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[366] Das Schlußkapitel meiner Geschichte haben wir miteinander durchlebt, liebe Hardine. Es wird Dir wenig erzählen, dessen Du Dich nicht erinnertest, und soll nur ein Fazit sein von dem, was wir uns gegenseitig schuldig geworden sind.
Du glaubst, es sei eine warme Hand gewesen, welche die Waise von der Leiche des Vaters unter ein heimisches Dach geführt hat. Wie oft habe ich mit Scham den Dank Deiner Tränen auf dieser Hand empfunden! Mein Kind, es war ein sehr frostiges Geleit, und es hat lange gewährt, bis ich – Dich lieben etwa? – o nein, bis ich Deinen Anblick nur ertragen lernte.
Es war ein Moment in meinem Leben, in welchem die letzte matte Spur von dem, was die Menschen Anzügliches für mich gehabt hatten, zu erlöschen drohte. Das Schicksal, dessen Zeuge ich gewesen, hatte mich erschüttert, nicht erweicht. Aus Liebe war Dorothee zur Sünderin geworden; aus Liebe der Mann, der sein ganzes Leben auf sie gestellt hatte, ein Betrogener; in einem unbestimmten Drange der berechtigtsten Empfindung August Müller zu einem Ehrenräuber und Verleumder; und ich selber, hatte ich nicht in der Jugend den sicheren Ankergrund meines Lebens einer gefühlvollen Anwandlung preisgegeben, um im Matronenalter den Geifer der Welt als gerechte Strafe dafür einzuernten? »Das Herz macht uns zu Schwächlingen und Toren!« rief ich mit einer Bitterkeit, wie ich sie niemals gekannt hatte.
Denn ich spürte den allseitigen Abfall von meiner Person[366] um so tiefer, da ich ihn nicht zu spüren schien, und da ich mich bis zum letzten gegen seine Möglichkeit gesträubt hatte. Keiner dieser Menschen, auch nicht der Graf, war meinem Gemüte ein Verlust; nicht erst an ihrer Schätzung hatte sich mein Selbstgefühl entwickelt. Aber Ehre und Ehrerbietung, gleichen sie nicht der Luft, die den Atem in der Brust unterhält, den Atem, der um so stärker ringt, je schwächer der Pulsschlag des Herzens den inneren Kreislauf belebt? Alle diese Menschen, auch das wußte ich recht gut, führte über kurz oder lang Eitelkeit und Eigennutz mit dem Schein der Ehrerbietung zu mir zurück. Aber ich wußte auch, daß das Grundwesen der Ehrerbietung für alle Zeit vernichtet war. Und die Ehre ist nicht selbstgenügsam wie das Gewissen, sie lebt nur durch und in dem Widerstrahl. Es ist ein einsames Feuer, das in dem Wartturme brennt, aber es leuchtet dem Schiffer zu seinen Füßen, und erlischt es, steht der Turm als ein zweckloses Gehäus. Wie solch ein ausgelöschter Leuchtturm kam ich mir vor.
Und was hatte ich als Entgelt dafür, daß der Ehrenname der Reckenburg unter Spott und Hohn verhallen sollte? Eine Aufgabe für den tatkräftigen Sinn? Eine Herzenslust, ja nur die Erinnerung daran – für welche schon manche Ruf und Ruhe in die Schanze geschlagen hat? Nun, die Versorgung eines Bettlerkindes war kein Heldenstück für die reiche Frau, die ohne Opfer Hunderten ein Gleiches hätte erweisen dürfen; aber eine Herzensfreude war sie noch weniger als ein Heldenstück.
Wenn es noch ein Knabe gewesen wäre! Ein frischer, fröhlicher Gesell, wie Ludwig Nordheim etwa, der sich zu einem tüchtigen Arbeiter auf meinem Felde heranziehen ließ. Aber ein Mädchen! Was sollte mir und meiner Reckenburg[367] solch ein schwächliches, zerbrechliches Ding, das bestenfalls Stricknadel und Kochlöffel regieren lernte? Und ein verkümmertes, trübseliges Geschöpf obendrein, in dem kein Zug mich an das Paar erinnerte, das mir den Jugendsinn der Schönheit erweckt und bisher allein befriedigt hatte. Gründete ich dem Kinde eine bürgerlich behagliche Existenz, für welche ich es, nach seiner körperlichen Erholung, in einer braven Predigerfamilie erziehen ließ, so war mein gegebenes Wort und damit meine Aufgabe gelöst.
