Einschaltung des Herausgebers

[344] Ja, unser tapferer Invalid ist tot! Drei Tage, nachdem er hoffnungstrunken das Waldhaus Muhme Justines wiedererkannte, ist er dahin, und wohl ihm! rufen wir ihm nach. Wir hätten ihm den Todesstreich von einem Türkensäbel gegönnt; aber zehn Friedensjahre hatten sein Lebensmark aufgezehrt. Nun starb er rasch, wie er gelebt, gut gepflegt auf heimischem Grund, und sein brechender Blick fiel auf das verwaiste Kind, welches Fräulein Hardine zum Schutz in ihre Reckenburg führte. August Müller endete glücklicher, als seine brave Lisette auf dem Sterbebett geahnt hatte. Wohl ihm!

Und wieder drei Tage später sehen wir Fräulein Hardine als einzige Leidtragende seinem Sarge folgen zu der Ruhestätte, die ihm an der Seite der »treuesten Dienerin« bereitet worden war. Es war dies eine letzte Ehre, welche die Herrin jedem ihrer Gemeindeglieder erwies, und wir, die wir ihre Bekenntnisse gelesen haben, wissen, welchen Erinnerungen sie durch dieselbe in diesem besonderen Falle gerecht ward, die Zeitgenossen aber, welche die Wahrheit erst aus diesen Blättern erfahren werden, die schrien im Chor: »Einem Fremden, einem bettelnden Tagedieb! dem, der die schwerste Bezichtigung gegen sie verbreitet hat?«

So war es denn Fräulein Hardine selbst, die, schweigend und handelnd, dieser Bezichtigung Vorschub leistete, in einer Weise, daß ihr goldheller Namen dauernd dadurch geschwärzt werden sollte. Wir wollen uns nicht dabei aufhalten, wie dem starren Erstaunen die kleinlichsten Spürversuche folgten, wie der verbissene Neid triumphierte, Entrüstung, ja Empörung gegen die langjährige Heuchelei[344] laut und öffentlich zur Schau getragen ward. Das Haus, zu welchem der Eintritt als hohe Gunstbezeigung erstrebt worden war, sah sich scheu gemieden, gleich einem, in welchem ein ansteckendes Fieber ausgebrochen ist; der stolze Bau des Rechtes und der Ehre schien in seinem Fundament erschüttert; keine Hand regte sich, ihn zu stützen, seitdem selber der Graf die Beziehungen zur Reckenburg und alle Zukunftsaussichten aufgab und, schweigend zwar, eben darum aber sprechend genug für die gespannten Lauscher, auf seinen neuen hohen Verwaltungsposten eilte.

Wer hätte nicht in ähnlicher Weise eine wankende Autorität verlassen sehen? Gleichwohl würde der geräuschvolle Eifer bei dieser Katastrophe nicht hinlänglich zu erklären sein, wenn der Zeitpunkt derselben außer acht gelassen würde. Der übermäßigen Anstrengung aller Lebenskräfte in Not und Kampf waren zehn Jahre einer apathischen Stille nachgeschlichen; in beschränktem Kreise wiederherstellend und aufbauend, folgte jeder einem tiefen Ruhebedürfnis. Aller Abzug in weitere Gebiete war unterdrückt, die staatsbürgerlichen Interessen schwiegen, selbst unsere jüngsten großen Erinnerungen schienen wie mit dem Schwamme ausgelöscht. Mit dem patriarchalischen Behagen verbreitete sich patriarchalische Kleinsucht und Fraubaserei. Ein weniger bemerkenswertes Ereignis als der Sturz von Fräulein Hardines Ehrenkrone würde in einer solchen Epoche als eine Haupt- und Staatsaktion verhandelt worden sein, weit mehr als der Sturz von Königskronen in einer anderen.

Ob Fräulein Hardine diesen Sturz bemerkte? Ob sie ihn einer Beachtung würdigte? Kein Zeichen deutete es an. Sie bewegte sich nach wie vor zuversichtlich in ihrem[345] Tagewerk, und scheute sich nicht, das angezweifelte Wesen, das sie demselben eingefügt hatte, immer dichter in ihre Nähe zu ziehen. Unter allen Umständen tat sie keinen entgegenkommenden Schritt, der eine versöhnliche Stimmung eher als jener hochmütige Gleichsinn angebahnt haben würde. Wir aber, die sie die Ihren nannte, wir Reckenburger Leute, ei nun, wir kümmerten uns nicht um Klatsch und Matsch. Wir glaubtens nicht und wir bezweifeltens nicht. Wie Fräulein Hardine es uns gelehrt, sorgte ein jeder für das Seine.

