ein heller Gruß, Hugo!« sagte er, »ein leuchtender Lebensschmuck, und recht ein Gegenstück zu der schwarzen Hand, welche die Leute gerne dem Zorne der Abgeschiedenen zuschreiben möchten.« Ich drückte die seinige, als er hinzusetzte: »Zorn war nicht in dieser Seele, und so wollen wir denn lieber dem freundlichen, als dem drohenden Anzeichen für die Zukunft trauen.«

Wir hatten eben unser Spiel angefangen,[132] als der alte Baron Wildenau gemeldet ward. Der Mann ist von unleidlicher Beschränktheit und Breite. Ich hatte ihn in Ewigkeit nicht gesehen, konnte mir denken, daß er der Unglücksfälle des Hauses ungeschickt erwähnen würde, stellte mir vor, es sei ein Trauerbesuch, auf den er sich seit sechs Monaten bis heute am späten Abend besonnen habe, und gerieth in innere Verzweiflung.

Es war aber anders.

Der Baron trat gebeugt, mit kummervoller Miene und gesenktem Blick zu uns ein. Gegen seine Gewohnheit in Stiefeln und Ueberrock, zeigte der etwas vernachläßigte Reiseanzug, daß weder die Burg, noch ein formeller Besuch der Zweck seiner späten Abendfahrt sein konnten.

»Ich komme,« sagte er, nach der ersten Begrüßung neben uns niedersitzend, »zur ungewöhnlichen Stunde, und muß recht sehr um Verzeihung bitten, wenn ich beschwerlich falle.«

Er dehnte die letzten Worte, und sah, unter schiefem Neigen des Kopfes, fragend zu uns auf. Ich hatte große Lust zu lachen, allein, wie er jetzt fortfuhr, und uns eröffnete, er sei auf dem Wege zu seinem Sohne, der auf einer Reise, von welcher wir vielleicht mehr wüßten als er, noch nicht ein Einzigesmal geschrieben noch schreiben[133] lassen, wie er sich eigentlich befinde, und ob er krank oder gesund sei? Da verging mir das Lachen. Schneller wie der Blitz reihen sich im Menschen Gedanken an Gedanken. Ich sah Leontin, ich sah Emma, ich dachte Unzähliges zugleich. Der stumme, düstre, tiefsinnige Leontin, wo war er? wo hatte er die niederschlagende Nachricht erhalten? Er liebte Emma. Er war ihr gefolgt, er sollte sie in des Oheims Namen beschwören, zu uns zurückzukommen. Sehen Sie, Elise! wie Vieles floß da zusammen, was für entgegengesetzte Elemente mischen sich; und wir fordern, daß das Leben klar und still hinfließen soll.

Alles das stand vor meiner Seele. Ich hatte nicht auf das Gespräch der beiden Alten gehört, da erschütterte mich die klagende Stimme des Barons, ich wandte mich aufmerksam zu ihm, er sagte: »Ich habe doch nur das einzige Kind, das ich gern glücklich auf der Welt zurückließe. Es ist nicht recht, daß er mich so ganz vergißt. Wenn man alt wird, so lebt man nur noch in seinen Kindern; er sollte das bedenken, aber die Jugend ist jetzt zu verschieden von uns. Sie hat ganz andere Begriffe von Recht und Unrecht. Ich verstehe meinen Sohn nicht. Er ist so tugendhaft,[134] daß ich oft erschrecke, und ihn wie etwas Höheres verehre. Und dann fehlt er doch wieder gegen die natürlichsten Gebote, und erscheint mir sehr tadelnswerth.«

Es war Sinn in den Worten, sie überraschten mich. Ich behielt aber wenig Zeit, darüber nachzudenken, denn auf des Oheims begütigende Einwendungen und das leise Hindeuten, daß Leontin vielleicht krank geworden, schüttelte der Baron den Kopf. »Das nicht eigentlich,« erwiederte er, »ich habe wohl soviel ausgekundschaftet, daß er sich im Schwarzwalde in einem Baueroder Meierhofe aufhält, diesen kaufen und dort eine Capelle bauen will. Wenn es auch nicht Wahnsinn oder Fieberhitze ist, die solche Pläne fassen läßt,« fuhr er fort, »so ist es doch große Ueberspannung. Wem wäre wohl vordem so etwas eingefallen? Er hat die schöne Erbschaft hier gemacht, die prächtigen Güter! und will da Geld und Zeit an eine Grille opfern.«

Er hielt inne. Mir fuhrs durch die Seele. Ihr baut er die Capelle! auf der Stelle, die ihr Fuß vielleicht betreten! Er lebt nur noch in ihrem Andenken! –

»Ich gehe,« sagte der Baron, »ihn von dem Gedanken abzubringen. Ich habe hier keine[135] Ruhe, und kann mir den guten, einfachen Leontin gar nicht so übertrieben und unnatürlich vorstellen.«

Er war aufgestanden, redete noch Eins und das Andere mit dem Comthur, und ging in die Nacht hinaus, den verlornen Sohn aufzusuchen. Auch der, seufzte ich, als ich ihn mit ganz andern Empfindungen wie vorher, zum Wagen begleitete.

Auch der, Elise! Werden sich alle die zerrissenen Stückchen Leben jemals wieder zusammenfügen? Wird etwas Ganzes daraus werden? und für wen?

Ein trüber, unleidlicher Druck liegt seitdem auf meiner Seele.

Schlafen Sie wohl, liebe, geliebte Elise!

Quelle:
Caroline de la Motte Fouqué: Resignation. Theil 1–2, Teil 2, Frankfurt a.M. 1829, S. 120-136.
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