Die Sorge für diese körperliche Erholung hatte ich meiner Kammerfrau übertragen, auf die ich mich verlassen durfte wie auf mich selbst. Denn »gleiche Herrn, gleiche Diener«, das Axiom galt seit der Neubegründung der Reckenburg. Das Kind wurde gekleidet, genährt, gebadet, gepflegt auf ein Titelchen nach der Vorschrift des Medikus oder meinem eigenen Befehl mit der nämlichen Akkuratesse, wie meine Wäsche gebügelt oder meine Zimmer entstäubt wurden; aber auch nicht einen Funken über den Diensteifer hinaus. Ich konnte dessen versichert sein, ohne nachzuschauen. Indessen schaute ich nach, sooft ich vor und nach meinen Flurwegen auch die Gesindestuben im Parterre revidierte. Es fehlte an keiner Schuldigkeit, und das Kind war sichtlich gesund. Aber es hockte müde, mit leeren, wässerigen Augen im Ofenwinkel oder in einer sonnigen Ecke auf der Terrasse, sprach ungefragt kein Wort und legte gleichgültig das Spielzeug beiseite, das man ihm in die Hand gegeben hatte. »Das Kind ist idiot!« sagte ich, indem ich ihm den Rücken wendete.
Monate waren in dieser Stimmung vergangen, die häßlichsten, weil hoffnungslosesten meines Lebens. An einem Novembermorgen erhielt ich das königliche Patent, das[368] mich zur gnädigen Frau erheben sollte. Ich erkannte die gute Absicht, eine verpfuschte Sache wieder ins Schick zu bringen, schrieb meine Danksagung und legte den huldreichen Akt zu den Akten.
Später als andere Tage trat ich aus diesem Anlaß meinen Flurgang an. Auf der Terrassentreppe saß das Kind. Seine Augen, gewöhnlich halbbedeckt und schläfrig geradeaus gerichtet, waren heute groß zum Himmel aufgeschlagen, an welchem die Sonne, noch hinter einem Nebelflor, um den Durchbruch kämpfte. Der Blick frappierte mich; ich ging schweigend vorüber, aber nach etlichen Schritten kehrte ich um und fand das Kind noch in dem nämlichen Aufschauen, unbekümmert, daß der schwarze Neufundländer, mein häufiger Begleiter, seine Bekanntschaft suchte, indem er das Frühstückbrötchen aus den kleinen Händen zu sich nahm.
Ich konnte den Blick nicht loswerden. Es war zum ersten Male, daß meine Gedanken sich mit dem Kinde beschäftigten. Ich kürzte meinen Morgengang ab, kehrte des nämlichen Weges zurück und stand still vor einem Bildchen, das, wäre ich ein Maler gewesen, ich augenblicklich skizziert haben würde.
Die Kleine saß noch auf derselben Stelle, und der große schwarze Hund geduldig neben ihr. Sie hatte die Ärmchen um seinen Hals geschlungen und den Kopf in sein zottiges Fell gewühlt. Die Sonne, die jetzt klar und fast sommerwarm niederschien, breitete einen Goldschimmer über das lose, flatternde Haar; ich bemerkte erst jetzt, daß es sich anmutig kräuselte, daß auch die steckenartigen Glieder sich gebleicht und gefüllt hatten, und die Bäckchen, die im Augenblick ein leises Rot überhauchte, sich kindlich[369] zu runden begannen. Ein friedliches Behagen prägte sich aus über der kleinen Gestalt. Bei meinem Nahen hob sie die Augen zu mir auf, belebt und dunkelblau; sie lächelte zum ersten Male unter meinem Dach – vielleicht zum ersten Male im Leben.