Indessen: das heftigste Unwetter verzieht, und auch die Windsbraut um Reckenburg legte sich; nicht ganz so jählings, wie sie herangebraust war, aber hübsch sacht und gemütlich nach deutscher Stürme Art. Die Hand, die eine Reckenburg zu verschenken hat, behauptet ihre Anziehung; die Standesgenossenschaft besann sich auf ihre alten Hoffnungen, auch die bürgerliche Klientel auf gelegentliche Berücksichtigung. Bald ersehnte jedermann nur einen Anlaß, um öffentlich zu verleugnen, was heimlich von keinem bezweifelt ward. Dieser Anlaß aber ließ nicht lange auf sich warten, und es war die Stelle, von welcher man im lieben Vaterlande alle Hilfe beanspruchte, zu der man sich selber nicht entschließen konnte, die allerhöchste, der man auch die Rettung von Fräulein Hardines Ehrenkrone zu verdanken hatte. Das Fräulein erhielt das Diplom einer Ehrenchanoinesse des vornehmsten Damenstiftes der Monarchie, und damit die Prärogative einer verheirateten Frau. Sie machte von dieser Sonderstellung keinen Gebrauch, nannte sich und ließ sich nennen Fräulein von Reckenburg. Man erzählte sich auch, daß sie eine gräfliche Erhebung ihres Wappenschildes dankbarlichst ausgeschlagen habe.[346] Sie schien sich darauf zu steifen, als Freifräulein in die Grube zu fahren. Die königliche Gunstbezeigung wurde jedoch zum Signal, die Verunglimpfung zu bezweifeln oder großmütig zu decken.

Ein tapferer Veteran der Befreiungskriege, von plötzlichem Fieberwahnsinn befallen, hatte auf Reckenburg eine Pflegestatt und ein ehrenvolles Grab, seine hilflose Waise hochherzige Versorgung gefunden. Wehe dem, der Jahr und Tag nach dem verhängnisvollen Königsfeste eine andere Version über die große Katastrophe hätte laut werden lassen! Fräulein Hardine feierte weder heuer noch jemals später den 3. August mit einem patriotischen Mahl; hätte sie ihn aber gefeiert, sie würde kein geladenes Haupt an ihrer Tafel vermißt haben.

Indessen die Gäste stellten sich auch ungeladen wieder ein. Visiten, Ratsuchende, Huldigende, Hoffende meldeten sich, das Lächeln der Unschuld auf den Lippen, so als ob sie nimmer gewichen, und wurden empfangen, so als ob sie nimmer vermißt worden wären. Scheiden und Meiden schien auf beiden Seiten vergessen; das alte Fahrgleis zur Reckenburg war wiederhergestellt, nur daß die Blicke sich je mehr und mehr zwischen der großen und der an ihrer Seite heranwachsenden kleinen Hardine teilten.

Denn wie staunten die ersten Besucher, in der verwahrlosten Landstreicherin schon nach Jahresfrist ein Kind wiederzufinden, gesund und lieblich, wie man je eines gesehen. Fürwahr, Fräulein Hardine hatte eine glückliche Hand. Auch ihr trübseliger Schützling war gediehen in der Luft des neuen Turms und auf den Flurwegen, wo sie der Herrin tägliche Begleiterin geworden. Die Nachbarschaft erwartete in Bälde den Akt einer Adoption, dem[347] die Adelsbestätigung nicht fehlen werde. Man zählte zum voraus die Reihe der ritterlichen Jünglinge, die ohne Scheu das Erbe der Reckenburg aus der Hand der Marketenderinnentochter empfangen würden. Und diese Reihe war lang.

Aber nichts von dem Erwarteten geschah. Fräulein Hardine tat keinen Schritt, um die kleine Plebejerin zu ihrem eigenen Range zu erheben. Sie machte nicht einmal ihr Testament. Ihre Pflegebefohlene blieb nach wie vor Hardine Müller.

Auch wurde sie keineswegs herangebildet, wie es einer Erbin von Reckenburg geziemt haben würde: keiner vornehmen Kostanstalt, keinem gelehrten Hofmeister, keinen fremdländischen Gouvernanten übergeben. Der erste Lehrer des Kindes, Pastor Nordheim, blieb auch der letzte, und von allen Kunstfertigkeiten der Mode war es späterhin nur die Musik, welche ein tüchtiger Meister der Nachbarstadt in dem talentvollen Mädchen pflegte. Im übrigen fügte sich dasselbe bald in das Getriebe des inneren Haushaltes, und schien sich in demselben mit gleicher Neigung zu bewegen, wie ihre Beschützerin in der äußeren Verwaltung

Diese Erziehung deutete allerdings nicht auf hochfliegende Pläne für das geheimnisvolle Waisenkind. Wer hätte jedoch behaupten mögen, daß Fräulein Hardine, welche in so vielen Stücken gegen den Strom zu steuern wagte, einer eigenen Tochter oder Enkelin eine vielseitigere Bildung bewilligt haben würde? Daß das Maß des eigenen Wissens und Könnens ihr nicht das Genügende schien, um einen großen Besitz und ein bedeutendes Amt zu verwalten?[348]

