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Beim Sturm auf das Danewerk wurde Dezimus durch den Arm geschossen, was nicht leicht von einem Menschen für einen besonders glückhaften Aufschritt zur Mannesstufe erachtet werden wird und von ihm selber am wenigsten dafür erachtet worden ist, während, mit den Augen des Historikers, will sagen des Biographen angesehen, es immerhin eine Schicksalsgunst genannt werden muß, wenn einer, der als loyaler Waffenträger gute Miene zum bösen Spiel zu machen hat, das klägliche Ende eines braven Anfangs, zu welchem er selber, soviel an ihm war, mitgewirkt, hinter der Bühne erleben darf. Alles, was Politik heißt, gehört indessen nicht zu der Geschichte eines Glücklichen jener Zeit.
Allseitig wird dahingegen es als ein Treffer anerkannt werden, daß zu den akademischen Kommilitonen, die mit ihm unter die Fahne gerufen worden waren, auch Peter Kurze als freiwilliger Assistenzarzt seines Bataillons gehörte und daß dieser treue Kumpan es war, welcher den Verwundeten nach einem rückwärts gelegenen Lazarett geleitete und ihn allda der Pflege eines nicht minder treuen und geschickten Kumpans überantwortete, der nämlich Bruder Friedens, des timiden Amerikaners.
Der arme Pechvogel war das Fieber nicht rechtzeitig los geworden, um als »Bursche« zugleich mit dem lieben Junkerchen, an das er sein ganzes gutes Herz gehängt hatte, in das Feld zu rücken. Sobald »die Laune« aber einen Tag über den gewohnten Termin ausgesetzt hatte, rückte er seinem lieben Junkerchen nach.
Schon während der Überfahrt stellte der Schütteldämon sich indessen wieder ein; mühsam und langsam schleppte er sich voran, und da war es denn wieder einmal Bruder Dezems Johannisstern, der auch dem armen Pechfriede zugute kam. Denn schauernd und klappernd, weiß wie eine[567] Wand, seines Endes gewärtig, hockte er am Chausseegraben, als das Bataillon der Universitätsstadt, den Flügelmann Frey an der Spitze, und mit ihm Hülfe in der Not, die Straße dahergezogen kam.
Freund Peter Kurze erbarmte sich des armen Teufels mit einer gehörigen Dosis Chinin, steckte ihn auf einem Trainkarren unter und erzielte an dem ersten Patienten seiner militärischen Praxis einen seiner rühmenswertesten Erfolge auch auf dem bisher wenig kultivierten Gebiete der Psychologie. Natur- und vernunftgemäß würde der vierzigjährige blöde Friede mit seinem dreitägigen Schüttelfrost zum Sturmlaufen so wenig der rechte Mann gewesen sein, wie mit der obligaten Würgenot zum Heringsfang; zum geduldigen Krankenwärter aber war er »wie gemacht«; und da bei dem eiligen Aufbruch nach langjähriger Friedenspause die Sanitätskolonne just nicht ausgiebig bestellt war, erschien Doktor Peter Kurzen, dem die Organisation eines Feldlazaretts wesentlich oblag, der blöde Friede als ein erwünschter Lückenbüßer, dem armen Pechfriede aber Doktor Peter Kurze als endlicher Pfadfinder in Fortunas Zauberreich.
Zur Zeit, als sein liebes Junkerchen, heil und munter wie jede Kreatur in ihrem Element, überschäumend von Heldenmut, allerseits wohlangesehen und wohlgelitten, mit der Zastrowschen Freischar im Vordrang nach Jütland begriffen war, saß demnach sein projektierter alter Bursche, ebenso heil und munter wie eine Kreatur in ihrem Element, ebenso heldenmütig in seinem Dienst, ebenso wohlangesehen und wohlgelitten in Doktor Peter Kurzens Lazarett, verband neben manchen anderen Wunden seines »lieben« Bruders zerschossenen Arm, legte kühlende Umschläge auf seine Stirn, wachte nachts an seinem Bett und[568] leistete, nachdem er seiner Pflege entrückt war, einem weit bedeutenderen Blessierten noch weit bedeutendere Dienste. Nach dem Waffenstillstand hat er dann seinen »lieben« Herrn – dazumal Obersten –, in dessen persönlichen Dienst er getreten war, nach seiner Garnison, der der Werbenschen Heimat zunächst gelegenen Festungsstadt, begleitet, hat alldort unwissentlich in seines »lieben« Bruders Dezimus erstem männlichen Stufenjahr eine ziemlich problematische Rolle gespielt und schließlich durch seines »lieben« Herrn, nunmehro Generals, Verwendung den Posten eines Lazarettinspektors in einer schönen Stadt am Rhein erlangt, allwo er heute noch lebt; nach langem Mißgeschick einer der Glücklichsten, deren in dieser Chronik von glücklichen Leuten Erwähnung geschah; und, was Doktor Peter Kurzens wissenschaftliche Errungenschaft bei dem Falle anbelangt, der handgreifliche Beleg, daß einem Individuum, dem der Sauerstoff der Meerluft Würgen und der der Strandluft Schütteln erweckt, der Stickstoff eines Krankenhauses die Atmosphäre ist, in der es gedeiht.
Nachdem er des Wundfiebers Herr geworden, hatte Peter Kurze des Freundes Mißgeschick an Vater Blümel gemeldet und in jenes Namen angefragt, ob während der voraussichtlich lange währenden Frist bis zu erneuter Kriegstüchtigkeit des Sohnes Assistenz im friedlichen heimischen Pfarrhause gewünscht werde. Umgehend und so diktatorisch, wie er noch keine aus Vatermunde vernommen, erhielt Dezimus die Weisung, daß solche Assistenz nicht gewünscht werde. Der Vater wirke so rüstig wie jemals in seinem Amt. Sobald er sich eines Beistandes bedürftig fühle, verspreche er, den Sohn zu rufen. Derselbe solle sich gründlich ausheilen, am ratsamsten in der kräftigenden Seeluft der Insel. Wenn er nach seiner Herstellung[569] sich arbeitsfähig fühle, ohne bereits wieder waffenfähig zu sein, hoffe der Vater, daß er, um keinenfalls mit etwas Halbem abzuschließen, die aufgeschobene Ordination nachholen, dann aber unverweilt seine frühere Lehrerstelle wieder einnehmen und, aller bindenden Verpflichtungen ledig, sich noch einmal auf sein Lieblingsstudium hin einer Selbstprüfung unterziehen werde.
Dezimus hatte seit Jahren nicht mehr an einen Wechsel des Berufes gedacht; hätte das Geschick, an das er sich gebunden fühlte, ihm aber auch diese Freiheit gestattet, nicht mit einem Sprunge würde er die Wendung vollzogen haben. Ob er sich auf der Kandidaten- oder Pfarrersstufe noch einmal zu den Füßen eines Katheders niederließ, in der Absicht, es eines Tages zu besteigen: was hätte es im Grunde verschlagen? Nur wertvolle Zeit hätte es ihm erspart. Aber Glücklichen mit seinem Pulsschlag eignet es nun einmal, allerwege reinen Tisch zu machen.
Wenn der Vater nun plötzlich die aufgegebene Perspektive wieder eröffnete, wenn er mit solcher Dringlichkeit beflissen war, den Sohn von der Heimat fernzuhalten, so hat dieser die bewegende Ursache wohl geahnet und die liebreiche Schonung tiefgerührt empfunden. Max war in die Heimat zurückgekehrt; die öffentlichen Blätter hatten es gemeldet, Privatnachrichten Freund Kurzens es bestätigt; daß aber weder des Vaters noch Lydias Briefe es erwähnten, daß Sidonie ihm gar nicht schrieb und Rose, die früher so plauderlustige, nur flüchtige Zettel über des Vaters Ergehen, das bezeichnete deutlich genug die peinvolle Stellung, welche dem Liebenden oder auch nur dem Bruder erspart werden sollte.
Ob Max von Hartenstein tatsächlich an einem der revolutionären Ausbrüche jener Zeit teilgenommen hat, ist[570] für Dezimus wenigstens niemals an den Tag gekommen. Zu denen, welche man die intellektuellen Urheber derselben nannte, hat er unbestritten gehört, und unbestritten würde die Geschichte der Stufenjahre dieses Glücklichen sehr viel spannender als die seines bescheidenen Nebenbuhlers zu lesen sein, welch ein zwiespältig interessanter, modern romantischer Zauber diesen Helden umwittern! In die Jugendgeschichte des Hirtensohnes von Werben gehört indessen lediglich, daß der gleichzeitige Erbe eines alten ritterlichen Namens und des steinreichen Bauers Johann Mehlborn, nachdem er die äußerste Schattierung republikanischer Freiheit und sozialistischer Gleichheit öffentlich vertreten hatte – wie in dem demokratischen Klub der Hauptstadt, so im Frankfurter Vorparlament, dem er sich zugesellt –, sich nicht abhalten ließ, als Kandidat für das allgemeine Parlament aufzutreten, wennschon er in seinen extremen Bestrebungen von der gemäßigten Mehrheit jener Vorversammlung überstimmt worden war.
Er tat es in seiner Heimat, wo der Kavalier mit altem Namensklang und splendider Hand leichteren Erfolg zu haben glaubte als der Volkstribun in der Hauptstadt, nahm zu diesem Zweck seinen Herrensitz von neuem in dem stattlichen Bielitz, und wohl ist es denkbar, daß der Frühling, den er dort verbrachte, dem für erregende Kontraste so Empfänglichen der genußvollste seines Lebens gewesen ist. Wie aber hätte er in irgendwelcher Stimmung und in dieser spannendsten zumal, des Reizes galanter Huldigung und weiblicher Hingabe entbehren können? Zwei schöne Frauen, beide begehrenswert, standen ihm gegenüber. Die eine liebte ihn nicht mehr, die andere – vielleicht! – noch nicht. Reiz und Reizung hier und dort. Und wenn die andere ihn vor kurzem wirklich noch nicht[571] geliebt haben sollte, war das ein Grund, daß sie jetzt ihn nicht dennoch lieben sollte? Jede Lücke der Heimatsbriefe, welche ein ahnender Sinn auszufüllen hatte, deutete auf das Glück zweier Liebenden.
Der Aufenthalt in der reinen Luft und der heuer selbst während der gewöhnlichen Badesaison ländlichen Stille der Insel hatte Dezimus körperlich gestärkt, der Verkehr mit dem trefflichen Pfarrherrn ihn geistig gefördert; und wie es in dem Schwebezustand einer körperlichen und geistigen Herstellung häufig eine mechanische Tätigkeit ist, welche das Gleichgewicht der Kräfte am sichersten wiederherstellt, so war es die Geduldsprobe des Schreibenlernens mit der linken Hand, welche gegenwärtig den Genesenden von dem schweren Zwiespalt der Zeit und dem kaum minder schweren seines persönlichen Lebens heilsam ablenkte.
Ehe er im Spätsommer die Insel verließ, um sich zum Zweck der Ordination nach der Hauptstadt seiner Provinz zu begeben, brachte ein Brief Freund Kurzens ihm sehr verspätet die Kunde, daß »der rote Hartenstein« nicht nur in der Kandidatur für das deutsche Parlament, sondern auch späterhin bei einer Nachwahl für die preußische Nationalversammlung »gründlich durchgeplumpst« sei. Zwei Kapazitäten der Gelehrtenrepublik waren aus der Urne hervorgegangen. »Rote und Schwarzweiße,« so schloß der Getreue, »schreien unisono Zeter über den unverbesserlichen deutschen Gusto für den zünftigen Zopf. Die ersteren wollen an dem heimlichen Spukedinge, das sie zur Volksseele aufgeschraubt haben, schier verzweifeln. Als ob man nicht Respekt haben müßte vor dem gesunden Augenlicht einer Nation, die bisher nicht einmal der Wahl ihrer Nachtwächter gewürdigt worden ist und nun im Handumdrehen über das Regiment eines – Notabene erst [572] nolens volens zusammenzuklei sternden – gewaltigen Reiches entscheiden soll, wenn sie sich an die einzigen hält, die sie in aller Jämmerlichkeit niemals im Stiche gelassen haben: an die Männer der Wissenschaft, an uns! Auch an dich, alter Dezem, wird einmal die Reihe kommen. An Doktor Peter Kurzen ist sie bereits gewesen. Hätte der Bruchteil jener edlen Volksseele, welcher im Werbenschen Fleisch geworden ist, den Helden des einfarbigen, zwei- oder dreifarbigen deutschen Zukunftsstaates zu stellen gehabt – beim ewigen Äskulap! Transfusion ist die Losung auch für Dame Germania! – kein anderer als jener Meister der Bluts-, staatsmännisch ausgedrückt: Stammverschmelzung, würde auf das Schild gehoben worden sein. Auf zwanzig Stimmzetteln hat sein stolzer Name geprangt; der des roten Junkers nur auf zehn, auf denen obendrein die Handschrift der kleinen Sidi unverkennbar gewesen sein soll. Im übrigen ist er, der rote Junker nämlich, wieder einmal über alle Berge.«
Diesem Briefe folgte während des Freundes Inselaufenthalt nur noch einer von Lydia, in welchem sie ihm mitteilte, daß sie am Erntedankfeste zum ersten Male und mit freudiger Überzeugung das Abendmahl aus der Hand seines Vaters zu empfangen gedenke. Wäre der Termin für seine Ordination nicht bereits festgesetzt gewesen, würde der Sohn diesen Freudentag des Greises mitgefeiert haben als einen eigenen Freudentag.
Länger als eine Woche blieb er von nun ab ohne Kunde aus der Heimat. Jener Termin war unerwartet einige Tage früher, als er ihn dorthin gemeldet hatte, anberaumt worden; spätere Briefe mochten ihn daher noch auf der Insel gesucht und nicht mehr vorgefunden haben.
Er hatte seit Monaten nur Lokalblätter zu Gesicht bekommen;[573] nun erst, im Zentrum der Provinz, erfuhr er, wie kindisch aufgeregt es auch in diesem gemütlichsten aller Landesteile, ja im unmittelbaren Umkreis von Werben zugegangen war. Hatte man es, gottlob! bis zum Blutvergießen auch nirgendwo kommen lassen, wie viele betörte Exzedenten büßten den Frevel, einen Adler abgerissen, ein Steueramt geplündert, die einberufene Landwehr aufgewiegelt zu haben, mit langjähriger Festungshaft oder im glücklichsten Fall mit der Flucht über das Meer! Und bei der Mehrzahl dieser Ausschreitungen wurde der rote Hartenstein als heimlicher Anstifter genannt. Dezimus sah in seinem einstigen Idol jetzt einen Feind; dennoch sträubte seine ganze Seele sich dagegen, ihn verantwortlich zu machen für den Jammer und das Elend, das in unzählige Familien getragen worden war. Von der Mutter eines seinen Eltern bekannten und werten Arztes, eines bis dahin unbescholtenen, gebildeten, wohlsituierten Mannes, der einen seinem letzten Zwecke nach durchaus unverständlichen Bauernaufstand angefacht hatte, wurde erzählt, daß sie sich vor Kummer die alten Augen blind geweint habe. Und alles das, was wenigstens den Vater bis auf den Herzgrund erschüttert haben mußte, hatte man dem Sohne verschwiegen. Aus Schonung – oder warum sonst?