»Das Kind friert. Es braucht Wärme!« sagte ich, und von dem Tage ab wohnte und schlief es in meinem Erkerturm, der gegen die Mittags- und Abendsonne gelegen und allein von der langen, glänzenden Zimmerflucht warm und allenfalls wohnlich eingerichtet war.
Nun aß ich mit der Kleinen an einem Tisch, nun sah ich sie morgens und abends in ihrem Bett, nun merkte ich auf die Entwickelung des zarten Keimes. Lange freilich noch nicht mit der bewußten Liebe des Gärtners, der ein Samenkorn zum Pflänzchen auferzieht, aber doch mit einer Art von neugierigem Verlangen: ob es wohl zur Blüte kommen wird? Sie wurde täglich weißer, runder, gefälliger anzusehen. Manchmal rief ich überrascht: die Dorl! Aber sie drehte sich nicht wie die Dorl, lachte nicht, schwatzte nicht, spielte nicht wie sie, und der große schwarze Hund war ihr einziger, aber treuergebener Freund.
Ich hatte mit dem Prediger einen Unterrichtsversuch verabredet, der nach Neujahr mit dem schwächlichen Geiste angestellt werden sollte. Am Nachmittag des Weihnachtsheiligabends kam er zu mir, die Kleine zur Christbescherung einzuladen, die sein Sohn, als Feriengast, heimlich aufgebaut hatte. Im Schlosse wurde nicht beschert; das Dienstpersonal erhielt sein ausbedungenes Geldgeschenk und ein stehendes Festgericht. Im übrigen glich der Freudenabend der Christenheit allen anderen Abenden des Jahres.[370]
Der junge Herr Ludwig hatte den Vater begleitet und blieb bei dem Kinde, während ich mit jenem in Gemeindeangelegenheiten noch einen Gang durchs Dorf machte. Als wir zurückkehrten, saß der junge Herr im Fenster, durch welches die Sonnenstrahlen schräg in das Zimmer fielen, und das Kind saß auf seinen Knien, die Händchen in den seinen, den Kopf an seine Brust gelehnt, und die Augen leuchtend zu ihm aufgeschlagen; er hatte eben eine hübsche Legende vom Christkindchen zu Ende gebracht. Mir war es niemals eingefallen, der Kleinen ein Märlein oder Stücklein zu erzählen; wüßte auch wahrlich nicht, wie mir eins hätte einfallen können.
Ich ließ das vorrätige Spiel- und Naschwerk nach der Pfarre tragen und begleitete, obgleich nicht mit eingeladen, das Kind hinunter. Solange ich meine Winter regelmäßig auf Reckenburg verlebt, also seit sechsunddreißig Jahren, hatte ich keine Christbescherung angesehen, und fürwahr, es muß ein Zauber aus dem lichterglänzenden Tannenbaum strahlen, ein Zauber, der eine heilige Familienfreude weckt. Die zäheste alte Jungfer wird zur Mutter, während sie die Christlichter brennen sieht und die Würze der Nadeln, mit der des Wachsstocks, der Früchte und Süßigkeiten gemischt, dies unvergleichliche Weihnachtsgedüft, ihr in die Nase steigt.
Und wie feierlich spielte und sang nun Herr Ludwig am Klavier: »Vom Himmel hoch da komm ich her!« Und wie künstlerisch hatte er seinen Lichterbaum aufgeputzt, wie geheimnisvoll die Bescherung verteilt, wie lieblich das Christkindchen in der Mooskrippe gebettet! Eine muntere Schar aus dem Schul-oder Forsthause war als Festgenossenschaft eingezogen, und – wißt ihrs noch? – wie die kleine[371] Hardine weit mit ihr Ringelrund um den Weihnachtstisch tanzte, wie sie spielte, lachte und ihrem Meister nach »O Tannenbaum, o Tannenbaum« zwitscherte, so frisch und fröhlich wie der anderen keins? Als sie aber spät abends an der großen Hardine Hand über die im Mondlicht glitzernde Schneedecke durch das totenstille Dorf in das totenstille Schloß zurückkehrte, da erzählte sie ihr Wort für Wort die Geschichte vom Christkinde, die sie heute zum ersten Male von freundlichen Lippen gehört und im Bilde geschaut hatte, und in dem alten Herzen regte sich zum ersten Male das Ahnen der Gotteserscheinung nicht bloß in dem einen gnadenreichen, aber in jedem hilflosen Menschenkinde.