Zu diesen wohl gerechtfertigten Zweifeln gesellte sich die Wahrnehmung eines allmählichen Umwandelns des Reckenburgschen Lebenszuschnittes nach der häuslichen Seite hin. – Der Verlauf war natürlich und folgerecht für eine, die nichts halb tat, wie unser Fräulein Hardine. Denn ein Mensch zieht den andern nach sich und keiner mehrere als ein Kind. Die kleine Waise bedurfte der Wartung, des Unterrichts und Umgangs; sie bedurfte des Raumes zur Pflege, zum Spiel, zur Aufnahme nachbarlicher Genossinnen und deren erwachsener Sippschaft, die nicht spröde auf sich warten ließ. Ein freundliches Gelaß mußte mit den Tändeleien einer Kinder-, später einer Mädchenstube ausgefüllt, Gastzimmer und wohnliche Versammlungsräume mußten eingerichtet werden. Der neue Turm war zu eng und einfach für mehr als eine; die anstoßenden Säle waren zu weit und prunkvoll für weniger als eine Galaversammlung. Da gab es denn Abteilungen und Zwischenwände; wärmende Öfen traten an die Seite der unzulänglichen Marmorkamine; weiche Teppiche bedeckten die kältende Mosaik des Bodens; bequeme Polstermöbel nahmen die Stelle der harten, goldverzierten Sessel ein, duftende Blumengruppen die der modernden Potpourris und wackelnden Chinesen auf den Konsolen. Musik und Gesang ertönten in dem lange stillen Palast, und ein modern gefälliges Gerät bedeckte statt der barocken Silber-und Porzellangefäße die wohlbesetzte Tafel.

Und wie das Haus so die Gartenpracht. Die gesamte tote Götterwelt, vor welcher die kleine Hardine sich gefürchtet hatte, fiel ohne Gnade; die drei- und viereckigen lebendigen Gestalten, über welche sie gelacht, als man sie Bäume nannte, machten unbeschnittenen Strauch- und[349] Baumgruppen Platz; die steifen Hecken, die glasgesäumten Schnörkelbeete, welche den Tummelplatz der Kinderwelt beengten, verschwanden und weite Rasenplätze rundeten sich an ihrer Stelle zu beiden Seiten der stattlichen Avenue. Junge Mädchen lieben Blumen, und so entfaltete sich weiterhin bis zum Waldesrande ein üppiger Flor; rings um den Gutshof aber dehnten sich Gemüse- und Obstpflanzungen, Glashäuser und Winterbeete, denn das gastliche Haus bedurfte der Leckerbissen, welche die einsame Herrin vordem nicht vermißt hatte. Anmutige Sitzplätze luden allerorten zur Ruhe ein, eine einzige große Fontäne inmitten der Terrasse spendete kühlend die Wassermenge, welche die Ungetüme des Lustgartens in zahllosen Fädchen ausgetröpfelt hatten, und die Singvögel des Waldes flatterten bis an den Rand des Bassins, wo freundliche Kinderhände ihnen Futter streuten. Alles in allem: unsere Reckenburg, ohne ihren herrschaftlichen Ursprung zu verleugnen, hat sich in ein Heimwesen mit zeitgemäßem, bürgerlichem Behagen umgewandelt, und wie hätte fortan ein Bedürftiger ohne Labe und Pflege von ihrer Schwelle gewiesen werden sollen, wenn die kleine Hardine für ihn »bitte, bitte« sprach? Gutgeartete Kinder geben ja so gern, und die kleine Hardine war ein gutgeartetes Kind. Als in den ersten dreißiger Jahren die Cholera rings im Lande viele Opfer forderte und mit einem ihrer Katzensprünge nur unsere Reckenburg verschonte, da errichtete das Fräulein ein stattliches Waisenhaus, und an dem Einsegnungstage ihrer Pflegetochter wurden fünfzig vater- und mutterlose Mädchen darin eingeführt.

So ist die kleine Hardine nun ein erwachsenes Dämchen geworden; und ein wechselnder Verkehr mit Stadt und Land[350] hat sich angebahnt und ausgedehnt auch über Kreise, die sonst nicht zu der Tafelrunde der Reckenburg gezählt worden waren; innerhalb dieser Kreise werden bei dem seit den Julitagen angeregteren Zeitwesen denn auch wohl Stimmungen laut geworden sein, welchen die große Hardine in früheren Tagen schwerlich Gehör geschenkt haben dürfte. Kurzum wohin wir blicken, da ist seit dem Eintritt des kleinen Bettlerkindes in der vertrauten Umhegung allmählich das Alte neu, das Verlebte jung geworden. Und so sehen wir denn auch nicht mehr die goldene Kutsche mit dem altersschwachen Schimmelzug, sondern ein leichtes Gefährt mit raschem Zweigespann die Herrschaft und ihre Gäste zueinander führen, und nicht mehr die gepuderten Heiducken, sondern ein flinkes, jugendliches Völkchen versieht den Dienst in dem erneuten Haus. Die periodischen Galafeste haben aufgehört, aber im Schloß wie im Dorf singt und springt die Jugend unter dem Maienbaum und Erntekranz; die Schenke streckt einladend ihren Arm in die Luft, die Kegel rollen, die Krüge klappen, wenn auch mit Maß; wir sind noch immer eine ehrbare Kolonie, aber doch andere Leute geworden wie jene, die den wandernden Invaliden mit Wunderaugen betrachteten und die stattliche Festkavalkade keines Blinzelns würdigten. Es herbergte sich gut auch bei den Bauern von Reckenburg; droben aber in den herrschaftlichen Gemächern lockte ein allempfundener Zauber die Gäste herbei, denn die alte Dame lächelte gütig, und die junge war schön.