Die bänglichste Ahnung übermannte ihn. Abgesehen von seiner Verwundung würde er schon durch den geschlossenen Waffenstillstand seiner militärischen Verpflichtung enthoben worden sein. Des Vaters Widerspruch durfte ihn nicht länger bannen. In der Nacht, die seiner Ordination folgte, brach er nach der Heimat auf. Ach, mit welch anderen Empfindungen war er nach seiner vorjährigen Prüfung in das liebe Haus zurückgekehrt! Wie öde war es darin für ihn geworden! Nichts ihm geblieben als noch[574] für etliche Wochen oder Monde die Vatertreue eines Greises und nichts für alles Verlorene ihm gegeben als – freilich das Höchste! – der Blick in Lydias hohe, reine Freundesseele.
Früh am Morgen erreichte er die Werbensche Flur. Die Ernte war eingebracht, das Leben auf den Feldern hatte aufgehört. Sobald er jedoch die Friedhofspforte erreichte, umfing ihn dichtes Drängen und Treiben. Er brauchte nicht zu fragen, was es bedeute. Neben dem Hügel der Mutter, die er geliebt hatte, war eine Grube ausgehöhlt. Er erreichte das Haus nur noch zu rechter Zeit, um die treueste Segenshand zum letzten Male zu küssen, den Deckel auf den Sarg seines Vaters zu heben und dann den Friedensspruch über sein Grab zu sprechen.
Erst durch die Kanzelrede des Pfarrers von Bielitz erfuhr er den wunderherrlichen Ausgang dieses teueren Lebens. Niemand hatte ihn, seitdem der Greis die winterliche Abspannung so glücklich überwunden, in dieser Kürze vorausgesehen. Rüstig wartete er seines Amtes, hielt mit der unerschöpflichen Fülle seiner Liebe den schwersten Gemütsprüfungen stand. Am Sonnabend morgen befiel ihn plötzlich eine Ohnmacht; er erholte sich von dieser; doch mag er das nahende Ende vorgefühlt haben, denn er begann einen Brief mit den Worten: »Komm, mein Sohn, den Vater zu vertreten – –.« Nach diesem Satze entglitt die Feder seiner Hand; man drang in ihn, sich zu schonen, allein er bestand darauf, wie alljährlich am Erntedankfeste, das Versöhnungsmahl zuerst sich selbst aus des geistlichen Freundes Hand reichen zu lassen, dann es seiner Gemeinde auszuteilen. Und ohne Zeichen von Schwäche schritt er am Morgen zum Gotteshause, nahm erst selbst die weihende[575] Speisung und darauf in seine Hand den Kelch, um ihn der väterlich geliebten Freundin zu reichen, welche, an der Seite seiner Tochter, sich zum ersten Male in seiner Gemeinde dem Tische des Herrn nahte. Noch sprach er die Spendeformel mit sicherer Stimme, dann sank er zu Füßen des Altars nieder – entseelt.
So in Herrlichkeit mögest auch du einmal heimgehen, du Glücklicher, wenn deine Stunde gekommen ist!
Dezimus hatte bis jetzt Rosen nur flüchtig aus der Ferne gesehen, während der Grablegung unter der Gartenpforte; dann während des kirchlichen Aktes im vergitterten Pfarrstuhl; beide Male an Lydias Seite. Nun erst, nachdem alles vollbracht, fiel es ihm auf, keines der anderen Geschwister gegenwärtig zu finden, mit Ausnahme von Erikas Gatten, der aber auch unmittelbar von der Kirche zum Bahnhof eilte, da seine Frau im Kindbett lag und er nicht über Nacht vom Hause fern sein mochte. Rose hatte in der Überwältigung des Schlages die Anzeige zu machen vergessen, und als Lydia sie nachträglich erließ, war es für die entfernter Lebenden zu spät geworden, der Trauerfeier beizuwohnen.
»Die Kleine ist in einem unzurechnungsfähigen Zustande,« meinte Schwager Bauinspektor; »wohl begreiflich bei der Last, die sie sich auf das Herz geladen. Du tust mir leid, armer Bruder! Brauchst du Beistand, rechne auf uns.« Damit ging er.
Dezimus entfloh den lästigen Beileidsbezeigungen, die ihn umschwirrten. Er suchte Rosen. Im geistlichen Gemach, wo vor wenig Stunden der Sarg gestanden hatte, kniete sie vor des Vaters Stuhl, das Gesicht in ihre Hände begraben. Auf dem Schreibtisch unter dem Kruzifix lag lorbeerumkränzt das Eiserne Kreuz, das Martin von Hartenstein[576] dem Sarge des Veteranen vorangetragen hatte; daneben das Blatt mit den letzten Zügen einer zitternden Hand:
»Komm, mein Sohn, den Vater zu vertreten.«
Lange stand Dezimus unbemerkt an Rosens Seite, und als sie darauf seine Nähe spürte, starrten ihre Augen in unheimlicher Irre, als ob sie ihn nicht erkennten. Er zog sie in die Höhe; schauernd und zitternd lag sie an seinem Herzen, bis endlich ein Tränenstrom den Krampf der Seele löste. »Er hat mir nicht mehr den Kelch der Versöhnung gereicht, aber lieb hat er mich gehabt bis zum letzten,« schluchzte sie, »wird er mich auch liebhaben dort, dort, wo er nun – alles weiß?«
»Ewig!« sagte Dezimus, und dann führte er sie hinauf in das einstige Familienzimmer, unter die verdorrten Blumenstöcke und die lange abgewelkten Kränze ihrer Freudenzeit, und Hand in Hand feierten sie das Trauerfest ihrer Verwaisung. Sie sprachen nur von ihm oder schwiegen in der Erinnerung an ihn. Keine Frage über ihr gegenwärtiges Verhältnis oder das zu einem anderen wurde laut. In Dezimus' Herzen aber hallte das letzte Vaterwort wider, und dieses Wort bedeutete: »Bleib und hilf meinem liebsten Kind!«
Und daß er bleiben werde, wurde als selbstverständlich auch in beiden Gemeinden angenommen. Am Morgen hatten sie ihren alten Pastor hinausgetragen, am Nachmittag kamen sie, ihren neuen Pastor willkommen zu heißen: die Kantoren, die Schulzen, der Pächter, die großen Hofbesitzer, alle voll Preis des Abgeschiedenen, aber auch voll guten Zutrauens in den, welcher ihn ersetzen sollte; alle jedoch nebenbei mit einem Etwas auf dem Herzen, das sich befremdlich in Mienen, Achselzucken und halben Redensarten[577] kundtat und immer noch eher zu der Kondolation als zu der Gratulation zu stimmen schien. Seltsam! während der Trauerfeier war es Dezimus kaum aufgefallen, und jetzt fiel es ihm plötzlich ein: das Augenverdrehen und Kopfnicken und Schütteln und die Blicke, die nach dem vergitterten Pfarrstuhl geworfen wurden beim Erwähnen der schweren innerlichen Anfechtungen in des Greises letzten Lebenstagen. Waren die Zeitzustände gemeint, des Sohnes Verwundung – oder – was sonst?
Etwas deutlicher drückte sich der alte Thränhard aus, der bereits zu Vater Klausens Zeiten die Schulzenwürde bekleidet hatte. »Sie dauern mich, Herr Pastor; grausam dauern Sie mich,« sagte er seufzend, nachdem er eben erst schmunzelnd des Herrn Pastors grausames Glück hervorgehoben hatte, in so jungen Jahren und obendrein in seinem eignen Orte, in eine so schöne Stelle gerückt zu sein. »Und daß der ehrwürdige Herr Pflegevater in seinen alten Tagen das noch erleben mußte!«
»Was erleben?« hätte Dezimus fragen mögen, aber die Kehle war ihm zugeschnürt.
Der Emeritus Beyfuß, als Respektsperson aus Bakelzeiten und als wandelnde Glocke der Gemeinde, glaubte noch weniger ein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen. »Danken Sie Ihrem Schöpfer, Herr Pastor, daß Sie noch so mit einem blauen Auge davongekommen sind,« meinte er. »Die Menschheit wird alle Tage schlechter! aber, hören Sie, sehen Sie, ich habe dem Pudelkopf sein Lebtage nicht getraut. Schon da sie im kurzen Kittelchen und gestickten Höschen, Tag für Tag ein frisches Bukett im Schürzenbunde wie eine Bachstelze in meine Schulstube gewippt kam, da habe ich zu meiner Frau gesagt: ›Julchen,‹ habe ich gesagt, ›die wird ihrem Manne einmal was zu raten[578] aufgeben!‹ Na, bis zum Manne ist es – Gott sei Dank! – nicht gekommen. Aber, hören Sie, sehen Sie, Herr Pastor, wenn zweie miteinandergehen, und es geht nachhero wieder auseinander, na, das kann einer alle Tage passieren sehen. Liebesstand ist nicht Ehestand. Wenn der Liebste aber für seine Liebste sein Blut vergossen hat und es um ein Haar bis zum Aufgebote gelangt ist, und nur die Gesundheit kommt dazwischen und nachhero die Fasten und nachhero der Krieg: mir nichts, dir nichts, bloß, weil er sich Herr Baron tituliert, sich mit einem so nichtswürdigen Rebellen einzulassen, dem der heilige Ehestand ein Kinderspott ist, dem alten ehrwürdigen Papachen ein Schnippchen zu schlagen, mit dem buckligen Fräulein, das seinen leiblichen Großvater, um ihn nach Herzenslust bemopsen zu können, in alten Tagen zum Saufaus macht, unter einer Decke zu spielen, alle Abende, – na, ich will nichts weiter verraten, aber hören Sie, sehen Sie, Herr Pastor, nehmen Sie mirs nicht übel, aber da steht einem der Verstand stille.«
Die Pein der Gegenrede wurde dem armen Dezimus durch den eintretenden Martin und den Rückzug des Emeritus erspart. Seit dem Frühling in die unferne Festungsstadt versetzt, von welcher aus er mit blanker Klinge, aber gottlob! ohne Blutvergießen, die kleinen Unruhen der Umgegend hatte zerstreuen helfen, war der brave Leutnant eilend herbeigekommen, dem Veteranen die letzte Ehre zu erweisen, und hatte schon am Grabe geweint wie ein rechter Held, der sich seiner Tränen nicht zu schämen braucht. Weinend stürzte er sich auch jetzt dem Freunde in die Arme.
»Das war ein guter Mann,« schluchzte er. »Auf Ehre! der Tod meines Vaters ist mir nicht so nahe gegangen wie der seine; schon um des lieben Mädchens, deiner Rose willen. Aber sie soll gerächt werden, als ob sie meine leibliche[579] Schwester wäre. Du darfst es nicht, weil du ein Geistlicher bist, und dir nimmt es am Ende auch kein Mensch übel, wenn du ihn nicht forderst. Du bist ja kein Offizier, nicht einmal bei der Landwehr. Aber ich, ich! Verlaß dich auf mich! Wie lange dürstet mich schon nach dieses Halunken Blut! Du denkst gewiß wegen Lydias. Aber nein, Dezimus, nein. Lydias wegen tut er mir eher leid. Es ist gewiß nicht leicht, mit ihr auszukommen; sie will zu hoch mit allen Menschen hinaus, und am Ende ist sie es doch gewesen, die ihm den Laufpaß gegeben hat. Ich habe in der Geschichte niemals ganz klar gesehen. Aber unseren alten Namen so schmählich in den Kot zu treten! ›Der rote Hartenstein‹ wird er in den nobelen Zeitungen geschimpft, und die Lumpenblättchen heben den roten Hartenstein in den Himmel.«
»Wo ist Max?« unterbrach ihn Dezimus, dem wahrlich die Geduld, zuzuhören in dieser Stunde, herzlich schwer ankam.
»Ja, wenn ichs wüßte, Freund! Seitdem der Cavaignac mit dem Pariser Plebs reinen Tisch gemacht hat, scheint es ihm in Bielitz nicht mehr recht geheuer vorgekommen zu sein. Wo es aber einberufene Landwehren aufzuhetzen, ein Zeughaus zu plündern gibt und dergleichen, da wird der rote Hartenstein gewiß nicht weit um die Ecke stehen. Es heißt, sie fahnden auf ihn. Und wenn sie ihn faßten! Es wäre schauderhaft! Ein Hartenstein im Zuchthaus Wolle haspelnd wegen Hochverrats! Eher schieße ich ihn nieder. Einmal dachte ich schon ganz gewiß, ich hätte ihn am Kragen. Es war bei dem sogenannten Doktorputsch; du wirst wohl von ihm gehört haben. So ein Pflasterkasten! Was meinst du, Dezimus, wenn am Ende Peter Kurze auch noch anfinge, die Republik auszurufen! Aber dieses Hartensteinsche[580] Genie muß Doktor Faustens Zaubermantel in Pacht genommen haben; der Blondkopf, den ich statt seiner erwischte, war ein armer Hungerleider von Schneider.«
»Deine Voraussetzung ist eben eine irrige gewesen, Freund,« entgegnete Dezimus. »Ein so gescheiter Mensch wie dein Vetter läßt sich nicht auf derlei kindische Versuche ein.«
»Nicht, etwa nicht?« eiferte der Leutnant. »Denke doch nur an den Napoleon in Straßburg und dann noch einmal mit dem Adler in Boulogne! War der etwa auf den Kopf gefallen? Sie sagen ja, er setzt es am Ende doch noch durch! Und bedenke doch nur Maxens Wut! Von der Offiziersliste gestrichen zu werden! Ein Hartenstein! Und warum? Um ein paar lumpiger Verse willen, die kein Mensch gelesen hätte, wenn man nicht solches Wesen darum gemacht. Da kann einer freilich zum Mordbrenner werden. Ich selber, wenn ich an die Schande denke, die dadurch auf die Familie geworfen worden ist, da wendet sich mir das Eingeweide um. Ich habe seitdem auch von keinem Menschen wieder ein Gedicht gelesen, und ich danke meinem Schöpfer, daß ich kein Dichter bin. Weil Max aber einmal einer ist, hat er mir aus dem Grunde am Ende immer leid getan. Und zweitens, Dezimus, daß er sich in Röschen verliebt hat, das kann ich ihm, auf Ehre! auch nicht so übelnehmen. Sie ist dir gar zu reizend! Freilich war sie deine Braut. Aber, siehst du, dein Freund, wie ich, war Max am Ende nicht, und solche Geschichten sind schon unter leiblichen Brüdern passiert. Und wenn er ihr, sei nicht böse, lieber Junge, wenn er ihr, ich meine nur so, ein bißchen besser gefallen hat als du, das solltest du dem armen Dingelchen auch nicht so sehr zur Last legen, Freund. Ich finde dich schöner, schon weil du einen halben Kopf größer bist als Max,[581] aber – de gustibus non est disputandum, so sagen ja wohl wir Lateiner.«
Dezimus machte einen schwachen Versuch zu lächeln; der unwiderlegliche Wortführer schöpfte Atem und geriet darauf allmählich in die blutdürstige Stimmung, von der er ausgegangen war, zurück. »Aber siehst du, Dezimus,« fuhr er fort, »ein schlechter Kerl ist der Max doch. Warum heiratet er Röschen nicht? Und wenn er zehnmal den Namen Hartenstein trägt, seine Mutter war eine Mehlborn, und wer mit blutroten Demokraten auf Duzbrüderschaft steht, der kann sichs doch wahrhaftig nur zur Ehre anrechnen, wenn eine Pastorstochter ihn nimmt. Und denke ich daran, da werde ich fuchswild. Aber ich finde ihn schon noch, und wo ich ihn finde, – na, verlaß dich auf mich! Es ist wahrhaftig auch an der Zeit, daß einer von uns etwas für dich tut. Was sind wir dir nicht alles schuldig geworden! Erst beim Magister, wie ich noch ein recht dummer Junge war und du mir so geduldig nachgeholfen hast, und dann wegen Philipps, den du so klug und nobel aus der Patsche gezogen hast. Denke doch nur, im Militärwochenblatte hat er mit Ruhm erwähnt gestanden! Der Erste ist er oben auf der Schanze gewesen, zum Leutnant haben sie ihn schon gemacht! Und unsereiner muß während der Zeit in dem verdammten Festungsneste auf Wache ziehen und allerhöchstens einen verrückten Pflasterkasten mit seinem Raubgesindel, ohne einen Schuß Pulver zu tun, zu Paaren treiben. Zum Haarausraufen, sag ich dir, ist es, zum Kopfeinrennen! Könnte man am Ende aber nicht an aller Naturphilosophie zum Narren werden, wenn man erlebt, daß das größte Genie in einer Familie ihren guten Namen dermaßen an den Pranger stellt, und der verlorene Sohn der Familie bringt ihn wieder zu Ehren wie ein Held!«[582]
Nach dieser Bemerkung drückte er dem Freunde zum Abschied die Hand, da das verdammte Festungsnest nicht über Nacht einem republikanischen Handstreich ausgesetzt werden durfte, ohne daß ein Hartenstein zur Stelle gewesen wäre, um ihn abzuschlagen.