»Die Kleine ist nicht idiot,« sagte ich, als ich vor Schlafengehen sie mit purpurnen Wangen und raschem, kräftigem Atem in ihrem Bettchen liegen sah, »aber sie braucht Erregung und Freude.«
Trotz der Sabbatfeier stellte am ersten Festtage ein Lehrmeister auf Schloß Reckenburg sich ein. Nordheim junior, als Substitut für seinen vielbeschäftigten Herrn Papa. Und als der Substitut am Feste Epiphanias seine Würde niederlegte, da wußte das Wunderkind zwölf Märchenstücklein und sämtliche Buchstaben wie auch Grundzahlen am Schnürchen herzusagen. Der Fortschritt erlahmte ein wenig unter der Methode des älteren Professors, regelmäßig aber während der festlichen Ferienzeit rannte er mit Siebenmeilenstiefeln voran, namentlich in der rhetorischen Kunst. Als das verhängnisvolle Königsfest jährig ward, da dachte ich nicht mehr daran, die kleine Anwärterin des Kochlöffels in einer braven Predigerfamilie zu versorgen, sondern dankte Gott, daß ich sie als Schatz des neuen Turmes hüten durfte.[372]
Nun aber ward es erstaunlich, welche nie gekannten Bedürfnisse ich dem bescheidenen Kinde Tag für Tag zu befriedigen fand, wie mit jeder Befriedigung der Hunger nach neuen Bedürfnissen wuchs, und wie das nüchterne, einförmige Leben allmählich so bunt und mannigfaltig ward rings um mich her. Das Kind brauchte Behagen und Freiheit, es brauchte Gespielen und Freunde, Blumen und Vögel, Sang und Klang; es brauchte Almosen für die Armen und Obdach für die Waisen, die es sich nachgelockt hat; alles in eins gefaßt: das Kind braucht Liebe!
Wenn wir das Leben bedeutender Menschen, wie es die Geschichte oder der Dichter uns vorführt, überschauen, so finden wir in heißen Jugendkämpfen, in Lust und Leid ein aneignendes Streben, ein Drängen mit der eigenen vollen Persönlichkeit in die der anderen hinein, bis denn am Ende, nach mancher Verirrung, befriedigt oder entsagend, das Ich zur Ruhe kommt, die Heldenmäßigen selbstvergessend für eine Gesamtheit wirken, Denker und Dichter beschaulich das Ganze wie das Einzelne an sich vorüberziehen lassen.
Aber nicht bloß bei diesen Auserwählten, auch im Alltagslauf zeigt sich wohl eine beschränktere, aber keine abweichende Entwickelungsart: Freude, Wünsche, Sehnsucht, Anschluß in der Jugend, und im Alter Entsagen, Vereinsamen, bescheidenes Zurückziehen in den Beruf, in den Mechanismus der Stunde, und bei den Glücklichsten unter uns in die Religion.
Mich hatten Natur und Schicksal den entgegengesetzten Weg geführt. Kaum den Kinderschuhen entwachsen, trat ich ohne Tanz und Spiel, ohne Genossen, ohne Streit, außer dem flüchtigen mit einem Traumgespinst, ohne weitab führende Irrung, in einen männlichen Beruf, in ein[373] Wirken für andere mehr als für mich selbst, und fühlte mich durch dieses Wirken beglückt bis in die Matronenjahre hinein. Erst in dem Alter, wo andere weiße Haare tragen, regte sich der versäumte Jugendsinn, regte sich ein unbestimmtes Bedürfen, das über das Schaffen hinaus mich einem natürlichen Zusammenhang verbände.