Indessen sie hieß noch immer schlechthin Hardine Müller, sie nahm eine Stellung ein, die sich ebensowohl für die bevorzugte Gesellschafterin wie für die Verwandtin eines großen Hauses geschickt haben würde. Ausbildung und[351] Beschäftigungsweise hätten sie für das Familienleben bürgerlicher Kreise geeignet gemacht, Anstand und äußere Form möchte ein hochwohlgeborener Weltmann nicht unter seiner Würde gefunden haben. Und eben weil sie so verschiedenen gerecht schien, sah die Hoffnung jedes Besonderen sich eingeschränkt. Die Bürgerlichen schreckten die Ansprüche der aristokratischen Pflegemutter; die Aristokraten schreckte die plebejische Herkunft ohne verbriefte Zukunftsaussicht. Eine Zeitlang glaubte man an eine Verbindung mit dem ältesten Sohne des Grafen, einem hübschen, flotten Kavalier. Der junge Herr besann sich aber anders, er wählte eine, die Gott weiß wie viele Ahnen, und nicht, wie die kleine Hardine, zwar zehn Sperlinge auf dem Dach, aber einen sicher in der Hand hatte. Es war das zweifelhafte Erbe der Reckenburg, welches von zwei Seiten die Bewerber zurückhielt, und so müssen wir leider die Tatsache konstatieren, daß die liebliche, vielbewunderte kleine Hardine in ihrem zwanzigsten Jahre sich noch keines Heiratsantrages rühmen durfte.

Alle diese Freierzweifel fanden jedoch eine überraschende Lösung, als just in den Hochsommertagen, wo vor zwölf Jahren die Waise des Invaliden an dem Herde der Reckenburg heimisch geworden war, Fräulein Hardine die Verlobung ihrer Pflegetochter bekanntmachte. Der Auserkorene war ihr erster Kindheitsgenosse, der uns bekannte freundliche Gymnasiast, der aber nicht das geistliche Erbamt auf Reckenburg übernommen, sondern nach dem Tode seines Vaters vor ein paar Jahren die juristische Laufbahn mit der ökonomischen unter Fräulein Hardines Augen vertauscht hatte und jetzt als deren Gehilfe die Reckenburg verwaltete.[352]

Manche heimliche Hoffnung wurde durch diese Verbindung zerstört, manche neu belebt. Man nahm sie als einen Akt der Verleugnung, wo man einen der Adoption gefürchtet hatte. Nun und nimmermehr konnte dieses Prototyp einer Edelfrau den Stammsitz ihrer Väter, das Erbe, welches deren Namen in die Zukunft leitet, auf die Familie eines Mannes übertragen, der als Bediensteter in ihrem Lohn und Brot stand. Wer reines Blut in seinen Adern fühlte, brachte ein Hoch aus auf die alte Reckenburgerin.

In wenigen Wochen waren Ludwig Nordheim und Hardine Müller ein Paar. Die unruhige Spannung aber steigerte sich, als schon am Tage nach der Hochzeit sich die Neuigkeit verbreitete, daß das Fräulein von Reckenburg ein Testament übergeben habe. Sie hatte es ohne notariellen Beistand abgefaßt, Siegelung und jedwede gerichtliche Einmischung in die zur Zeit ihres Todes bestehende Verwaltung untersagt, bis nach dreißigtägiger Frist die Eröffnung stattgefunden haben werde. Mit dieser letzten Klausel mochte es allerdings Weile haben. Die Testatorin war an Geist wie Körper kerngesund, kein Haar auf ihrem Haupte ergraut, der stolze Nacken nicht um eine Linie gekrümmt. Sie zählte sechzig Jahre, vielleicht auch mehr, aber sie schien auf ein Jahrhundert angelegt.

Manche unserer heimischen Zeitgenossen werden sich daher des allseitigen Staunens, ja Erstarrens erinnern – dem Herausgeber zittert heute noch die Hand, nun er bei diesem Wendepunkte angelangt ist –, als am 21. September 1837 sich die Kunde von dem Tode der letzten Reckenburgerin gleich einem Lauffeuer über die Landschaft[353] verbreitete. So fern sie irgendeinem gemütlichen Zusammenhange außer ihrer Flur gestanden, die Blicke und Gedanken von hoch und gering hatten sich Geschlechter hindurch mit einem allzu lebhaften und mannigfaltigen Interesse auf die beiden ungewöhnlichen Schloßherrinnen geheftet, um sich nicht wie von einem persönlichen Schicksale betroffen zu fühlen, als jetzt die Stelle, die sie eingenommen, plötzlich verödet war. Wer sollte diese Stelle fortan füllen? Einzelne wie Korporationen forschten ängstlich nach dem leisesten Faden, welcher zu der bewährten Segensquelle leiten konnte. Jedweder sah sich zu einer Hoffnung berechtigt, um so mehr, als keiner zu einem Anspruch berechtigt war und nur Glück oder Gunst ihm ein großes Los in die Hand spielen konnte.