In Dezimus Freys Hirn sah es so wüst aus wie in seinem Herzen dunkel. Er hätte heute kein Wort mehr hören, keinen Menschen mehr sehen können, Rosen am wenigsten. Und wie dankte er Lydia ihr schonendes Zurückhalten! Ihm war, als müsse er vor der Reinen selbst in Gedanken sein Angesicht verbergen.
Und dann kam die Nacht; und wie der Strahl eines Springquells, der so hoch steigt, wie er tief gefallen ist, und wiederum so tief fällt, als er hoch gestiegen, so rastlos trieben Gram und Grimm in seiner Seele auf und ab.
Früh am Morgen ging er hinunter zu Sidonien. Bei seinem unerwarteten Eintritt flog eine Blutwelle über ihre abgezehrten Wangen. Sie reichten sich nicht wie sonst die Hand, sondern standen sich eine Weile schweigend wie Feinde, die sich messen, Aug in Auge gegenüber.
»Wo ist Ihr Bruder?« fragte Dezimus endlich.
»Da, wo Helden wie Sie und Ihr Freund Martin ihn nicht finden werden, falls sie Lust haben sollten, sich von ihm das Lebenslicht ausblasen zu lassen,« antwortete sie mit einem Ausdruck hämischen Zorns, der ihre klaren Züge widrig verzerrte.
In der nächsten Minute hatten sie indessen schon den gewohnten Ausdruck wiedergewonnen. Die Lippen lachten, aber die Augen blickten ernst unter einem Trauerflor. »Verzeihen Sie mir,« sagte sie ruhig. »Sie können sich nicht denken, wie es mich seit Monaten aufbringt, in jedes Tropfes und in jedes Heuchlers Mienen die Frage zu lesen:[583] Wo ist Ihr Bruder, der rote Hartenstein? Ich weiß, Sie spielen keine Rolle; ich wüßte aber auch wahrlich keine, welche zu spielen Sie ein Recht hätten.«
»Ich habe das Recht, im Namen eines Vaters, der seine Tochter unter meinem Schutze zurückgelassen hat, zu fragen, ob es lediglich ein Spiel war, welches mit dem Frieden eines Herzens und der Ehre eines Hauses getrieben worden ist, oder ob – –«
»Ist es Ihre Schutzbefohlene, die diese Frage Ihnen auf die Lippen gelegt hat?« unterbrach ihn Sidonie mit dem vorigen höhnischen Klang.
»Würde ich die Frage an Sie richten, wenn ich sie ihr nicht hätte ersparen wollen?«
»Vortrefflich! Hätten Sie ihr die Frage indessen nicht erspart, würden Sie wissen, daß sie das Spiel lediglich mit sich selbst getrieben hat.«
»Will das sagen, daß sie Ihren Bruder nicht geliebt?«
»Geliebt? Natürlich hat sie ihn geliebt.«
»Und er sie?«
»Natürlich auch das.«
»Und mit dem Vorsatz der Treue?«
Sidonie lachte. »Das ist mehr, Verehrtester, als ich anzugeben oder auch nur anzunehmen imstande bin. Entscheiden Sie daher nach eigenem Ermessen. Ist die Zeit, in die wir geraten sind, eine, in welcher ein Max an Hüttenbauen denken könnte?«
»Also ein Spiel! Hat mein Vater es geahnt?«
»Er muß doch wohl, weil er dem Amoroso schlechthin sein Haus verboten hat. Allerdings wäre es weiser gewesen, das nicht zu tun; da er es aber einmal getan, hätte sein sonst so kluges Töchterchen klüger gehandelt, wenn es nicht heimlich – –«[584]
Dezimus ließ sie den Satz nicht vollenden. »So habe ich nichts weiter zu hören,« sagte er und wendete sich zum Gehen.
Sidonie aber schritt ihm nach, legte ihre Hand auf seine Schulter und sprach: »Bleiben Sie, Dezimus! Ich habe Ihre Freundschaft verloren, vielleicht verscherzt. Indessen eine Viertelstunde könnten Sie für den Kameraden, der Ihnen einmal etwelche Rittergüter in den Schoß werfen wollte, doch füglich übrig haben, wenn nicht zu seiner Rechtfertigung, so doch Ihnen selbst vielleicht zu Rat und Hülfe. Setzen Sie sich, Dezimus. Sie sehen übernächtig aus. So. Glauben Sie mir, ich erkenne die ganze Mißlichkeit Ihrer Lage. Lassen Sie uns bedenken, wie sie zu erleichtern wäre. Ihnen die abgeschmackte und abgestandene Partie eines Freund-Gemahls im Hintergrunde des ungetreuen Liebhabers zuzumuten oder zuzutrauen, fällt mir nicht ein. Aber zu Ihrer Schutzbefohlenen in ein geschwisterliches Verhältnis, wie Sie es zwanzig Jahre lang gewohnt gewesen sind, zurückzutreten, das brächten Sie fertig, und es würde Ihren fernerweitigen gemütlichen Bedürfnissen auf die Dauer auch kaum hinderlich sein, da über kurz oder lang, ich meine aber über kurz, sich zuverlässig einer finden würde, der das just nicht bequeme Hüteramt aus Ihren Händen nähme. Und wer weiß, ob dieser eine nicht schließlich dennoch der wäre, dem Sie es heute – nun dreist heraus! – voreilig aufnötigen möchten.«
»Bei Gott im Himmel nicht!« rief Dezimus aufspringend. »Sein Opfer ihm entwinden will ich und werde ich; ihn wissen lassen, daß, wenn die bukolische Laune ihn gelegentlich wieder anfliegen sollte, heute ein anderer sein Hausrecht wahrt als der vertrauende, edle Greis, dem es so schnöde mit Füßen getreten worden ist.«[585]
»Ich glaube Ihnen,« sagte Sidonie mit einem warmen Blick.
»So ist es in Ihrer Natur, so verstehe ich Sie. Und nun geben Sie mir einmal die Hand und zwingen sich, auch den zu verstehen, dem Sie feind geworden sind. Ich meine sein Ideal. Denn auch er hegt ein Ideal, und zwar eines, das dem Ihrigen durchaus nicht schnurstracks entgegenläuft. Nur daß Sie ein Ganzer im kleinen sind, und er ist ein Halber im großen. Er hat ein mal gesagt, in jedem Menschen stecke ein Faustschicksal. Das sage ich nicht. In Menschen Ihres Schlags steckt es keineswegs. Aber in dem meines Bruders, da steckt es. Die Idee fließt aus Gott, zur Verwirklichung bietet Satanas die Hand. Meines Max Ideal ist: Freiheit für sich selbst und für alle anderen Gleichheit. Er fühlt den Widerspruch nicht einmal. Ohne Zweifel würde es ihm wie eine höchst sträfliche Beschränkung seines Freiheitsrechtes vorkommen, wenn die Tagelöhner von Bielitz und Werben, deren menschenunwürdiges Dasein ihn empört, eines Tages in seinen menschenwürdigen Salon rückten und sagten: ›Herr Bruder, nimm du einmal zur Ausgleichung unter unseren Schindeldächern fürlieb, und wir wollen uns zwischen deinen Götterbildern gütlich tun.‹ Oder: ›Das Versemachen und Redenhalten wollen wir uns bis auf weiteres selbst besorgen; greife du einmal freundlichst zu Hacke und Kelle und hilf uns, aus den Steinen dieses Schlosses, das wir niederzureißen beabsichtigen, die Häuserchen bauen, von welchen, zum Dank für deine guten Lehren, dir eines, nicht besser und nicht schlechter als die anderen, überlassen werden soll.‹ Derlei praktische Konsequenzen zieht aber ein Schwärmer nicht; oder, wenn Sie so wollen, er macht mit der Praxis den Anfang nach seiner Manier, indem er sein Geld zum[586] Fenster hinauswirft. Immer noch besser, als wenn es in Papa Mehlborns Eisentruhe verrostete. Lassen wir also sein sacré feu auslodern! Weisheit oder Torheit, jeder Mensch bedarf eines Glaubens, um dessentwillen ihm das Leben lebenswert und das Sterben sterbenswert erscheint. Die Zeit ist nicht fern, wo er nicht mehr an seine Artikel glauben und einsehen wird, daß jedes Philosophem, welches so flach ist, daß die große Menge es zu fassen vermag, dem Funken gleicht, den eine Katze aus der Herdasche auf den Heuboden trägt und daß – –. Aber Sie werden ungeduldig. Zur Sache denn. Held Martin, der mit seinem gezückten Pistol bis in meinen stillen Winkel gedrungen ist, ist ein Narr, wenn er Max zutraut, an den albernen Aufwieglungen dieser Gegend teilgenommen zu haben. Er betreibt das Geschäft en gros, hat aber nichts anderes gesagt und getan als hundert andere, auf welche zu fahnden zurzeit noch keiner Regierung eingefallen ist, lebt unangefochten in Wien, Berlin oder Frankfurt, wo der elektrische Strom sich just am anziehendsten entladet. Der Sinn steht ihm so hoch wie je; er glaubt noch hartnäckig an den Aufschwung der Bewegung und ist blind dafür, daß sie mit Riesenschritten niederwärts steigt. Wie still wird es bald geworden sein nach dem wüsten Getös! Wie still dann zeitweise auch in ihm! Alle meine Hoffnung beruht darauf, daß nach der unnatürlichen Überreizung die natürlichen Reize in ihm zur Geltung kommen; zu oberst das Idyll, das er so jählings abgebrochen hat. Sparen Sie ihm Ihre Rose bis zu diesem Wendepunkte auf. Mit ihrem rücksichtslosen Realismus, mit ihren wohlbewußt verführerischen Impulsen ist sie das Naturchen, das wie kein zweites für ihn paßt. Sie haben mir diese Taxierung schon wiederholentlich übelgenommen. Es hilft[587] aber alles nichts: eine Frau, die nicht reizen will, reizt auch nicht, und Rose hat bisher jeden Mann gereizt, und außerdem – liebt sie Max; ja, täuschen Sie sich nicht, sie liebt ihn heute noch. Die Frage ist nur, wo und wie Sie Ihren anvertrauten Schatz bis auf weiteres bergen sollen? Wären Sie nicht ihr Bräutigam gewesen, oder wären Sie wenigstens nicht ein Landpastor, sagte ich einfach: leben Sie zu zweien weiter wie bisher zu dreien. Für den Idealisten wie für die Realistin steht ja doch ein heimlicher Sozius als Schutzwehr zwischeninne. Aber Sie sind nun einmal, leider Gottes! dem Namen nach ihr Bräutigam gewesen, sind nun einmal, leider Gottes! der Hirt einer Bauernherde geworden, und wer wirken will, muß–traurig, aber unerläßlich! – sich der Borniertheit anbequemen. Keiner sähe in Rosen wieder wie einstmals Ihre Schwester; sie würde unter Achselzucken und Naserümpfen bestenfalls zu Ihrer Haushälterin herabgezogen werden, und Sie selbst ständen auf einem verlorenen Posten. Nun sagte ich am liebsten: Schicken Sie das Kind zu mir. Es wäre mir ein Trost für Auge und Herz, das kluge, holde Geschöpf um mich zu haben, und an einem Nektar, welcher die kopfhängende Seelenblume auffrischt wie die Liebfrauenmilch mein altes Väterchen, sollte es ihr nicht fehlen. Ich bin zum Schwestersein geboren, und Musik und ein voller Beutel sind für eine Rose gar sympathetische Medien. Aber da ist nun wieder einmal der liebe Bruderstolz, richtiger ausgedrückt die moralische Ranküne. Das Haus der kleinen Sidi ist dem ehrenfesten Hirtensohn zur Höhle geworden, in welcher das Drachengift ausgebrütet worden ist. Und da weiß ich denn freilich keinen besseren Rat als: bringen Sie Rosen zu der von ihren Schwestern, die materiell am behaglichsten lebt. Lange aushalten wird[588] sie es als Einschiebsel in dieser häuslichen Beschränkung nicht, dafür ist sie zu selbstherrlich gewöhnt und nicht zum geringsten verwöhnt durch den, welchen sie ihren alten Dezem nannte. Aber es handelt sich ja auch nur um ein Interim. Der eine oder der andere wird sie in die Freiheit locken, und von dem einen oder dem anderen wird sie sich locken lassen – wiederum zu einem selbstherrlichen Regiment.«
Dezimus entfloh ohne Gegenwort. Sidonie hatte Öl in die Flammen gegossen, die sie beschwichtigen wollte. Was sie mit klaren Worten ausgesprochen, mit halben ihn hatte ahnen lassen, ihre Voraussetzungen und Voraussagungen, das Ziel, nach dem sie deutete, den Weg, auf den sie ihn wies, eines wie das andere widerstand seinem innerlichsten Sinn. Nein, die Tochter Hanna und Konstantin Blümels war nicht die berechnende Buhlerin, als welche die Schwester Maxens von Hartenstein sie sah und mit eigennütziger Vorliebe sehen wollte. Mochte die Leidenschaft sie verirrt haben, bis an den Rand eines Abgrundes verirrt, sie war fähig und wert, durch die ernste Treue eines Mannes erhoben zu werden, gerettet vor sich selbst, vor den Umstrickungen eines Schwelgers und dem Geifer der Welt. Der aber, welcher, seitdem er von seinem Leben wußte, ihr als seinem nächsten Menschen angehangen hatte, war gewillt, in einem anderen Sinne als vor einem Jahr sein Herzblut mit ihr zu teilen.