Und dieses späte, kaum verstandene Bedürfen, es wird gestillt wie durch ein Wunder. Aus der gesamten reichen Welt, die mir die Auswahl bietet, ist es die verlassenste, die armseligste Kreatur, ein Stein des Anstoßes auf meinen Weg geschleudert, die sich mir an das Herz schleicht, es umspinnt, es weckt, es füllt bis auf die letzte Falte; die alle Ansprüche verdrängt, alle Wünsche überbietet, die, ohne es zu ahnen, die alte Umgebung verwandelt, die verlebte Gewohnheit umbildet, die breite Fülle der Gegenwart, junge Geschlechter, natürliche Freuden und das Walten der Liebe an die Stelle der erstarrenden Regel setzt.
Meine liebe Hardine, wer ist dem andern mehr schuldig geworden, die hilflose Waise, die in dem Hause der reichen alten Frau eine Kindesstelle fand, oder ist es die reiche alte Frau, die durch das Bettlerkind Jugend, Liebe und Freude hat kennen lernen, die durch dieses Kind eine beglückte Mutter und erst ein Weib geworden ist?
In einem einsamen Born, kühl und durchsichtig wie ein Kristall, da ist einmal ein Staubkorn gefallen, das Samenkorn einer Blüte, die niemand blühen sah. Lange, lange Jahre hat es auf dem Grunde geruht und plötzlich treibt es verwandelt empor, und es trübt sich der klare Spiegel. Aber des Himmels Lichter brechen sich farbig in der verdunkelten Fläche; ein erster grüner Keim drängt über sie hinaus, bald ragt ein Blatt in die Höhe, bald eine blaue[374] Blume von anlockendem Duft; es lebt und webt in dem einsamen Born, es ist Frühling in ihm und über ihm geworden, ringsumher Farbe und Würze, Vogelsang und wärmender Sonnenstrahl. Es klingt wie ein Märchen, was dem alten Born geschah.
Und darum, meine Kinder, nicht weil ein fremdes Schicksal der Entschleierung harrte, – darum habe ich meine Geschichte ein Geheimnis genannt, und habe »die Logik der Natur« verehrt als eine Hilfe der Gnade.
Der kleinen Welt, welcher unsere Reckenburg ein gewohnter Zielpunkt geworden war, konnte deren allmähliche Neuerung nicht entgehen, und männiglich hat man in dem Fremdling, der sie unbewußt hervorlockte, die Erbin nicht nur des über kurz oder lang herrenlosen Besitzes, sondern auch des erlöschenden Namens der Reckenburg vorausgesetzt.
Es ist mir aber niemals in den Sinn gekommen, dem alten Baume, der nach Gottes Willen absterben sollte, dieses neue Reis aufzupfropfen. Ich habe einen alten Adel als einen zuverlässigen Stützpunkt geehrt; ich achte einen neuen Adel gleich einer Seifenblase. Junge Geschlechter mögen nach haltbareren Basen trachten. Nun und nimmer aber würde ich mit dem Klange eines Namens eine Täuschung verewigt haben, welche durch eine vorlaute Hoffnung geweckt, durch ein halb pflichtmäßiges, halb trotziges Schweigen genährt worden war. Die letzte Reckenburgerin will auch nicht mit dem Scheine einer Unehrlichkeit in die Grube steigen.
Ebensowenig aber dachte ich daran, die Last eines großen Besitztums so schwachen Schultern wie den Deinen aufzubürden.[375] Ich war durchaus nicht gewillt, mein Werk als eine Quelle des Behagens auch dem geliebtesten Menschen zufließen zu lassen. Es war ein Amt, ein Treugut, das ich übertrug, und Du bist ein Weib, Hardine, dessen Kraft erwächst aus der Kraft des Herzens, dem es sich zu eigen gibt. »Das Kind braucht Liebe,« sagte ich. Liebe es denn frei aus seinem Gemüte heraus, ohne bindende Pflichten als die, welche diesem Gemüte entkeimen.