Aber es waren nicht diese Glücksjäger allein. Ein umfänglicher Gemeindeverband hatte eine Oberherrin verloren, die sich sein Gedeihen zur Aufgabe eines langen Lebens gesetzt, eine große Zahl Beamteter die gerechteste Gebieterin, auch die Armut eine milde Versorgerin, seitdem durch die Hand eines Bettlerkindes die Tugend der Barmherzigkeit eine Sitte auf Reckenburg geworden war, und es ist nicht zuviel gesagt, daß Tausende mit beklommener Brust der Stunde entgegensahen, die über die Wahl des Erben von Reckenburg entscheiden sollte.

Keiner aber empfand diese Beklemmung tiefer als das junge Paar, dessen sorgloses Glück durch den jähen Tod einer Wohltäterin so dunkel getrübt worden war. Erst seit dieser Stunde fühlten Ludwig und Hardine voll und ganz das Bedeuten ihrer früheren Verwaisung, fühlten sie das Bangen der Heimatlosigkeit. Ein warmes, weiches[354] Nest hatte sie bis heute geborgen; wo aber sollte die Hütte ihrer Zukunft stehen?

Und es war nicht nur die zweifelhafte Zukunft, nicht nur der Kummer der Gegenwart, es war auch das Geheimnis der Vergangenheit, welches die Herzen der armen Kinder so ängstlich zusammenzog. Sie allein von den vielen, welche der letztgültigen Entscheidung über ihre Heimat mit Spannung entgegensahen, sie allein wußten, daß gleichzeitig das Rätsel sich lösen sollte, welches der Waise des Invaliden eine Freistatt in derselben eröffnet hatte.

Als an jenem unglückseligen Morgen die jungen Gatten frohen Mutes zum gewohnten Frühgruß in das Zimmer ihrer mütterlichen Freundin traten, fanden sie dieselbe nicht wie alle Tage für ihren Geschäftsbetrieb gerüstet. Das Bett war unberührt, sie selber aber saß im Nachtkleide zurückgesunken in dem Lehnstuhle, der schon in ihrem Vaterhause gestanden hatte. Auf dem Schreibtische vor ihr lag die alte Erbbibel aufgeschlagen bei dem achten Kapitel des Römerbriefes, und die Worte des vierzehnten Verses: »Denn welche der Geist Gottes treibt, die werden Gottes Kinder heißen,« waren sichtbarlich frisch unterstrichen. Neben der Bibel aber fanden sie ein Manuskript, dessen Aufschrift mit den gewohnten kräftigen Handzügen lautete:

»Mein Geheimnis. Ohne Zeugen zu lesen von Ludwig und Hardine Nordheim am Abend vor der Eröffnung meines letzten Willens.«

Erst spät in der Nacht schien das Siegel auf diese Mitteilung gedrückt worden zu sein, denn die Lackstange wie das Reckenburgsche Wappen zeigten Spuren des kürzlichen[355] Gebrauchs, und die einzige Kerze, welche dem scharfen Auge und der schlichten Gewöhnung der Matrone noch immer genügte, war tief herabgebrannt. Noch hatte sie die Flamme sorglich gelöscht, dann mit gefalteten Händen, im Rückblick oder Aufblick, mochte sie noch eine Weile geruht haben und so entschlummert sein. Nicht, wie die Kinder beim ersten Eindruck hofften, um wiederum zu erwachen, nein, eingeschlummert für immer. Ein Herzschlag hatte sie getötet. Kein Zeichen von Kampf oder Krampf entstellte die ruhigen Züge, ein leises Lächeln umspielte die Lippen, und auf den Wangen war der letzte rötliche Hauch noch nicht entflohen. Das tote Antlitz sah sich schöner an als einst das lebende. Noch zeigte es das milde Entzücken des Heimganges, jenen Adel der letzten Stunde, welcher den Schmerz der Überlebenden zu ewigem Troste verklärt. Die letzte Reckenburgerin war geschieden vor dem Hinsiechen einer Kraft, im bewußten Frieden mit Gott, mit seiner Welt und mit sich selbst.

Heute aber lief die Monatsfrist zu Ende, die sie bis zur Enthüllung ihres langbewahrten Geheimnisses anberaumt hatte. Die Sonne des Oktobertages neigte sich, und wir empfinden den feierlichen Ernst, mit welchem wir die jungen Gatten, in tiefe Trauerkleider gehüllt, die Terrasse hinabsteigen und schweigend den Ulmengang bis zum Waldesrande verfolgen sehen.

Eine langgehegte Neigung des Herzens hatte Ludwig und Hardine zusammengeführt, und die Liebe, sagt man ja, wählt blind. Aber auch der scharfprüfende Blick ihrer Beschützerin würde kaum zwei Menschen gefunden haben, welche wie diese beiden zur gegenseitigen Ergänzung geschaffen schienen.[356]

So klaren Auges, von so kraftvoller Struktur und Färbung, wie die des jungen Mannes, so hoch aufgerichtet wie ihn, würden wir uns einen leiblichen Sprossen des Reckenburger Stammes haben vorstellen können. So sicher seiner selbst und rasch zur Tat mußte der Gehilfe sein, welchen Fräulein Hardine sich in ihrem Amte erwählt hatte. Der frohmütige Gymnasiast, der schon bei der ersten Begegnung das Herz des wandernden Invaliden gewonnen hatte, war ein ganzer Mann geworden und ein guter Mann.