Im Wirbelkampf auf und ab wogender Gedanken ging er mit heftigen Schritten den Talweg auf und ab. Oftmals hob er halb in Sehnsucht, halb in Schmerz den Blick zu Lydias Fenstern empor; er hätte ihr sagen mögen »Entscheide du!« Aber nein! Nur er allein hatte aus innerstem Gemüt in diesem Widerstreit zu entscheiden, und[589] bevor er den Spruch über seine Zukunft ihr zur Billigung vortrug, hatte er ein Wort aus einem anderen Munde als dem ihren zu vernehmen. Ihn graute vor diesem Wort, sein Fuß starrte, sooft er ihn hob, um in das Haus zurückzukehren, das jetzt das seine hieß.
Endlich entschlossen, war er bereits die ersten Weinbergsstufen hinangestiegen, als ihm mit raschen Sätzen von oben herab einer, den er am wenigsten erwartet hatte, sein Freund Kurze, entgegenkam. Dem Armen mußte die Kehle wohl jämmerlich trocken geworden sein, denn er biß erst in eine Traube, die er sich im Vorüberrennen vom Stocke riß, ehe er, die Hülsen vor sich hinblasend, dem Bergansteigenden zurief, daß er ihn aus den Pfarrfenstern habe kommen sehen, und weil er nur noch zehn Minuten verziehen dürfe, ihm entgegengesprungen sei. Er habe ihm eine Welt von Mitteilungen zu machen. Dezimus solle ihn daher auf dem Dorfwege bis zur Schenke, wo sein Pferd untergestellt sei, begleiten.
Nach einem kraftvollen, Beileid und Glückwunsch zum Amtsantritt vereinigenden Händedruck erzählte er dann, daß sein Bataillon, auf dem Rückmarsch vom Kriegsschauplatz, gestern in der Nachbarstadt einquartiert worden sei, um heute zur Verstärkung der Festungsgarnison weiterzurücken.
»Mit den Donnerwettern über unsere Retirade,« meinte er, »wollen wir den Zeitungshelden nicht ins Handwerk pfuschen. Die Ohren gellen mir davon, und die Zeit ist edel; das Schlimmste vom Schlimmen aber, daß wir wohl in den Friedensstand zurückgekehrt, aber nicht demobil gemacht worden sind. Wenn nur wenigstens nicht die Feldzulage aufhört! Na, wer weiß, ob in der Festung nicht – en passant – ein Coup zu machen ist? In unserem[590] Gelehrtennest ist der Gesundheitszustand zurzeit von kläglicher Erfreulichkeit. Man munkelte davon, daß in der Festung etwelche angenehme Cholerafälle eingeschleppt worden seien. Ist dir etwas davon zu Ohren gekommen, Alterchen?«
Dezimus verneinte, und Peter Kurze seufzte: »Schadel!« fuhr aber darauf mit natur- und vernunftgemäßer Munterkeit in seiner Welt von Mitteilungen fort.
Gleich nach dem Einmarsch sich zu einem Pfarrbesuch aufmachend, hatte er zuerst vom Schenkwirt, bei dem er abgestiegen, dann ergänzend von Freund Martin, dem er auf dem Wege nach der Pfarre begegnete, den Tod des prächtigen alten Herrn samt »allem, was drum und dran hing,« haarklein erfahren und sich darum gern von Martin bereden lassen, die Nacht, statt in dem Hause der Trübsal, auf der erprobten Sprungfedermatratze des Schlosses zuzubringen; heute morgen hatte er nun aber bereits länger als eine Stunde in Gesellschaft des armen Röschens auf den sein Filial inspizierenden, neubackenen Herrn Pfarrer gewartet.
»Das herzige Dingelchen, deine Rose!« rief er aus. »Und wie ihr die Trauer steht! Nicht einmal das Weinen entstellt sie! Mag einer in der Welt herumkommen, so weit er will, solch ein Schätzchen findet er nicht wieder. Und siehst du, alter Freund, wie ich so den verweinten, schwarzen Blitzäugelchen gegenübergesessen habe und den abgehärmten Grübchenbäckchen, die vorig Jahr noch weißer aussahen wie heute und durch Peter Kurzens Kunst doch wieder zu Rosenknöspchen aufgeblüht sind, da ist es mir wie eine Rakete durch das Hirn geschossen oder meinetwegen durch das urkräftige Pumpwerk, Herz genannt: Transfusion! probatum est! Peter Kurze wird[591] zum zweitenmal ihr Doktor werden, will sagen, unter heurigen hygienischen Umständen – ihr Gemahl! – Na, so reiße doch deine Augen nicht wie Scheuntore auf, als spräche ich chaldäisch, Pastor von einem Tag! Du nimmst sie doch nicht; denn warum? du hast sie schon einmal gehabt, und es steht geschrieben: du sollst auf ein neues Kleid nicht einen alten Lappen setzen, oder meinetwegen auch umgekehrt, keinen neuen Lappen auf ein altes Kleid. Und sie paßt zu einer Pfarrersfrau auf dem Lande auch ganz und gar nicht; dahingegen für einen Doktor mit tüchtiger Praxis, in einer munteren Stadt ist sie wie gemaust. Und ich brauche so bald als möglich eine Frau; denn da der Feldchirurgie so schnöde der Garaus gemacht worden ist, gehe ich damit um, meine Kunst vorzugsweise dem schönen Geschlechte zuzuwenden. Ein rentables Geschäft und ein angenehmes; aber einem Junggesellen fehlt der Kredit: heiraten tue ich sowieso, warum also nicht die, die mir von jeher am besten gefallen hat und heute noch am besten gefällt? Weil sie eine Liebschaft gehabt hat? Na, habe ich etwa keine Liebschaften gehabt? Ich sage dir, so eine Heilige, der das Herz nicht einmal mit dem Kopfe davongelaufen ist, so eine Vernunftsbille, kann mir gestohlen werden. Weil ein dicknäsiger Junker sie im Stiche gelassen? Nun just darum ist es an Peter Kurzen, zu zeigen, wo heute die wahre Humanität zu suchen ist. Einen Strich durch den Handel gemacht und fortan reinen Tisch gehalten. Romane müssen sein. Weit besser gelebt als gelesen. Das kurze lustige Endchen grüner Jugend um Gottes willen nicht vor der Zeit auslaufen lassen in eine altersgraue Chaussee! Im biederen deutschen Vaterlande aber spielt das Schlußkapitel am Altar. Oder etwa, weil Hinz und Kunz und Marthe und Mieke die Köpfe zusammenstecken[592] und sich Schelmenworte in die Ohren flüstern? Was fragt Peter Kurze nach Hinz und Kunz und Marthen und Mieken, außer wenn sie auf der Nase liegen und er sie wieder auf den Strumpf bringen muß. Freilich, sie ist arm wie eine Kirchmaus, und das ist allerdings ein Grund und ein sehr stichhaltiger Grund. Aber bin ich nicht im Handumdrehen und – just durch diese meine erste Kur zum Doktor Eisenbart geworden? Verstehe ich etwa keine Liquidation zu schreiben? Habe ich mir nicht bereits ein rundes Sümmchen zurückgelegt? Siehst du, Alterchen, ich habs mit diesem und jenem Goldfisch probiert; zuletzt sogar mit der kleinen, schiefen Kröte, deinem guten Kameraden. Aber, weiß der Six! keiner biß an. Na, ich habe mich an den Körben nicht lahm getragen, und heute danke ich meinem Herrgott, daß er sie mir aufgebürdet; ich mag keine Reiche, als deren untertäniger Diener ich ersterben müßte. Mich verlangt nach einem drallen, blitzäugigen Weibchen, das zu mir sagt: ›Peter Kurze, ich habe ein bißchen an Schwindel und Herzweh laboriert, aber du hast mich wieder gesund gemacht, Peter Kurze, ich danke dir!‹«
Dezimus lächelte, so wenig lächerlich ihm zumute war. »Und glaubst du im Ernst, guter Junge,« fragte er, »daß Rose Blümel dieses Habdank dir sagen kann und wird?«
»In Dreiteufels Namen, ich meine, in Gott Hymens Namen, warum sollte sie nicht?« versetzte Kurze, laut lachend zwar, aber mit dem Selbstbewußtsein, das dem Meister gestattet ist. »An der Partie, wie ich dir eben weitläufig demonstriert, ist doch vernunftgemäß nichts auszusetzen, und an der Person, na, was könnte sie an der wohl auszusetzen haben? Sieh mich doch an, altes Haus! Steht mir die Uniform nicht wie dem schmucksten Leutnant[593] von der Garde? Und wenn ich erst hoch zu Rosse unter ihrem Fenster Parade machen werde –: Zu Pferd, zu Pferd, da ist der Mann erst was wert! Nur ein bißchen Geduld; mit der Zeit pflückt man Rosen. Heute freilich, heute, – na, geradezu abgewiesen hat sie mich auch heute nicht.«
»Wie – was – du hättest heute – einen Tag, nachdem ihr Vater – –«
»Just darum heute schon. Was der Tod niedergeworfen hat, muß rasch durch das Leben wieder aufgerichtet werden.«
»Und – und – was hat sie dir geantwortet?«
»Sprich mit meinem Bruder, dem ich fortan Gehorsam schuldig bin, Peter,« hat sie gelispelt und die Augen dabei niedergeschlagen, und ich, na, ich hätte um ein Haar laut auf ihr ins Gesicht gelacht. Gehorchen ihrem alten Dezem, den sie seit zwanzig Jahren wie ein Kind seinen Hampelmann am Fädchen regiert! Da sie ihn indessen einmal abwechslungshalber zu ihrem Vormund erhoben hat, halte ich hiermit bei dieser Respektsperson kurz und bündig um ihrer Mündel zierliches Händchen an und hoffe, sie sagt ebenso kurz und bündig – –«
»Nein!« antwortete Dezimus kurz und bündig.
Peter Kurze prallte drei Schritte zurück. »Wie, – was – nein?« schrie er auf, verblüfft, wie er es vielleicht zum erstenmal im Leben war. »Nein! Nein! Höre, Dezimus, nimm mirs nicht übel, aber, beim Äskulap! du bist nicht bei Trost. Meine ich doch Wunder, aus welcher Patsche ich dich ziehe! An wen hab ich denn bei der Geschichte gedacht? Na, natur- und vernunftgemäß, in erster Hand freilich an mich selbst; und in zweiter, ebenso natur- und vernunftgemäß, an das herzige Röschen, aber zu dritt, als[594] guter Freund, doch an dich! Mein' ich doch, daß du mir vor lauter Dankbarkeit an den Hals springen wirst! Und nun rundweg: nein! Oder – solltest du etwa selber –? Na, freilich in dem Falle trete ich zurück. Das muß ich jedoch sagen, Freund: Peter Kurze ist kein Zimperling, aber eine derartige Retourkutsche wäre mehr, als Peter Kurze fertigbrächte.«
»Den Grund werde ich dir ein andermal sagen, wenn er dir bis dahin nicht von selbst klar geworden sein sollte,« versetzte Dezimus. »Sieh, da hält der Wirt schon dein Pferd bereit. Es ist hohe Zeit. Gehab dich wohl!«
Damit schlug er stracks den Pfarrweg ein.
Freund Kurze schaute ihm kopfschüttelnd nach. Dieser gelassene, mustervernünftige Kumpan! Ob er ihm nicht hätte eine Eisblase auf den Gehirnkasten verordnen sollen! Erst nach dem jener hinter der Friedhofspforte verschwunden war, schwang er, noch immer kopfschüttelnd, sich hoch zu Roß, um – ohne Fensterparade – seiner Truppe nachzusprengen.
Dezimus fand Rosen wie gestern im geistlichen Gemach, dem rechten Ort für das, was er auszusprechen hatte. Sie saß in des Vaters Stuhl, den Blick auf das lorbeerumkränzte Kreuz gerichtet, das sie wieder unter dem Rahmen befestigt hatte. »Wenn ich ein Bild von ihm hätte aus der Zeit, da wir Kinder waren, Dezimus!« sagte sie mit dem weichsten Klang, in dem er sie jemals hatte reden hören. »Nun sehe ich über dem Gekreuzigten immer nur sein liebes Haupt so, wie ich es im Sarge gesehen habe, und Tag und Nacht höre ich eine Stimme klagen: Mein Kind, mein Kind, warum hast du mir das getan?«
Dezimus setzte sich an ihre Seite und ergriff ihre Hand.[595] »Rose,« fragte er nach einer Pause, »hat der Vater um deine – deine Liebe gewußt?«
Sie neigte schweigend den Kopf.
»Und im Glauben an die – Zukunft sie – anfänglich wenigstens – gebilligt?«
»Nein!« antwortete sie mit fester Stimme. »Er hat, weil ich nicht fort von hier wollte, Sidonien und – ihm den Verkehr mit unserem Hause und noch entschiedener mir den mit dem ihren untersagt, ich aber, ich – –«
»Ich weiß das, still davon!« unterbrach sie Dezimus und saß dann, ebenso wie sie, eine lange Weile in Gedanken versunken. Ja, dieses Kind, das die Reue so tief, wie nur der Tod sie aufwühlt, hegte, das so ernsthaft Leid trug, das Kind des Mannes, dessen ganzes Leben auf Versöhnung gerichtet gewesen, es war es wert, dem Leben versöhnt zu werden mit dem höchsten Opfer, welches der Sohn dieses Mannes zu bringen imstande war.
»Rose,« hob er von neuem an, »ein mal, ein einziges Mal laß mich einen Blick bis in den Grund deines Herzens tun, und was er mir enthüllt, soll dann zwischen uns unberührt bleiben für das Leben.«
»Frage!« sagte sie mit einem Augenaufschlag so groß und entschlossen, daß auch ein Zweifelmütigerer als Dezimus an der Wahrhaftigkeit ihres Willens nicht gezweifelt haben würde.