Es geschah daher nicht geflissentlich, daß ich die Zweifel über Dein zukünftiges Verhältnis zur Reckenburg unterhielt; nein, ich hegte diese Zweifel selbst. Du warst geartet und erzogen, um Dich jedem Zusammenhange der gebildeten Stände einzufügen, und man durfte voraussetzen, daß meiner Pflegetochter zu einer sicheren Bewegung in diesem Zusammenhange die materielle Ausstattung nicht gemangelt haben würde. Einen reichen Mann oder einen armen – einen alten Namen oder einen neuen – einen beschaulichen Charakter oder einen tätigen: das Herz hatte freie Wahl, das Erbe der Reckenburg war unabhängig von derselben.
Es soll indessen nicht verhehlt sein, daß ein Zusammentreffen der beiden Abschlußakte meines Lebens, daß namentlich eine Verbindung mit dem gräflichen Hause mir als Wunsch vor der Seele stand, und bleibe es dahingestellt, ob der alte Namensklang nicht einen heimlichen Zauber übte. Es hält gar schwer, mit eingelebten geistigen Gewöhnungen, Vorurteile genannt, tabula rasa zu machen, und es ist auch gar nicht nötig, so mit Schaufel und Harke sein Stückchen Lebensboden zu planieren; wenn nur in der entscheidenden Stunde das Urteil stirnhoch über dem Vorurteil und das Herz auf dem rechten Flecke steht.[376]
Heimlich also, es ist möglich, lockte der alte Namensklang, unter dem der neue verschwinden sollte; laut aber, das ist gewiß, sprach das Verlangen, eine getäuschte Erwartung nachträglich in Erfüllung zu bringen. Ich schätzte den Grafen mehr als jemals in seinem erweiterten staatsmännischen Wirkungskreise; ich kannte ihn als den einzigen in meiner Umgebung, der, so rücksichtslos er sich gegen einen bösen Schein gebärdet, nicht einen Augenblick an mir gezweifelt hatte. Ich sah das Wohlgefallen des stattlichen jungen Kavaliers an meiner Hardine, und wenn ihr Herz sich dem seinigen zuneigte, warum sollten die Vorteile, welche die Eltern erstrebt hatten, am Ende nicht durch die Kinder zu erreichen sein? Meine arglose Hardine, Du hast meine Wünsche und Bestrebungen in dieser Richtung nicht bemerkt, und heute danke ich Gott, daß Du sie nicht bemerktest.
Denn als es mir klar wurde, wie des Grafen Standessinn vielleicht schwach genug war, um sich vor dem verbrieften Reckenburgschen Erbe in meines Kindes Hand zu beugen, aber zu stark, um sonder Erröten dieses Kind in ein Vaterhaus zu führen; als ich den jungen Herrn nur in seinen Schwächen als den Sohn seines Vaters kennen lernte; endlich aber, als ich sah, wie Hardines Lippen bei der unerwarteten Fahnenflucht lächelten, und wie sie gleich darauf den Blick vor eines anderen Blick senkte, da fiel die letzte Binde vor meinen Augen, und mindestens die eine Hälfte meines Abschlußaktes war im stillen festgesetzt.
Ludwig Nordheim, mein Heimatskind, war der Enkel meines milden Freundes und der Sohn meines kräftigen Mitarbeiters; ich hatte mit Vertrauen beider Grundlagen sich schon im Knaben zu einer heiteren Harmonie vereinigen[377] sehen und gar wohl den Reiz eines ersten Märchenerzählers auch in einem anderen Herzen gespürt. Aber sie waren Kinder dazumal, Jahre der Entfernung, der Entfremdung vielleicht, darüber hingegangen, und als er in die Heimat zurückkehrte, war es, um Abschied zu nehmen von dem Grabe seines Vaters und, auf sich selbst gestellt, sich einen Weg durchs Leben zu schlagen.
Eine tüchtige Kraft, einen frohen Willen, die treue Liebe zu der heimatlichen Flur, und – jenes Erröten meines Kindes, was brauchte ich mehr, um ihn zu fragen, ob er der alternden Frau ein Gehilfe in ihrem Tagewerke werden wolle? Und was braucht er mehr, um ja zu sagen und manchen frischen Trieb in das sich verjüngende Gehege einzupflanzen?