Hardine aber, wie sie sich jetzt so dicht an den einzigen Beschützer schmiegt, dessen Schulter der weiche, goldglänzende Scheitel kaum erreicht, jeder Blick des großen, feucht schimmernden Auges eine Frage, jede Biegung der anmutigen Glieder, jede Blutwelle unter der durchsichtigen Haut der Ausdruck eines liebebedürftigen Gemüts, so gleicht sie der jungen Birke, deren Laub im leisesten Hauche zittert, und deren zarter Schaft zusammenknicken würde, wenn Sturm und Wetter sich nicht an dem hochragenden Wipfel des schützenden Eichenbaumes brechen sollten.

Es war einer von den seltenen Tagen, deren Sonnengold und Farbenspiel wir so dankbar als letzte Gunst des Jahres genießen. Ludwig und Hardine erstiegen einen Hügel, der, zwischen Garten und Forst, meilenweit über die Flußaue einen Ausblick bietet. Die Herbstspinne hatte die Stoppeln der Felder mit einem silbernen Netze verhüllt, die Zeitlose einen Violenschimmer über die noch immer saftgrünen Wiesen gebreitet. Leise drangen die Glocken der abweidenden Herden herauf; die Spätlingsdüfte der Reseda mischten sich mit der Würze des Waldes,[357] der in allen Schattierungen des absterbenden Laubes und der immergrünen Nadeln die Landschaft umrahmt. Breit und ruhig wallte der Strom, ein Spiegel reinster Himmelsbläue, bis er fern im Westen im Glanze der sinkenden Sonne verschwand; gegen Morgen aber stand die feine Sichel des Mondes gleich einem Diadem über dem schwärzlichen Tannenforst, und aus dem Grunde stiegen schon jene weißen Dunstschleier in die Höhe, welche an die Ahnungen unsrer Seele erinnern, wenn Sang und Duft der Jugend erloschen sind.

Keine Jahresfärbung steigert die einfachen Formen unserer Landschaft zur Schönheit, wie die des Herbstes, und, war es zum Lebewohl, war es zu einem heimatlichen Glückauf, daß sie heute ihren blendendsten Schmelz entfaltet hatte?

Ludwig und Hardine hatten eine Weile schweigend das reichgesättigte Bild überschaut. Jetzt unterbrach der junge Mann die Stille; er faßte der Gattin Hand und sprach mit einem Lächeln und herzerschließenden Klang der Stimme: »Ja, es ist eine liebe Heimat, und es müßte köstlich sein, sich aus eigenem Vermögen in ihr ein Bürgerrecht zu erwerben. Aber trockene deine Tränen, meine Hardine. Gehören wir nicht eins dem anderen? Sind wir nicht durch sie zu froher Tätigkeit gewöhnt? Du wirst auch anderwärts glücklich sein, mein liebes, sanftes Weib!«

»Überall, Ludwig, überall mit dir!« flüsterte sie, indem sie den hellen Kopf an seine Brust gleiten ließ. Nach einer Pause aber setzte sie hinzu, und ein Schauer überrieselte die schwanke Gestalt: »Es ist ja nicht das, Ludwig, nicht das allein – –« Sie stockte, er aber sagte:[358]

»Nein, es ist nicht das, und ich weiß, was es ist, Hardine. Kein bangeres Geheimnis als das des Blutes. Liegt uns die Zukunft verhüllt, die Vergangenheit wollen wir klar überblicken, wollen die Ahnen kennen, denen wir die Wohltat des Daseins zu danken haben. Und darum –«

»Darum!« hauchte die junge Frau.

»Darum,« fuhr jener fort mit einer stolzen Zuversicht, als gälte es einen Zweifel an der eigenen Ehre zurückzuweisen, »darum sage ich: was auch die nächste Zukunft enthüllen mag, nun und nimmer einen Makel auf dem hehren Bilde dieser Frau, die uns beiden eine Mutter geworden ist.«

Die Gattin beugte sich und küßte des Mannes Hand zum Dank, daß er ihr ein frohes Bewußtsein bekräftigt habe. Dennoch flossen ihre Tränen noch immer. »Und mein Vater, Ludwig,« schluchzte sie, »mein armer Vater –«

»Dein Vater,« versetzte Ludwig, »klammerte sich im Schiffbruche des Lebens an den Strohhalm einer Erinnerung, eines Wahns, um sich selber und sein hilfloses Kind vor dem Versinken zu retten.«

Die junge Frau schluchzte krampfhaft. Ihr Mann küßte sie auf die Stirn und zog sie neben sich auf eine Bank, über welche ein Ebereschenbaum seine schweren Traubenzweige hängen ließ.

»Fasse dich, mein Kind,« sagte er. »Uns bleibt noch eine Stunde. Laß uns die Enthüllungen, welche wir vermuten, durch unsere Erinnerungen vorbereiten. Niemals würde ich mir solch eine Aussprache selber mit meinem geliebten Weibe gestattet haben, solange ihre Augen über uns wachten. Ich fühlte ihre heimliche Mißbilligung.[359] Heute aber, wo ihr eigener Wille das Geheimnis brechen wird, heute frage ich dich, Hardine: hat sie je gegen dich der Vergangenheit erwähnt?«

»Niemals, niemals, Ludwig,« beteuerte die junge Frau.