»Nun denn,« fragte er, »du hast Max geliebt, aber hast du auch an seine Liebe geglaubt?«
»Ja, Dezimus, so fest wie er an die meine.«
»Und an seine Treue?«
»Nein. Er hat sie mir niemals versprochen, und ich habe niemals gefordert, was ich wußte, das er nicht halten würde.«[596]
»Und hast ihn dennoch geliebt?«
»Dennoch!« rief sie, und ein Strahl entzückter Erinnerung flog über ihr blasses Gesicht. »Ich liebte ihn schon damals, als ich zu stolz war, es dir und mir selber einzugestehen. Ich hatte ihn geliebt auf den ersten Blick, das heißt seit jenem Winterabend; denn vor Jahren, da war ich noch ein Kind. Und als ich ihn wiedersah, liebte ich ihn wieder. Und sähe ich ihn von neuem, ich glaube, – nein, ich weiß es, ich liebte ihn von neuem. Dezimus, Dezimus!« setzte sie mit einem Anflug schwermütiger Schelmerei hinzu, »es ist etwas an dem, was unsere litauische Lene von den Liebestränken der alten Heiden erzählt. Aber – es sind nicht die besten Menschen, die diesem Zauber verfallen, und darum wirst du, Dezimus, ihn nicht einmal begreifen.«
Er wußte genug. Er hätte ihr wie vorhin zurufen mögen: Höre auf! Sie aber fuhr unerschrocken in ihrer Beichte fort:
»Ja, Dezimus, sähe ich ihn wieder, ich liebte ihn wieder. Allein ich will ihn nicht wiedersehen, niemals wiedersehen. Ich möchte vor ihm fliehen bis an das Ende der Welt; ich möchte, daß es auch für uns Klöster gebe. Er hat mich zuviel gekostet. Zuerst dich, Dezimus, und deinen treuen Bruderglauben, und dann meinen Vater. Ach, wie viele Kinder haben denn solch einen Vater? Und er ist betrogen von mir, vielleicht voll Jammer um mich in den Himmel gegangen! Dezimus, es ist zu schön, einmal ganz glücklich gewesen zu sein! Aber alles, was ich von Freuden genossen habe, gäbe ich darum, wenn ich um meinen Vater trauern könnte reinen Herzens wie du.«
»Er war ein Friedenbringer auf Erden und hat nicht aufgehört, es zu sein,« sagte Dezimus innig bewegt. »Du wirst in Frieden um ihn trauern lernen, meine Schwester.«[597]
»Glaubst du?« rief sie sichtbar belebt. »Ja vielleicht, wenn ich eine so rechtschaffene Frau würde, wie unsere Mutter es war, und so viel Gutes täte wie sie. Und darum,« setzte sie mit niedergeschlagenen Augen hinzu, »hat Peter mit dir gesprochen, Dezimus?«
»Ja.«
»Und was hast du ihm geantwortet?«
»Nein!«
»Nein, Dezimus? Ihm genügt, was ich ihm zu geben habe.«
»Vielleicht; aber es genügt mir nicht für dich. Auch in der Liebe macht Geben seliger denn Nehmen. Du würdest ihn niemals lieben lernen, und dein Herz hat noch nicht ausgelebt, Rose.«
Er stand auf und machte ein paar Gänge durch das Zimmer. Sie blickte betreten bald zu ihm hinüber, bald in ihren Schoß. Vor ihr stehen bleibend fragte er darauf: »Würdest du jetzt noch wie einst gern und zufrieden neben mir leben können, Rose, die Schwester neben dem Bruder und die teueren Eltern im Geiste zwischen uns?«
»Neben dir,« rief sie, »bei dir, mit dir, allezeit um dich! Und so glücklich, wie ich es auf Erden noch werden könnte; vielleicht wieder ganz so glücklich wie einst!«
»So gib mir deine Hand, die Schwester dem Bruder. Wir wollen miteinander leben als die, für welche die reinste Erdenliebe uns gebildet hat.«
Sie reichte ihm die Hand, sagte jedoch dabei, anfänglich zaghaft, dann je mehr und mehr entschlossen: »Aber wir dürfen ja nicht, Dezimus, du weißt ja, der selige Vater hat es verboten, um der dummen Bauern willen verboten, damals schon, als ich noch sein schuldloses Kind war. Und[598] dann – dann, Dezimus, wenn er nun wiederkäme, der, den ich niemals wiedersehen will? Nein, Dezimus, hier darf ich nicht bleiben! Bringe mich fort von hier, wohin du willst, und wenn es zu einer der Schwestern wäre, die alle das Haus voll Kinder haben und alle bitterböse auf mich sind, weil ich mich so schmählich an dir vergangen habe, und mich alle wegen meines Leichtsinns scheel ansehen würden und nicht ein bißchen Geduld mit mir haben, wie du so viel. Und erst ihre Männer und deren Sippschaft! Schrecklich, schrecklich! Tausendmal lieber unter Stockfremde, die nichts von mir wissen. Wenn du es aber willst, Dezimus, gehe ich auch zu den Geschwistern.«
»Weder unter Fremde noch zu den Geschwistern, wir bleiben beieinander, Rose, aber – nicht hier.«
»Wo du willst, Dezimus; auf einer wüsten Insel meinetwegen, nur beieinander und nur nicht hier. Denkst du etwa noch auf die Sterne zu studieren und mich zu deiner Schwester Studentin zu machen, wie wir es uns ausgemalt haben, als – ach! als ich noch dein liebes Röschen war und du mein alter Dezem warst?«
»Nein, mein Röschen, das denke ich nicht,« entgegnete Dezimus lächelnd. »Es wäre ein weitaussehendes Brot. Ich bleibe, was ich bin, aber nicht hier. Was meinst du zu einem Tausch mit Schwester Luisens Mann? Er hat sich längst ein einträglicheres Amt ersehnt, und bei dem großen Hausstand tut es ihm not. Wir sind nur zwei, für uns reicht es zu. Ganz so freundlich wie in unserem Tal wird es freilich in der preußischen Heide nicht sein; aber es ist weit entlegen. Niemand hat uns dort gekannt; niemand wird etwas anderes in uns sehen als das, was wir von heute ab einzig wieder sind, die Geschwister des bisherigen Pfarrerpaares. Dort, in unserer lieben Eltern[599] Heimat, wirst auch du, mein Röschen, um deinen Vater in Frieden trauern lernen.«
Sie war bei den letzten Worten zu seinen Füßen niedergeglitten und bedeckte seine Hände mit Küssen und Tränen. »Dezimus, Dezimus!« schluchzte sie, »dich konnte ich aufgeben, von dir mich abwenden, um eines willen, eines – –«
»Still, still!« unterbrach er sie. »Nie wieder zwischen uns ein Wort von – dem!«
Er zog sie in die Höhe, setzte sich an ihre Seite, und ihre Hand ergreifend fuhr er fort: »Glückauf also im Heidedorf, mein Röschen! Aber der Winter kann über diesem Wechsel vergehen, und kaum wiedergefunden, möchte ich dich ungern aus den Augen verlieren. Da weiß ich denn keinen besseren Rat, als daß du die Zwischenzeit auf dem Schlosse verbrächtest, bei – Lydia.«
Er sprach den Namen sehr leise. Alles, was in seinem Entschlusse Opfer hieß, wurde mit dem Namen ja angedeutet.
Auch Rose zuckte zusammen. »Bei Lydia!« rief sie mit gerunzelter Stirn. Und nach einer Pause: »Muß es sein, Dezimus?«
»Wenn du Vertrauen zu mir hast: ja!«
»Nun denn, so will ich. Aber – aber, wird auch sie wollen, Dezimus?«
»Sie wird es,« sagte er mit Zuversicht.
Er ging zu Lydia gehobenen Hauptes, aber mit bebendem Schritt. Sie allein in dem Wandel, der sich um ihn vollzogen, hatte zu ihm gestanden in wandelloser Treue; von dieser Einzigen sich zu lösen, dünkte ihm sich lösen von seinem Stern. Auch sie erbleichte, als er ihr seinen Entschluß mitteilte; ihre Augen füllten sich mit Tränen, und lange, nachdem er ausgeredet hatte, schwieg sie noch still.[600] Dann aber sagte sie mit schöner Freude: »Ich wäre dieser Wahl für Sie vielleicht nicht fähig gewesen, Freund. Aber sie ist die würdigste, die Sie treffen konnten, und fern oder nah, wir bleiben, was wir uns geworden.«
Und als er darauf sie bat, seine Schwester in ihre Obhut zu nehmen, da stutzte sie zwar einen Augenblick, sagte aber auch dann, indem sie ihm die Hand reichte, mit Freudigkeit: »Ich werde sie zu lieben suchen so, wie Sie meinen Bruder geliebt.«
Noch von keinem Menschen war der Hirtendezem so dankbar als glückbringendes Johanniskind verehrt worden wie von Schwester Luischen und ihrem Manne bei dem Vorschlage des Ämtertausches; auch machte dieser, da Lydia als Patronin von Werben mit ihm einverstanden war, nur bei dem jenseitigen Konsistorium einige Weitläufigkeiten, und man hatte sich bis zu deren Erledigung, etwa zu Anfang des nächsten Jahres, zu allseitiger strenger Heimlichhaltung verpflichtet. War doch des ärgerlichen Geträtsches in Gemeinde und Umgegend übergenug laut geworden.
Ein Liebling der Pfarreingesessenen, wie ihre älteren Schwestern, war das neckische Röschen von jeher nur bei den besonderen Gelegenheiten gewesen, wo sie kam, einer Mieke und Marthe den kunstvoll gewundenen Brautkranz um den Zopf zu legen, oder einem Hinz und Kunz den Totenkranz auf den Sarg. Bauern lieben gesetzte Leute. Ihre rücksichtslose Leidenschaft hatte die Abneigung dann zu einem Ärgernis gemacht und der jähe Tod des Vaters das Ärgernis nahezu zu einem Mord. »Die Schande hat ihm das Herz abgedrückt,« hieß es. Nun jedoch, da man die heillose Kreatur, anstatt sich in den hintersten Weltwinkel zu verkriechen, als Gesellschafterin der unantastbaren[601] Schloßdame unter den Augen der Gemeinde weiterleben sah, dämpften die schwarzen Gesichte sich in ein zweifelhaftes Nebelgrau ab; bald vielleicht würden sie sich vollständig verzogen haben. Hatte im Jahre der Demokratie die adlige Herrschaft auch viel von ihrem Nimbus eingebüßt, so war durch Lydias aufopfernde Wirksamkeit während der kürzlichen Elendszeit nahezu ein Heiligenschein um die unsere gewoben worden; und wahre Güte wirkt ja allerwärts wie ein reinigender Quell.
Rose bezeigte sich tapfer und Lydia milde wie ein Engel. Wohl miteinander werden konnte es indessen den beiden ungleichartigen Naturen, deren Geschick sich so eigenartig in den Herzen der nächsten Menschen verschlang, keineswegs, und wohl zumute war auch keineswegs dem Freunde, der ihnen diese Prüfungszeit auferlegt hatte; wohl nicht einmal, wenn er außer ihrer Nähe war. Denn das soll keiner glauben, daß das Bewußtsein, recht zu tun um schweren Preis, uns von vornherein wie ein Johannissegen erquicke. Erst wenn die Wolken sich gelichtet haben, baut der Friedensbogen sich auf. Es waren die ersten Monate unüberwindlichen Mißmuts, die Dezimus durchlebte. Bei dem bewußten kurzen Interim konnte ihm ein Frohgefühl heimatlichen Wirkens nicht kommen; es lohnte sich kaum, Beziehungen anzuknüpfen, die sich nicht befestigen sollten, ein Samenkorn auszustreuen, dessen Aufgehen nicht einmal er gewahren durfte und von dem er nicht wußte, ob sein Nachfolger es in seinem Sinne pflegen werde. Zum ersten Male seit Jahren und stärker denn jemals wachte der alte Sternengenius in ihm auf, und in mancher schlummerlosen Nacht rang er mit dem Versucher, der ihn von der Kanzel im nordischen Heidewinkel auf die Warte des Chaldäers lockte.[602]
Dazu der Zwiespalt im Weltwesen. In ruhigen Zeiten nimmt man Exaltationen gleich denen, welche in diesem Sommerhalbjahr von Land zu Land aufloderten, nahezu für Krankheiten, über welche der Irrenarzt zu befinden hat; und diese Erinnerungen werden in beruhigten Zeiten aufgezeichnet. Gesagt sei darum nur, daß für den jungen Pfarrer von Werben dieses Halbjahr der Tat eine reifende Schule gewesen war. Er blickte jetzt nicht mehr von fern auf ein unverständliches oder gleichgültiges Treiben, er sah die Wetter über ihm brauen und unter ihm sich entladen. Nach Anlage, Erziehung und Schicksal stand er auf einer mittleren Höhe, auf der er jedoch mit aller ihm eignenden Standhaftigkeit sich behauptet haben würde. Er bedurfte, um sich frei zu fühlen, nur eines bescheidenen Raumes, aber innerhalb desselben reiner Luft und eines klaren Lichtes. Hatte nun bisher der Orkan heiß von Südwesten getobt, so erhob sich von Tage zu Tage frostiger von Nordosten her der Gegenstrom. Schweres, graues Novembergewölk trübte die kurze Tageshelle; wer mochte sagen, ob der Niederschlag noch einmal als zündendes Gewitter oder als dämpfendes Schneegestöber erfolgen werde?
Wenn nun aber schon er, der fest und mäßig Gerichtete, an einer befreienden Klärung verzweifelte, wie tief mußte Sidonie, deren Neigung und Überzeugung so weit auseinanderstrebten, unter diesen wechselnden Strömungen leiden? Er hatte sie nicht wiedergesehen, war aber zu lange ihr Freund gewesen, um nicht zu spüren, unter welchen Kämpfen sie die Skala der Widersprüche eines starken Geistes, welchen die Liebe schwach macht, durchzitterte; und bei aller innerlichen Entfremdung fehlte ihr anregendes Wesen ihm wie ein Gewürz, an welches der Gaumen sich gewöhnt hat. Sie siechte auch körperlich und verließ ihr[603] Haus nicht mehr. Dem alten Kinde, zu dessen Wärterin sie sich aufgeworfen hatte, wirkte der Göttertrank nur noch als Opiat; bei jeder Augenwende konnte der Halbschlummer in den ewigen hinübergeglitten sein; von den Menschen, mit denen die Mitteilsame im vorigen Winter so anmutend verkehrt hatte, war auch ihr nur Lydia treu geblieben, aber Lydias Gegenwart zog ihr das Herz zusammen, während die der einzigen, die es ihr flott gemacht haben würde, weil auch sie liebte, trotz allem und allem liebte, Rosens Gegenwart, ihr versagt war. Wohin Dezimus blicken mochte, in sich wie außer sich, sah er Unruhe und Mißbehagen.