Nun aber erst, in dem freudigen Zusammenspiel der Herzen, wurde es um mich her so warm und lebendig, so bunt und neu. Die Gegenwart erschien mir so lieblich; ich mochte an die Veränderungen der Zukunft gar nicht denken. »Es hat noch Zeit,« sagte ich, zögerte von Tag zu Tage mit einem abschließenden Plan, und Gott weiß, wie lange ich noch gezögert haben würde, wenn nicht ein Strahl von außen – oder nenne ichs von oben? – das behagliche Selbstvergessen durchbrochen hätte.
Erinnerst Du Dich noch, Ludwig, des Nachmittags, es ist etwa sechs Wochen, daß Du zu mir tratest mit den Worten: »Da bringt die Zeitung den Nekrolog des berühmten Doktor Faber. Ich wußte nicht, daß er Ihr Landsmann gewesen ist, auch Ihr Zeitgenosse könnte er noch gewesen sein. Haben Sie ihn gekannt, Fräulein von Reckenburg?«
Du wurdest im nämlichen Augenblick zu einem Geschäft abgerufen, und das ersparte mir eine Antwort, für welche[378] mir der Atem gestockt haben würde. Der erste und noch der einzige Jugendgenosse war vor mir dahingegangen!
Ich nahm das Blatt zur Hand und überlas den Artikel. Er war gestorben nach rascher Krankheit den dritten August. Der dritte August! Ihr wißt, was dieser Tag mir bedeutete. Darf man solche Schicksalsdaten glauben? Soll man sie als ein verwirrendes Spiel des Zufalls von sich weisen? Entscheidets nach Eurem Gemüt aber – die Glocke schlägt eins – seltsam! –, es ist der zwanzigste September, der Tag von Valmy, an dem ich diese Aufzeichnungen zu Ende bringe.
Und weiter las ich: Der Mann, wie zwölf Jahre früher seine Gattin, war geschieden ohne Erben, ohne verwandtschaftlichen oder nahe befreundeten Zusammenhang. Kein ehrfürchtiges Gefühl wurde demnach verletzt, wenn ich Dir, Hardine, und dem, welchen Du liebtest, jetzt sagte: »Die Gattin dieses Mannes war Deines Vaters Mutter.«
So hatte denn der Zauberer Tod die alten Gestalten noch einmal vor mir wachgerüttelt, und die ernsthafte vergangene Zeit drängte sich in meine heitere Gegenwart hinein. Wunderbar aber, wie sich so Bild nach Bild im Zusammenhange entrollte, da erschien mir auch das Deine, Hardine, plötzlich in einem neuen Licht.
Wohl war ich durch Deinen Anblick so manches Mal an die reizende Dorothee erinnert worden. Ich sah ihren lockigen Goldscheitel auf Deinem Haupt, manchen ihrer Züge, die fragenden Kinderaugen. Aber Deine Augen fragten nach etwas anderem als die ihren, Deine Gestalt war größer, die Farbe matter und der stille Ernst der Bewegung machte das ähnelnde Bild zu einer besonderen Erscheinung. Nein, es war nicht die Enkelin Dorothees,[379] es war einfach das Kind, das sich in das sehnende Herz genistet hatte.
An jenem Abende nun sah ich in meinem Kinde – zwar auch nicht die Enkelin Dorothees – aber zum ersten Male die Enkelin des Mannes, zu dessen Erbe die alte Reckenburgerin den Stammsitz ihrer Väter neu geschaffen hatte, des Mannes, der, hätte er gelebt, der geliebten Mutter seines Sohnes in diesem Erbe eine Heimat bereitet haben würde. Mir war zu Sinn, als ob ich nur ein Treugut für die rechtmäßige Besitzerin verwaltet habe.
Unter diesen alten Erinnerungen und neuen Vorstellungen schlief ich endlich ein und – träumte.