»Und auch gegen mich nur mit einem einzigen ernsten, aber nicht enthüllenden Wort,« sagte Nordheim, von der Erinnerung bewegt.

»An jenem glückseligen Morgen, wo sie meine langgehegten Wünsche zum Ausdruck und zur Erfüllung brachte, da fragte sie mich: ›Kennst du die Abstammung des Kindes, Ludwig, dessen Schutz du von heute ab übernimmst?‹ Und als ich die Frage bejahte, fuhr sie fort: ›Sie ist in Ehren geboren; ihr Vater war ein tapferer Soldat, dessen Wunden die späteren Verirrungen deckten. Sei auch du ein tapferer Soldat und scheue nicht die Wunden in dem immerhin schweren Kampfe des Lebens.‹ Das ist das einzige Mal, daß sie das Andenken August Müllers in mir wachgerufen hat.«

Ludwig sprach eine lange Weile über jene erste traurige Zeit. Das Gedächtnis des lebhaften, neugierigen Schülers hatte manches erfaßt und erfahren, was dem blöden kleinen Mädchen entgangen oder entfallen war. Er scheute sich nicht, sie an ihres Vaters verwahrlosten Zustand und selber an ihren eigenen zu erinnern, wie sie, ein zitterndes, halbnacktes Vögelchen, fast stumpfsinnig von Entbehrung und Elend, der Frau unter die Augen getreten sei, die ihren Abscheu vor jeder Art von Verkommenheit bisher noch zu keines Menschen Gunsten verleugnet habe.

»Ich kann uns diesen Rückblick nicht ersparen, mein liebes Herz,« sagte er, »auf daß wir die Frau verstehen lernen und ihre Tat. Frage dich nun selber, ob solch eine Erscheinung,[360] mit dem unerhörtesten Anspruche sich zudrängend und sich des schmählichsten Unglimpfes nicht entblödend, ob sie die bisherige Natur, die bisherigen Grundsätze unserer Freundin erschüttern, oder ob sie dieselben schärfen mußte?«

Weiterhin sprach er von den Folgen jener Begegnung. Erst in dieser Stunde erfuhr Hardine, mit welchem Opfer die an Ehrerbietung gewöhnte Matrone ihr Geheimnis bewahrt habe, und beider Wesen beugte sich vor diesem schweigenden Heldenmut, den die junge Frau mit dem ihr geläufigsten Worte »Liebe« nannte.

»Nein,« so schloß aber Ludwig seine umsichtige Betrachtung, »nein, es war nicht, was du Liebe nennst, Hardine, nicht ein natürlicher Zug, welcher der strengen Lebensregel dieser Frau und der von ihr hochgehaltenen Meinung der Welt Trotz bieten hieß. Und es war auch nicht der übernatürliche Trieb der Christin, der Schmach und Verfolgung als eine Seligkeit auf sich nimmt.«

»Und was denn, Ludwig?« hauchte die junge Frau, »was denn?«

»Ein Geheimnis, wie sie es selber nennt, ein Geheimnis, das, wenn es sich löst, uns lehren wird, daß wir die Macht besitzen, auch gegen unsere Neigung das Rechte zu tun. Gewissen heißt sie, jene himmlische Macht, auf welche in erster Ordnung alles Menschliche sich gründet. Diese Frau erfüllte eine Pflicht. Sie erfüllte sie voll und ganz nach ihrer groß geschaffenen Natur. Und wenn im Laufe der Zeit der rückwirkende Segen der Liebe ihrer Tugend entquoll, so sind wir zweimal ihre Schuldigen geworden: zuerst um des Kampfes willen, welchen sie bestand, und dann um des Sieges willen, welcher sie zu unserer Mutter machte.«[361]

Ludwig Nordheim erhob sich nach diesen Worten, ergriff die Hand seiner Gattin und fuhr nach einer Pause mit warmer Bewegung fort: »Und darum, meine Hardine, ehe wir das letzte Wort aus ihrem Munde vernehmen, lege deine Rechte in die meine zu einem unverbrüchlichen Entschluß. Was diese Frau uns enthüllen oder vorenthalten wird: wir wollen es verehren als die Offenbarung einer Mutter; was sie uns heißen oder verbieten wird, wir wollen ihm gehorchen als dem Gesetz einer Mutter. Sollen wir arm und auf uns selbst gestellt in die Fremde ziehen, wir zweifeln nicht; es war die Weisheit einer Mutter, welche den Stachel der Not zu unserer Reife erkannte. Zeigt sie uns einen Pfad: wir wandeln ihn; eröffnet sie uns ein Amt: wir warten sein, stark durch den Rückblick auf sie. Endlich aber, meine Hardine: wenn unter ihrer Hand ein Bild sich entschleiern sollte, welches die Enkel verehren möchten, und vor welchem sie errötend die Augen niederschlagen, so zählen wir unser Geschlecht von dem Tage an, wo diese Frau dem losgelösten Kinde eine Freistatt in ihrem Herzen eröffnet hat; und wir wollen unsere Häupter hoch tragen, gerade darum, denn die freie Liebe einer Mutter hat sich zwischen uns und den nächtigen Schatten gestellt.«