Und der lange drohende, lange ersehnte Niederschlag erfolgte denn endlich auch so, wie des jungen Mädchens feinspürender Sinn ihn schon vor Monden verkündet hatte – ohne Blitzeszünden. Fast scheint es, als ob auch in der geistigen Natur die elektrische Spannung beim Nahen der winterlichen Sonnenwende nicht so mächtig ist, als wenn im Frühling Tag und Nacht sich gleichen. Die furchtbleichen Häupter richteten sich trotzig empor, die siegflammenden Wangen entfärbten sich. Viele, die wild gewesen waren, wurden zahm, manche, die zahm gewesen waren, wild; nur wenige blieben sich unerschütterlich treu; daß aber Max von Hartenstein, der Dichter und Rhetor der Revolution, zu den Getreuen seines Glaubens jetzt um so ritterlicher stehen werde, hat keiner seiner Freunde oder Feinde bezweifelt. Auch Sidonie sah in ihm jetzt einen seiner Heimat Verlorenen; sie grübelte Tag und Nacht über eine gesicherte Neugestaltung seines Lebens, hätte unverweilt sich mit ihm in der Ferne vereinigen mögen und war doch an den Schlummerstuhl des blöden Greises gefesselt. Im Schlosse von Werben glaubte man, daß Max sich in das Ausland gerettet habe.[604]
Der Schlag, der in der Hauptstadt gefallen war, zitterte in den Provinzen nur mäßig nach; in unserer Gegend war es überhaupt fast ausschließlich die Festungsstadt, als Enklave rings von erregten Kleinstaaten umgeben, in welchen die Schürungen von vornherein einen lebhafteren Anklang gefunden. Hatten doch schwarzsehende Kannegießer schon im Sommer dem sogenannten Doktorputsch eine gefährliche Wichtigkeit zugemessen, indem sie, als sein Ziel, einen Handstreich auf diesen festen Platz ausgewittert. Unbestritten gärte in der niederen Bürgerschaft ein gewisses, unruhiges Treiben, gedämpft allein durch das geschickte und energische Auftreten des kommandierenden Generals.
Da ein Teil der Besatzung der Armee in den Marken zugeteilt worden war, hatte man neuerdings zur Verstärkung der Garnison die Reservisten und jüngsten Landwehrklassen der umliegenden Bezirke einberufen, und es gehörte, wie es bei solchem schematischen Verfahren wohl zu geschehen pflegt, der Reservist Frey zu diesen Einberufenen, obgleich er als ordinierter Pfarrer von allen Mordgeschäften entbunden gewesen wäre, selbst wenn er den zum Regieren der Mordwaffen erforderlichen Arm nicht in der Binde getragen hätte. Er hatte sich seit Wochen einen Ausflug nach der Festungsstadt vorgenommen, bevor er in sein neues Amt übersiedelte; er glaubte dem redlichen Freund Kurze die Mitteilung dieser geplanten Lebenswendung schuldig zu sein, gedachte, von seinen kriegerischen Kameraden Abschied zu nehmen, Martin und seine gütige Mutter noch einmal wiederzusehen, da er ja einen wie den anderen vielleicht für immer aus den Augen verlor; vor allem aber verlangte ihn, seinem Bruder, der in der Kürze seinen »lieben Herrn«, anjetzo General, in dessen neue Garnison begleiten würde, noch einmal die Hand zu drücken. Die Einberufung beschleunigte[605] nun die Ausführung dieses Plans. Es mutete Held Dezimus plötzlich an, den Schematismus zu übergipfeln und anstatt sich schriftlich abzumelden, es persönlich an Ort und Stelle zu tun. Möglich, daß sogar eine Art von loyaler Demonstration – um ihrer Wohlfeilheit willen verschämt! – im Hintergrunde schimmerte. Die Einberufung war nirgendwo mit patriotischem Hochgefühl begrüßt worden, die gehorsame Folgeleistung des verwundeten Pfarrherrn dürfte etwa murrenden Wehrkameraden daher immerhin ein wackeres Beispiel geben. Kurz und gut, Held Dezimus war gewillt, für ein paar Tage seine Mißlaune gemütlich und patriotisch zu zerstreuen.
Als er am Nachmittag aus der Stadt, wo er die Vorkehrungen für seinen Ausflug getroffen hatte, zurückkehrte, stürzte ihm die litauische Lene, die seine Haushälterin geworden war, mit verstörten Mienen entgegen. Der »schandbare Junker« war wieder da! Ja, er hatte die Schandbarkeit so weit getrieben, um frank und frei auch auf dem diesseitigen Ufer spazieren zu gehen, am Hünengrabe vorbei, die Gartenmauer entlang, über den Gottesacker, wo er eine lange Weile vor dem frischen Hügel des alten Pfarrers still gestanden, durch das Dorf und unterhalb der Schloßterrassen bis zum Fährboot, in welchem er auf Mehlbornschen Grund zurückgekehrt war.
Die alte Lene hatte dem dazumal »scharmanten« Junker mehr als erlaubt goldene Brücken gebaut, solange sie an ihn als ihres Herzblättchens Zukünftigen geglaubt; nun er das Herzblättchen so schandbarerweise in Verruf gebracht hatte, war die Hölle nicht heiß genug für den Teufelsbraten geheizt. Auch hatte, ihrer Darstellung zufolge, der Höllenkandidat sich bereits zu einem richtigen Räuberhauptmann[606] umgemodelt, trug statt der zierlichen Locken von ehedem einen wilden Haarwuchs, statt des blonden Schnurrbärtchens auf der Oberlippe einen fuchsroten, struppigen Vollbart, und was er auf dem Leibe hatte, war der Wüstigkeit des Hauptschmuckes entsprechend. Aber die alte Lene litt an blöden Augen und nicht bloß im Traume mitunter an feindlichen Erscheinungen. Ihrem jungen Herrn wollte diese neueste Erscheinung nicht recht einleuchten. Selbst Sidonie hatte, da sie keine Kunde von ihm oder über ihn erhalten, ihren Bruder außer Landes in Sicherheit geglaubt. Sollte sie die Gefahr für ihn so wesentlich überschätzt haben? Indessen ging Dezimus die Sache doch im Kopfe herum, und so begab er sich nach dem Schlosse, sie mit den Freundinnen zu beraten.
Rose kam ihm nicht wie sonst, wenn sie seinen Schritt auf der Treppe erlauscht hatte, entgegengesprungen. Auch im Wohnzimmer saß Lydia ruhig lesend allein. Doch bestätigte sie die feindliche Erscheinung. Max war gesehen worden, zwar nicht von ihr selbst, aber von dem alten Wagner und, am entscheidendsten, von Rosen, als er, eine lange Weile am Ufer auf und ab schlendernd, sich mit etlichen begegnenden Landleuten und auch mit dem alten Fährmann unterhalten hatte; durchaus gegen seine bisherige höflich ablehnende Gewohnheit. Denn der volksfreundliche Dichter besaß die feinen, empfindlichen Sinnesnerven geistreicher Köpfe; er konnte den gemeinen Mann – selbstverständlich nur buchstäblich genommen – nicht riechen. Wo aber eine reale Antipathie der idealen Sympathie in das Gehege kommt, behält leider gewöhnlich, und nicht bloß bei für Gleichheit schwärmenden Aristokraten, die Antipathie die Oberhand.
Kein Zweifel demnach: Max wollte bemerkt sein, wollte[607] zeigen, daß er nicht so kompromittiert sei, als selbst seine Schwester angenommen, daß er sich vollkommen sicher fühle und vielleicht sogar die Absicht hege, das ländliche Herrenleben fortzuführen. Lydia konnte nicht verhehlen, daß Rosen, trotz der Herrschaft, die ihr über das bewegliche Temperament gelinge, eine starke Erregung anzuspüren gewesen sei; sie riet, das arme Kind aus der beunruhigenden Nähe zu entfernen, bis der Grund jenes geflissentlichen Gebarens sich aufgeklärt haben werde.
»Denn,« so sagte sie, in seltener Übereinstimmung mit Sidonien, »warum sollte für diesen unsteten Geist ein endliches Bedürfnis der Treue undenkbar sein? Warum sollte er nach der alle Kräfte überspannenden Aufregung in häuslicher Herzlichkeit nicht Frieden suchen und finden? Rose liebt ihn, so wie er ist, und so wie sie ist, das heißt viel charaktervoller, als ich das anmutsvolle Kind bisher beurteilt hatte, wüßte ich kein geeigneteres weibliches Wesen, um ihn nicht nur zu reizen, sondern auch dauernd zu fesseln. Für sie selbst und auch für Sie, Freund, wäre dieser Abschluß aber jedenfalls weit natürlicher als der, welchen Sie hochherzig in das Auge gefaßt haben.«
Sie schlug nun vor, daß Rose ihren Bruder auf seiner kleinen Reise begleiten und einige Zeit bei Frau von Hartenstein, die sie wiederholt freundlich zu sich eingeladen hatte, verweilen solle.
Dezimus ging in Rosens Zimmer; der Abend dämmerte. Sie lag auf dem Sofa, die Augen halb geschlossen, die Lippen halb geöffnet, die Wangen flammend wie im Fieber. »Du weißt es?« rief sie ihm entgegen und – aufgewachte Erinnerungen, aufgewachtes Verlangen, aufgewachte Hoffnung – nur nicht aufgewachte Furcht klang aus dem Vibrieren ihrer Stimme. Hatte er Lydias Vorschlag ihrer[608] Wahl anheimgeben wollen, so sprach er ihn jetzt aus als unumstößlichen Entschluß.
Sie machte jach eine abwehrende Bewegung, sann aber dann eine Weile nach und sagte endlich: »Ja, ja! bringe mich fort!« Freiwillig versprach sie auch, da die Reise erst am übernächsten Tage angetreten werden konnte, sich nicht aus dem Schlosse und Lydias Nähe zu entfernen.
Hätte Sidonie ihr Gebaren zu deuten gehabt, sie würde gesagt haben: »Es heißt hoffen, nicht verzichten. Der kleine Schlaukopf hat gelernt, wie ein Max zu fesseln ist.«
Lydia und Dezimus dahingegen sagten: »Sie kämpft gegen einen natürlichen Zauber, aber mit dem Willen, ihn zu besiegen.«
Beide hatten vielleicht recht. Im Wogen der Leidenschaft tauchen Dämonen und Genien nebeneinander in die Höh und wieder unter. In den Krisen, die sie aufwirbelt, entscheidet aber ohne Wahl ihr Erstgeborener, der Affekt.
Der folgende Tag verging ohne Behelligung und ohne Spur von dem feindlichen Zauberer. Hielt er sich zurück? Hatte er die Gegend wieder verlassen? War er – eine Phantasmagorie des Hasses und der Sehnsucht – vielleicht gar nicht dagewesen? Um nicht schlechthin in das Blaue hinein zu handeln, war Dezimus nahe daran, geradenweges Sidonien zu befragen, ob ihr Bruder die Absicht hege, sich in der Heimat niederzulassen. Nach besserem Besinnen verschob er indes die Frage bis nach seiner Rückkehr. Er gönnte unter allen Umständen der armen Rose einen zerstreuenden Wechsel, und hatte die Gefahr sich verzogen, war eine Heimholung ja leicht bewerkstelligt.
Sie fuhren ab. Rose lachte, und Dezimus lachte selbst über die Figur, welche er in seinem Reisekostüm spielte. Weil eine scharfe Luft wehte und der verbundene Arm sich[609] nicht bequemlich in den wärmenden Paletot fügen wollte, hatte er über den langen schwarzen Pfarrerrock den kurzen, bunten Soldatenmantel gehängt und dementsprechend im Coupe den hohen, steifen, schwarzen Hut mit der handlichen Feldmütze vertauscht, die er zufällig in der Tasche des Mantels fand. Zahlreiche Wehrleute füllten von Station zu Station den Zug, da der morgende Tag der der Gestellung war. Der Nachmittag war vorgerückt, bevor das Ziel erreicht ward.
Als man das dunkle Festungstor passiert hatte, fand man den Bahnhof militärisch besetzt, der umgebende Wall war mit Kanonen bepflanzt, aus dem Inneren der Stadt hörte man Schüsse fallen.
Auf dem Perron wirres Treiben und Drängen; Angst und Entsetzen krächzten wie Raben in der Luft! Eine Revolte, so hieß es, sei ausgebrochen, mit Hülfe der renitenten Landwehr die schwache Besatzung überrumpelt worden. Barrikaden, lange Zeit heimlich vorbereitet, ragten im Handumdrehen häuserhoch aufgetürmt; das Blut flösse in Strömen; der Belagerungszustand sei erklärt. Die Reisenden, welche in der Stadt hatten einkehren wollen, eilten ohne Aufenthalt weiter nach der nächsten Station; die Fremden, die in der Stadt geherbergt hatten, drängten fliehend nach den abgehenden Zügen. Sie wurden streng gemustert, und wenn sie der Legitimation entbehrten, polizeilich zurückgehalten. Der Pfarrer von Werben und seine Schwester waren die einzigen zurückbleibenden Passagiere, und da er sich weislich mit einem Paß für sich und sie versehen hatte, durften sie ungehindert sich in den Wartesaal, dem einzig gestatteten Ein-und Ausgang, verfügen, von dort aus aber ihre Schritte lenken, wohin ihnen beliebte.[610]
Zu den ungeheuerlichen Gerüchten, welche auf dem Bahnhofe gespukt hatten, stimmte indessen verwunderlich wenig die Öde der Straße, welche die Geschwister jetzt betraten. Nur aus der Ferne fiel dann und wann noch ein Schuß. Ortsfremd, wie er war, hielt Dezimus es für geraten, Rose in einem dem Bahnhofe zunächst gelegenen Gasthause unterzubringen, während er selbst über die Lage der Dinge Erkundigung einzog.
Der Wirt stand vor der Torfahrt, wie er lachend sagte, als einziger häuslicher Insasse, mit Ausnahme seiner Frau, die vor Schrecken krank zu Bett liege. Die Gäste seien entflohen, für Kellner und Mägde sei kein Halten gewesen. Die liebe Neugier habe sie samt und sonders auf den Tummelplatz des Skandals im Inneren der Stadt getrieben.