Ich bin in meinem Leben, weder wachend noch schlummernd, viel von Traumgesichtern behelligt oder beseligt worden, und ich brauche Euch nicht zu versichern, meine Kinder, daß ich mich für nichts weniger als eine Visionärin halte. Ich war an jenem Abend bewegt wohl, doch ohne Aufregung, kerngesund eingeschlafen, und kerngesund, wie noch in gegenwärtiger Stunde, wachte ich am anderen Morgen auf, aber mit dem deutlichen Bewußtsein eines Traumes.
Welches Traumes? Mich deucht, ich hätte ihn malen können, könnte ihn heute noch malen, und doch war es etwas Unbeschreibliches, Unendliches, das man nur fühlt, nicht sieht. Soll ich sagen: ein wogendes Meer? oder eine blendende Wolke, die von einem Throne niederwallte und wie mit einem durchsichtigen Schleier vier Gestalten überwob, die Hand in Hand auf ihren Knien lagen und ihre Blicke in die Höhe richteten? Diese Gestalten aber, ich sah sie so deutlich, wie ich sie je im Leben gesehen hatte, es waren Siegmund Faber, Dorothee, ihr Sohn[380] und ihres Sohnes Vater. Und eine fünfte trat zu ihnen, um zwischen dem letzten und ersten die Kette zu schließen, diese fünfte aber war ich selbst. Der leuchtende Schleier überwallte auch mich, und es flüsterte unter seiner Hülle wie Luftgesäusel: »Denn welche der Geist Gottes treibt, die werden Gottes Kinder heißen«.
Unter diesem Geflüster erwachte ich, und es währte eine Weile, bis ich mich besann, daß nur die Fontäne in der Morgenstille plätscherte, und daß das leuchtende Meer, das mich umwogte, die aufsteigende Sonne sei, welche die Nebel der Aue übergoldete.
Rasch erhob ich mich nun. Mein Puls schlug ruhig und kräftig wie alle Tage, wie diese Stunde noch. Aber es war etwas in mir lebendig geworden, das mich unaufhaltsam vorwärtstrieb. Hatte ich bis heute gesagt: »Es hat Zeit!« heute sagte ich: »Es ist Zeit!« Und ich wußte ohne Besinnen, für was es Zeit geworden war.
An jenem Morgen, Ludwig, nahm ich das längst geahnte Wort von Deinen Lippen, und am Abend begann ich diese Aufzeichnungen. An dem Tage aber, an welchem ich das Kind meines Herzens für Zeit und Ewigkeit Deiner Mannestreue übergeben hatte, an diesem Tage schrieb ich mein Testament.
Es wird dasselbe Euch eröffnet werden, sei es in Wochen, sei es in Jahren, an dem Morgen, nachdem Ihr diese Blätter gelesen habt, und Ihr werdet nur die wenigen Worte darin finden: »Die Erbin meiner gesamten Hinterlassenschaft ist meine Pflegetochter Hardine Nordheim, geborene Müller«.
Ich lege das Erbe der Reckenburg in die Hand der Enkelin, wie meine Vorfahrin es in die Hand des Ahnen[381] gelegt haben würde. Ich lege es in die Hand der Gattin meines bewährten Mitarbeiters. Ich lege es aber auch in die Hand des Kindes, das in dem einsamen Weibe das Herz einer Mutter erweckte, und ich lege es vor allem in die Hand der Waise, mit welcher der Geist der Liebe seinen Einzug in meine Flur gehalten hat. Ich tue es ohne bedingende Klausel, denn ich bin der Herzen meiner Kinder in ihrem Amte gewiß.
So sei denn dieses Vermächtnis die Krone über dem Werke des abgestorbenen Geschlechts. Sein Wahrspruch walte in dem jungen Stamm unter den umwandelnden Strömungen der Zeit, und der Geist der Gottesgemeinschaft wirke und wachse zum Segen von Kind auf Kindeskind.
Mitternacht war vorüber, als dieses Schlußwort verhallte. Mit erhobenen Händen knieten Ludwig und Hardine vor dem Bilde der letzten Reckenburgerin zu einem erneuerten heiligen Verspruch. Und bis heute sind sie ihrem Gelöbnis treu geblieben.
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Die letzte Reckenburgerin
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