Er schwieg. Die Gattin hatte ihre beiden Hände in seine Rechte gelegt und er hielt sie eine Weile mit kräftigem Drucke umschlossen. Es war Abend geworden, das letzte Rot verglüht, der erste Stern am Horizonte aufgestiegen, die weißen Nebelgestalten der Aue drangen immer dichter und dichter zu den dunklen Föhrenwipfeln empor. Noch einen Abschiedsblick in die Runde, dann wendeten Ludwig und Hardine sich rasch und gingen schweigend, aber mit[362] lebhafteren Schritten, als sie gekommen, dem Schlosse zu. Ohne Aufenthalt betraten sie das einfache Turmgemach, das noch unverrückt die Spuren des entschwundenen Lebens trug.

Fräulein Hardine hatte im Laufe des Sommers einem namhaften Künstler zu dem einzigen Bilde gesessen, welches von ihr existiert und welches jetzt, seiner Bestimmung gemäß, in dem Ahnensaale der Reckenburg das letzte Feld einnimmt. Von der kinderlosen Erbauerin war dieser Platz dem fürstlichen Gemahle zugedacht, um die Reihe mit einem Purpur abzuschließen. Nun weilt der Beschauer sinnend vor der schlichten Gestalt, welche der Künstler gut gemalt, aber besser noch aufgefaßt hat.

Wir haben eine lange Reihe hinter uns. Zu Anfang die nach Natur und Kunst ziemlich grobschlächtigen, ritterlichen Damen und Herren in Schaube und Barett, in Koller und Panzerhemd. Dann, zahlreich vertreten, der Kavalier und sein Gespons, in Lockenperücke und Zopf, uniformiert und besternt, Puder, Toupet und Schönpflästerchen, tanzmeisterliche Haltung und Höflingspas. Endlich die kleine Figur der Gräfin mit dem scharfen Vogelprofil, ein neunperliges Krönchen in der hochgetürmten Frisur, wie sie vor den Ruinen der alten Burg den Bauplan des neuen Schlosses in der beringten Hand entrollt.

Die Spanne fast eines Jahrhunderts liegt zwischen diesem Bilde und dem, welches die Reihe schließt. Und welches Jahrhunderts! Mit Siebenmeilenstiefeln rennt die gewaltigste Umwälzung, welche die Weltgeschichte kennt, an unserem Geiste vorüber. Der Fuß tut einen Schritt – und wir stehen vor der Gestalt Fräulein Hardines.[363]

Alle Frauen der Galerie und selber die Mehrzahl ihrer männlichen Vorgänger überragend, ist sie in einer Waldeslichtung und im Vorwärtsschreiten dargestellt, den Blick mit ruhiger Zuversicht in die Gegend gerichtet, von welcher das Licht in die Szene fällt. Schlicht gescheiteltes Haar, ein jagdgrünes Gewand, in der Hand einen Eichenzweig: so wie wir ihr täglich auf ihren Flurgängen begegnet sind. Auf der Brust als einzigen Schmuck das schwarzweiße Ordenszeichen der Befreiungsjahre.

Ist es auch nur der Lauf und Ablauf eines Geschlechts, die Gesamtheit spiegelt sich uns in diesem Einzelbilde. Unser Herz war beklommen, nun schlägt es getrost. Wir fühlen uns gemahnt an jene Menschheitspfeiler, welche, an die Grenzen zweier Zeiten gestellt, aus der alten hinaus die Brücke in eine neue schlagen, gemahnt durch das gute Bild von unserem Fräulein Hardine.

Dieses Bild war erst nach dem Tode der Dame von dem Maler abgeliefert und von den Kindern mit einem Asternkranze umrahmt, für die heutige Weihestunde über dem Lehnstuhle befestigt worden, auf welchem die Teure den letzten Atemzug ausgehaucht hatte.

Dem Bilde gegenüber nahmen sie ihren Platz vor dem altväterlichen Eichentische, auf welchem die Bibel bei dem achten Kapitel des Römerbriefes aufgeschlagen geblieben war. Hardine zündete die Kerzen an und legte ihre zitternde Hand in die ihres Gatten.

Nach einem tiefen Atemzuge löste er die Siegel des Schriftstückes, und ohne Unterbrechung, als die eines liebreichen Blickes auf die still weinende Frau oder auf das Bild in der Höh, las er den Inhalt, den wir dem Leser vorausgegeben haben bis zu dem Tode des Invaliden.[364]

Das Geheimnis der Vergangenheit war enthüllt, dem Geiste nach so, wie Ludwig Nordheim es der Gattin vorausgekündigt hatte. Nur wenige Blätter blieben noch in seiner Hand; er ahnte, daß sie das Gesetz für ihre Zukunft enthalten müßten, und nach einer langen, langen Pause las er den letzten Abschnitt von der Geschichte der seltenen Frau.[365]

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 1, Leipzig 1918, S. 344-366.
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