Während er die Herrschaften in das erste beste Zimmer zu ebener Erde führte, erklärte er indes zu ihrer Beruhigung die sogenannte Revolte für einen erbärmlichen Krawall und auch diesen für so gut wie unterdrückt. Nur aus Übermut werde noch hier und dort ein Gewehr abgefeuert. Die Zahl der Gefallenen auf seiten der Truppen sei kaum nennenswert, auf seiten des Pöbels leider Gottes! weit geringer als, um des guten Exempels willen, zu wünschen wäre: Die militärische Tätigkeit beschränke sich lediglich noch darauf, die Häuser nach dem Gesindel, das sich in sie geflüchtet habe, zu durchstöbern; vor allem nach den wohlbekannten Rädelsführern. »Ist es nicht wie ausgestorben?« fragte er lachend, da er »die Herrschaften« an das Fenster treten sah. »Die Vorsichtigen haben sich in ihren Wohnungen abgesperrt, die Vorwitzigen sind ausgeflogen dorthin, wo sie etwas Schreckliches zu hören und zu sehen vermuten. Im Mittelpunkte der Stadt, der in seiner Bauart an und für sich schon einem Gekröse gleicht, mag es ein[611] schönes Schieben und Drängen geben! Nichts geht dem Plebs über das Totgedrücktwerden!«
Dezimus unterbrach den mitteilsamen Herrn mit der Frage nach dem Bataillonsbureau, in dem er sich zu melden hatte. Die Straße lag, nahe erreichbar, abseiten des Gewühls. Auf die weitere Frage nach der Wohnung der Frau von Hartenstein prallte der leichtherzige Herr Wirt erschrocken zurück. Er hatte ein argloses Zutrauen zu seinem geistlich gekleideten Gaste gehegt, da Pfarrer und Hoteliers gemeinhin konservative Gesinnungsgenossen sind, – nun musterte er ihn mit den bedenklichsten Mienen.
»Von Hartenstein!« rief er, nachdem er sich physiognomisch beruhigt hatte. »Von Hartenstein, sagen der Herr? Aber das ist gerade ja der, auf welchen man, als den Urheber des Unternehmens, fahndet! Und klug und verwogen wäre der Patron schon dazu! So ein fester Stützpunkt, halben Wegs zwischen Frankfurt und Berlin, der Plan war, weiß der Deixel, nicht ohne! Wenn der Streich morgen, am Stellungstage, mit geschulten Leuten unternommen worden wäre, kein Zweifel, daß man mit Kanonen darein hätte fegen müssen, und die halbe Stadt wäre zu einem Trümmerhaufen zusammengeschossen worden. Unser Herr Kommandant läßt, Gott sei Dank! nicht mit sich spaßen. Heute ist er in Dienstgeschäften auswärts, und weil man ihn morgen wieder auf seinem Posten wußte, hat man – ein Heidenglück diese Dummheit! – die Ladung vorzeitig zum Platzen gebracht. Denn mit unserer Gassenbande allein brauchte freilich nicht viel Federlesens gemacht zu werden. Die Hauptsache ist nur, dem roten Hartenstein endlich den Garaus zu machen!«
Dezimus erklärte, daß nicht dieser Hartenstein es sei, nach dessen Wohnung er gefragt, sondern ein junger Offizier[612] vom *sten Regiment, der erst vor kurzem hierher versetzt worden sei, und da Herr Goldmann noch nicht die Ehre hatte, den Betreffenden zu kennen, entfernte er sich, das Adreßbuch herbeizuholen.
Rose hatte sich während des Wirtes Rede an eine Stuhllehne geklammert; ihre Glieder flogen, das Gesicht, das sie dem Fenster zugekehrt hielt, war schattenbleich, die Zähne schlugen wie im Fieberfrost aneinander. Dezimus suchte sie zu beruhigen, wennschon ihm selbst nichts weniger als ruhig zumute war.
»So glaube doch solcher Wirtshauskannegießerei nicht, Kind,« sagte er. »Wie wäre diesem vermeintlichen Urheber solch ein Tollmannsstreich zuzutrauen? Und wissen wir denn nicht am besten, an welchem Orte derselbe zu suchen ist?«
Der Wirt trat wieder ein. Er brachte Licht, denn es war in der Zwischenzeit dämmerig geworden, und den Wohnungsanzeiger. Der Leutnant von Hartenstein war noch nicht darin aufgenommen. Dezimus meinte, daß er sich im Bataillonsbureau nach ihm erkundigen werde, und legte, nachdem der Wirt, um nach seiner kranken Frau zu sehen, sich entschuldigend zurückgezogen hatte, sein Soldatenzeug ab. Er gedachte seine dienstliche Angelegenheit so rasch als möglich abzutun und mit Rosen heute noch heimzukehren; wenn auch leider wahrscheinlich erst mit dem Abendzuge, da der nachmittägige binnen einer halben Stunde abging. Wie verwünschte er seine loyale Demonstration!
»Nimm mich mit, Dezimus!« preßte Rose hervor, indem sie sich an seinen Arm klammerte.
»In ein Militärbureau?« entgegnete er lächelnd. »In kurzem bin ich zurück und bleibe dann bei dir, oder führe dich, wenn du es wünschest, zu Frau von Hartenstein. Soll[613] ich dir ein Zimmer im oberen Stock, wo es ruhiger ist, geben lassen?«
»Es ist ja auch hier ruhig,« versetzte sie, plötzlich gefaßt. »Ich schließe die Tür. Geh nur, geh!«
Dezimus ging. Rose öffnete das Fenster und sah ihm nach, bis er in einer Seitengasse verschwand. Es war noch Zwielicht, aber die Straßenlaternen wurden bereits angezündet. Ringsum Seelenstille. Rose zitterte noch immer. Fürchtete sie sich? O, gewiß nicht. Die kleine Rose war nicht furchtsamer Art, und was hätte sie auch für sich selbst zu fürchten gehabt? Sie zitterte für einen anderen, sie spähete nach ihm, hätte – vor ihm fliehen? – nein, hätte mit ihm fliehen, ihn retten mögen um jeden Preis. Sie dachte nur an ihn; es war, als ob sie seine Gegenwart wittere. Und doch ringsumher kein Mensch.
Plötzlich hörte sie Tritte. In der Ferne kam eine Patrouille die Straße entlang. An ihrer Spitze ein Offizier, dessen gezogenen Säbel sie im Lampenlicht blitzen sah. Sonst niemand.
Aber da – da – aus einem Quergäßchen einbiegend, eine Gestalt, – der, nach dem sie gespäht! Nicht der visionäre Räuberhauptmann mit rotem, struppigem Haar und Bart, ein elegant gekleideter Tourist, geht er raschen, aber sicheren Schrittes dicht unter ihrem Fenster hin dem Bahnhofe zu. Wenige Schritte, und das Kommando muß ihn überholen. »Max!« rief sie, »Max!«
Er blickte in die Höhe; bei der doppelten Beleuchtung von außen und innen wurde auch sie augenblicks erkannt. In der nächsten Minute stand er ihr im Zimmer gegenüber.
»Ist hier ein Ausgang nach der entgegengesetzten Seite?« fragte er ohne merkliche Aufregung, während sie[614] besonnen die Kerzen auf dem Tische ausblies und das Fenster schloß.
Das Zimmer hatte nur die Tür, durch die er eingetreten war; Rose flog, sie zu sperren. Der Riegel war eingerostet, der Schlüssel steckte von außen. Indem sie, um ihn abzuziehen, die Tür leise öffnete, prallte sie gegen den eindringenden Offizier. Martin, gottlob, Martin!
Sie war im jachen Anstoß auf der äußeren Schwelle zu Boden gestürzt; er wie ein Rasender an ihr vorüber in das Zimmer gerannt, deren Tür er hinter sich in die Angel schlug. Von draußen herein hallten die Tritte des Kommandos. Atemlos lauschte sie, auf ihren Knien liegend. Es marschierte vorüber dem Bahnhofe zu. Wie erlöst sprang sie auf, wollte in das Zimmer zurück, – da trat der Wirt aus der gegenüberliegenden Tür.
»Der Offizier der Patrouille ist in das Haus getreten,« rief er lachend; »vermutet wohl gar bei mir den roten Hartenstein? Ein dicker Irrtum, mein Herr Leutnant; im Hotel Goldmann sucht kein Verschwörer Unterkommen.«
»Es ist ein Kriegskamerad, der meinen am Fenster stehenden Bruder erkannt hat und für einen Moment bei ihm eingetreten ist,« versetzte Rose mit vollkommener Ruhe. »Ihren roten Hartenstein sollen sie übrigens, hörte ich recht, entdeckt haben. Ich kam, Sie um ein paar Streichhölzer zu bitten, Herr Wirt. Der Windzug hat uns die Lichter ausgeblasen. Und dann: ein Beefsteak für meinen Bruder. Aber, bitte, recht bald. Er hat Eile.«
Damit folgte sie dem Wirt in die jenseitige Schenkstube.
Drüben im Fremdenzimmer standen währenddessen Martin und Max sich auf Armeslänge gegenüber, der eine mit gezücktem Degen, der andere mit gespanntem Terzerol. Ein rascher Degenhieb schlug es ihm aus der Hand.[615]
»Kanaille!« schrie Martin und drang in sinnloser Wut auf seinen Verwandten ein, der ruhig wie eine Säule stand, ein zweites Terzerol ihm entgegenstreckend.
Eine Minute lang ging kein Atemzug durch den Raum, und in dieser Minute war Martin seiner Vernunft wieder so weit mächtig geworden, um zu sagen: »Spare dir den Mord, du hast genug auf dem Gewissen. Entkommen kannst du nicht; draußen steht meine Mannschaft. Aber siehst du, du heißt einmal von Hartenstein, und ich möchte doch nicht, daß ein Hartenstein als Zuchthäusler endigt. Darum warte, bis ich sie abgeführt, und dann – flieh!«
»Sobald Sie mir Genugtuung gegeben haben, werde ich tun, was mir beliebt,« entgegnete Max mit eisiger Kälte. »Dort am Boden liegt mein Pistol; die Straßenlaterne gibt hinlänglich Licht. Wählen Sie Ihren Platz. Schießen Sie.«
»Hier im Zimmer? du bist verrückt!« sagte Martin. »Mach, daß du fortkommst, mit der Person oder ohne sie. Ich habe die Wache am Bahnhof. Ich drücke meine Augen zu.« Damit wendete er sich nach der Tür.
»Nun denn,« rief der andere mit erhobener Stimme, »auf die Kanaille eine Memme! Ein Hasenfuß, der sich nicht schießt!«
Martin zitterte vor Zorn; aber der Zorn, der andere blind macht, ihn machte er klar. »Ich bin im Dienst,« sagte er, als ob er mit sich selbst überlege, doch mit lauter Stimme. »Nicht jetzt und nicht hier! Morgen in Werben – nein, nicht in Werben, der Skandal soll der Familie erspart werden. Halben Wegs zwischen dort und hier. In H. Ein stilleres Nest gibts im Winter nicht. Punkto zwölf im Mordtal jenseit der Ruine. Sekundanten brauchen wir nicht. Ich fände keinen gegen einen wie – du, und einen,[616] den du fändest, könnte ich nicht akzeptieren. Schießest du mich nieder, nun, so hast du deine Rolle würdig ausgespielt. Fällst du – –«
»Ich bitte, sich über diese Eventualität nicht zu beunruhigen,« unterbrach ihn Max mit einem Wink nach der Tür. »Auf Wiedersehen morgen um die Mittagsstunde im Mordtal jenseit der Ruine.«
Martin ging. Unter der Tür rief er noch zurück: »Höre, Max, verliere keine Zeit. Das Hotel kann jede Minute durchsucht werden. Kommts heraus, werde ich infam kassiert. Aber – du bist einmal ein Hartenstein.«
Kaum fünf Minuten waren seit der verhängnisvollen Begegnung hingegangen. Als Martin hastig die Torfahrt durchschritt, trat Rose aus dem Schenkzimmer. Erschleuderte auf »die Person« einen verächtlichen Blick; den Zeigefinger auf den lächelnden Lippen nickte sie ihm zu wie ihrem allerzärtlichsten Freund.
»Gott sei Dank, daß sie ihn haben, Herr Leutnant!« rief der Wirt, der Rosen gefolgt war.
»Wen?« fragte der Leutnant barsch.
»Den roten Hartenstein, wen denn sonst?«
Der Leutnant stürzte mit einer grimmigen Gebärde aus dem Tor.
»Unser Beefsteak, Herr Wirt, so rasch als möglich,« drängte Rose, und Herr Goldmann rannte die Treppe hinan, um seine Frau mit der Freudenpost, daß sie den roten Hartenstein hätten, wieder flott und, in Abwesenheit der Köchin, für die Bereitung des Beefsteaks fähig zu machen.
Rose zog den Schlüssel von ihrer Zimmertür, trat ein und schloß hinter sich ab. Weder sie noch Max sprach ein Wort. Sie schlang aus ihrem Trauerschal eine Binde, in[617] welche sie seinen Arm legte, stülpte ihm ihres Bruders Feldmütze auf, hängte ihm seinen Militärmantel um; dem Himmel Dank! die Pässe steckten in der Tasche. Und daß der verräterische Vollbart, den ein Pfarrer nicht zu tragen pflegt, abrasiert worden, auch das war ein Glück. Sie gab ihm seinen Hut in die Hand, so wie ihr Bruder den seinigen vorhin getragen hatte; sie dachte an jede Kleinigkeit, – nur an ihren alten Dezimus dachte sie nicht. Sie zündete sogar vor dem Fortgehen die Kerzen wieder an, damit der Wirt das Zimmer noch für besetzt halte. Das erste Signal wurde eben gegeben, als sie an Maxens Arm den Bahnhof betrat. Während sie die Billette löste, zeigte er die Pässe dem nämlichen Polizisten, welchem Dezimus sie vor noch nicht einer Stunde gezeigt hatte.
»Kurios, wie das Lampenlicht täuscht, dieser Pastor ist mir vorhin einen halben Kopf größer vorgekommen!« dachte der Polizist, während die beiden eben noch Zeit hatten, ein unbesetztes Coupé aufzufinden und zu besteigen. Der wachthabende Offizier stand, ihnen den Rücken zuwendend, am entgegengesetzten Ende des Zugs.
In der Stadt hat man noch tagelang nach dem roten Hartenstein geforscht. Niemand hat je bezweifelt, daß er der Urheber der Emeute gewesen ist, aber niemand hat auch je ergründet, wie er aus den geschlossenen Toren hat entkommen können.
Des Reservisten Frey dienstliche Meldung war so rasch, als er vorausgesetzt, erledigt worden. »Wenn Sie jemals wieder unter die Fahne berufen werden, Herr Pfarrer,« hatte sein Kommandeur lächelnd gesagt, »wird es als Feldgeistlicher zu einem ernsthafteren Kampfe als dem heutigen sein.«[618]
Er dachte nicht mehr an Bruder und Freunde, sondern nur, Rosen womöglich noch mit dem Nachmittagszuge heimzugeleiten. Als er mit Sturmesschritten das Hotel erreichte, hörte er ihn von der entgegengesetzten Seite heranbrausen; es war also noch Zeit zum Fortkommen. Hastig betrat er sein Zimmer; Rose war nicht darin, auch sein Soldatenzeug fehlte. So hatte sie sich dennoch in das obere Stock geflüchtet. Er ging in die Gaststube. Vom Perron schallte das erste Signalläuten.
»Die junge Dame hat etwas liegen lassen?« fragte der Wirt. »Warum haben Sie sie nicht ruhig hier gelassen? Ich sah oben aus dem Fenster meiner Frau, wie Sie sie nach dem Bahnhofe führten, und bemühte mich vergeblich, Ihnen zuzurufen, daß Sie es nicht nötig hätten. Der Spuk ist zu Ende, der rote Hartenstein eingefangen. Die junge Dame, – sie sprach von Ihnen als von einem Bruder, ich würde sie weit eher für Ihre Fräulein Braut gehalten haben, so zärtlich schmiegte sie sich ja an Ihren Arm, – hat mir den glücklichen Fang selbst mitgeteilt, auch schien sie nicht im entferntesten besorgt zu sein. Holen Sie sie zurück; noch ist es Zeit, oder wenn nicht, so hoffe ich, daß Sie zum wenigsten über Nacht mein Haus beehren.«
Ein grausamer Blitz der Hellsicht hatte während dieser Rede des armen Dezimus Hirn durchzuckt. Was er dem Wirt geantwortet hat, ist ihm nicht bewußt geblieben. In solchen Momenten spricht und handelt im Menschen die Maschine. Atemlos erreichte er die Rampe, die zu dem Bahnhofführte, halb besinnungslos rüttelte er an der geschlossenen Gittertür; der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt, in der nächsten Minute pfiff er durch das dunkle Festungstor. Er war zu spät gekommen, zu spät! Aber würde die Erinnerung an seine Mannesjahre die eines Glücklichen gewesen sein,[619] wenn er in der Wut des Wahnsinns den Verfolgten fünf Minuten früher unter die Augen getreten wäre?
»Du suchst deine Rose. Armer Junge, sie ist auf und davon – mit ihm!« So flüsterte Martin, der ihn bemerkt hatte und zu ihm heraus auf die Rampe getreten war, in sein Ohr.
Er zog darauf des Freundes Arm in den seinen, und während er ihn in dem rückwärts liegenden stillen Hofe auf und nieder führte, ergoß er sein aufgeregtes, übervolles Herz gewohnterweise in behaglichen Strömen.
»Siehst du, Dezimus,« sagte er, seinen Vortrag noch einmal zusammenfassend, »siehst du, du kannst dir von meiner Wut gar keine Vorstellung machen. So muß es in Spanien einem Stier zumute sein, vor dessen Augen sie in einem fort mit einem roten Lappen wedeln. Wo ich hinhörte, schimpften sie auf den roten Hartenstein, wo ich hinsah, stöberten sie nach dem roten Hartenstein; die Kerle von meiner Kompagnie glotzten oder schielten mich auf den roten Vetter Hartenstein an, und wie ich die beiden braven Jungen dicht hinter mir fallen sah, – ja, wärs auf dem Felde der Ehre gewesen, gegen einen Feind, vor dem man Respekt hat, was kann einem am Ende Schöneres passieren? aber in einem Straßenkrawall gegen solch verruchtes republikanisches Gesindel, – da hab ich mirs geschworen, daß ich ihr junges Blut an dem roten Hartenstein rächen wollte. Und wie ich ihn nun auf einmal aus dem Fleischergäßchen biegen sehe, es war beinahe schon dunkel, aber in solcher Bosheit erkennt einer einen, den er sucht, in pechrabenschwarzer Nacht, siehst du, Freund, da hätte ich ihn niederstechen mögen wie einen tollen Hund, würde Schande halber am Ende ihn aber doch haben entwischen lassen, wenn ich nicht unter der Tür auf dein Röschen gestoßen wäre. Das[620] liebe, herzige Ding entführt, verführt, zugrunde gerichtet durch den nichtswürdigen Patron, siehst du, Dezimus, da fuhr mir die Kanaille so heraus, die ein Hartenstein freilich nicht auf sich sitzen lassen kann, und wenn er zehnmal eine ist.«
Dezimus war während der langatmigen Auseinandersetzung seiner selbst so weit Herr geworden, um dem Aufgebrachten den Irrtum in betreff Rosens aufzuklären, worauf der gute Junge, plötzlich besänftigt, mit einem Seufzer sagte: »Ja, hätte ich das vorher gewußt, um so lieber hätte ich ihn entwischen lassen und ihm die Kanaille ganz gewiß erspart.«
Aber geschehen war nun einmal geschehen; einem Hartenstein durfte Satisfaktion nicht verweigert und der Hasenfuß von einem Leutnant nicht eingesteckt werden. »Und darum, alter Freund,« fuhr er fort, »es tut mir leid um dich, und es schickt sich eigentlich für einen Geistlichen auch nicht, aber einer, ein einziger muß am Ende um die Affäre doch wissen und wenigstens von weitem dabei zugegen sein. Einer von uns beiden bleibt ganz gewiß, wer weiß, am Ende bleiben wir alle zwei, und wir können in dem einödigen Walde doch nicht wie die Kadaver von angeschossenem Wild verenden und liegen bleiben? Weil aber so manches darum und daran hängt, womit du, als Vertrauensmann der Hartensteinschen Familie, dich allein befassen kannst, darf dieser eine kein anderer sein als du.«
Dezimus reichte ihm zusagend die Hand. Es würde ihm nicht beigekommen sein, diesem Hartenstein sein blutiges Vorhaben auszureden, auch wenn er selbst in dieser Stunde es für einen Frevel erachtet hätte. Er schärfte ihm nur ein, auch für einen ärztlichen Zeugen Sorge zu tragen, und verwies ihn an den zuverlässigen beiderseitigen Freund[621] Kurze. Dann aber stürmte er fort, um allein zu sein. Allein mit den tobenden Geistern der Hölle in seiner Brust, mit seinem Haß, seiner Rache, seiner Wut.
Die Tore waren gesperrt; er durfte mit seiner bösen Genossenschaft nicht hinaus in das einsame Freie. Aber auch auf den Straßen war es ja still und am stillsten da, wo es den Tag über am geräuschvollsten getost hatte. Er rannte sie auf und ab, kreuz und quer, stundenlang unter dem sternenlosen, nebelnden Novemberhimmel, über dem mit Blut bespritzten Boden. Er dachte nicht daran, daß in manchem Hause, an dem er vorüberstrich, bittere Tränen flossen, Herzen in Todesängsten schlugen. Wenn aber das Merkmal der Männlichkeit das sein sollte, daß es dem Jüngling gelingt, die Sturmgeister des Blutes wie Feinde vor sich niederzuwerfen, so ist Dezimus Frey erst in diesen nächtigen Stunden ein Mann geworden. Und ob man den Mann zum Glücklichen erkläre, weil er über jene Geister ein Sieger ward, oder zum Sieger, weil er ein Glücklicher war, sein Mannesglück wurzelte in diesen nächtigen Stunden.
Als er vor Abgang des Abendzuges nach dem Bahnhofe zurückkehrte, war der Sicherheitswächter des Tages abgelöst worden von einem, der sich über die mangelnde Legitimation nicht zufrieden geben wollte. Die blauen Augen, das blonde Haar, wenn es sich just auch nicht lockte, stimmten zu dem Signalement des roten Hartenstein; die Bürgschaft, welche der wachthabende Leutnant von Hartenstein für den ihm befreundeten Pfarrer eines Hartensteinschen Gutes übernahm, verdoppelte das Mißtrauen; der in der Binde ruhende Arm, die Totenblässe, der Angstschweiß auf seiner Stirn steigerten das Mißtrauen zum gegründeten Verdacht, und so würde der friedliche Pfarrherr von Werben, zum[622] Lohn für seine loyale Demonstration, die Nacht als roter Hartenstein in den Kasematten verbracht haben, hätte sein guter Stern nicht, zum Empfang des mit dem erwarteten Zuge zurückkehrenden Generals, seinen Kommandeur auf den Bahnhof geführt, dessen Zeugnis sich denn der bürgerliche Wächter der Sicherheit wohl oder übel beugen mußte.
Hatte auf seinem Abendgange Dezimus sich nun mit den innerlichen Sturmgeistern notdürftig auseinandergesetzt, so galt es nunmehr, während der nächtlichen Heimfahrt mit dem nüchternen Hausgeist Vernunft zu einem Ziel zu gelangen. Was sollte und wollte er zunächst? Die Flüchtigen suchen. Aber wo sie finden vor dem unseligen Geschehnis des morgenden Tages? Bei Sidonien, bei Lydia? Gewiß nicht. Die Gefahr des Entdeckt- und Aufgehaltenwerdens war in der Heimat größer als anderwärts, abgesehen von der Schwierigkeit, morgen bei hellem Tage unbemerkt den Ort des Stelldicheins zu erreichen. In dessen Nähe würden sie ohne Zweifel weilen.
Und da war denn der Zug, mit dem er fuhr, ein Eilzug, der, gegen sein Erwarten, Winters in dem stillen Badedorfe nicht anhielt. Hatte die Fahrt dem Ungeduldigen bereits eine Ewigkeit gedünkt, so mußte er nun noch bis zu der nächsten Stadt dampfen und von da aus nahezu eine Meile zu Fuß rückwärts wandern. Er kannte und liebte die Gegend, sie war ja sein Heimatstal. Wie so manchesmal hatte er singend und pfeifend die maifrischen Buchenwälder durchstreift, wenn nach einer lustigen Fahrt die Kommilitonen der nachbarlichen Universitäten auf der Ruine Pfingsten feierten; wie so manchesmal als stillvergnügter Gesell inmitten der lautvergnügten, an der Tafel des einzigen Wirtshauses im Badedorfe kommersiert! Heute ist es nebeldicke Novembernacht, der Wald,[623] dessen Saum entlang er schreitet, streckt die entlaubten Äste wie dürre Gerippenarme ihm entgegen; in diesem Walde aber soll, wenn es Mittag geworden, ein blutiges Werk vollbracht werden, an welchem er teil hat wie an einem eigensten Geschick, und wenn er an das Tor des Gasthauses klopft, geschieht es, um ein verzweifelndes Weib zu finden, das nach einer mutigen Liebestat unter Todesschauern ringt.
Aber wahrlich, selbst bis zum Verzweifeln mußte er klopfen und rütteln, bevor der Hausknecht das Tor endlich öffnete und den seltenen Wintergast mit schlaftrunkenen Augen anstarrte. Dieser forderte ein Zimmer – das er nicht betrat, einen Imbiß – den er nicht berührte. Wie verloren warf er die Frage hin, ob das Haus von Gästen stark besetzt sei? Leider war es seit Wochen nur von den Eingesessenen besetzt, eine Auskunft, die kurz darauf Herr Strobel, der Scheffelwirt, bestätigte.
Herr Strobel begrüßte den Ankömmling wie einen alten Bekannten; er hatte den Hünen der Studentenschaft in gutem Gedächtnis behalten, obschon dieser niemals mit Säbel und Sporen geklirrt, auch weniger Seidel ausgestochen hatte als der bescheidenste Knirps. Auch von seinem kriegerischen Mißgeschick und dem so früh errungenen geistlichen Amte erwies sich Herr Strobel durch das Kreisblättchen unterrichtet.
Diesem wackeren Manne band der junge geistliche Herr nunmehr das Märlein auf, welches er beiwege sich mühsam ausgediftelt hatte. Denn welche Kunst ist so schwer, daß in der Not nicht auch ein Stümper sie betreiben lernte? Aus Zufall war ihm zu Ohren gekommen, daß ein alter Schulfreund mit seiner jungen Frau auf der Hochzeitsreise in dem freundlichen Badeorte zu übernachten beabsichtigte. Der Wunsch des Wiedersehens war natürlich erwacht, aber[624] durch Amtsgeschäfte gestern nachmittag abgehalten, hatte der Pfarrer erst den Nachtzug benutzen können, um das junge Paar wenigstens noch am Frühstückstische zu begrüßen.
Leider, wie schon gesagt, war er falsch berichtet; seit Wochen weder ein junges noch altes Paar, noch selbst ein einzelnes Individuum männlichen oder weiblichen Geschlechts im Goldenen Scheffel eingekehrt, auch, wie Herr Strobel wahrheitsgemäß versichern durfte, kein zweites Logierhaus, in welches die Herrschaften sich verirrt haben konnten, im Orte vorhanden. Daß aber ein so außerordentlicher Fall, wie zur Winterszeit die Einkehr in einer Privatwohnung, nicht ohne das größte Aufsehen zu erregen, hätte vor sich gehen können, brauchte Herr Strobel kaum zu erwähnen, erwähnte es aber doch.
Sein Gast bedauerte die zwecklose nächtliche Beunruhigung. Die Freunde waren nicht im Ort: sehr natürlich! Er hatte sich plötzlich besonnen – ein tröstliches Merkmal, wie weit ein Novellist durch Übung es in der Erfindungskunst zu bringen vermag –, daß in einem unfernen Pfarrhause ein zweiter, allerdings älterer Schulfreund heimse, dem der erste ohne Zweifel sein Frauchen präsentiert haben werde; ihn alldort aufzusuchen, war der dritte nun um so lieber bereit, da er sich der Hoffnung nicht entschlagen mochte, das junge Paar zu einem Abstecher in sein eignes freundliches Pfarrhaus zu bewegen. Weil aber nach dem Frühzug bis zum Abendzug kein anderer hier im Orte anhalte, das Wetter mild sei und, wenn nur der Nebel sich senke, die Gegend sogar im Winter einen angenehmen Reiseeindruck biete, beabsichtige er eine Wagenfahrt in Vorschlag zu bringen und bäte daher Herrn Strobel, ihm für den Nachmittag seine Equipage zur Verfügung zu stellen, der zweifelhaften Witterung halber den Wagen[625] geschlossen. Bei näherer Prüfung empfahl es sich auch, den Umweg durch das Dorf zu vermeiden. Die Fußwanderung konnte die junge Frau ermüdet haben. Das Gefährt solle daher in der Mittagsstunde, aber ja recht pünktlich! auf der Landstraße bereithalten an der Stelle, wo das Mordtal, durch welches der nächste Weg nach dem Pfarrdorfe ja führe, auf jene Straße münde. Den Fahrpreis war der Mieter selbstverständlich bereit, auch wenn das Geschirr unbenutzt bliebe, zu entrichten; Weitläufigkeiten zu ersparen, sogar im voraus. Das letztere wäre nun durchaus überflüssig gewesen, der Herr Pastor hatte Kredit; es wurde schließlich aber doch mit dem Versprechen der Geduld im Fall eines Wartestündchens angenommen.
Wie der Wind jagte nunmehr der fabulierende Held von dannen auf die Suche nach seinem glücklichen jungen Paar; zunächst allerdings nicht in das Mordtal, das zum Pfarrdorfe führte, sondern stracks nach dem Bahnhofe. Er blickte durch die trüben Scheiben in das einzige Wartezimmer; der Docht einer Hängelampe kohlte, ein Kellner schlief auf zwei Stühlen ausgestreckt. Tor, der er gewesen! In diesem öffentlichen Raume ein unglückliches Paar auf der Flucht vorauszusetzen oder in diesem unheimlich öden nach einem glücklichen auf der Hochzeitsreise Kundschaft einziehen zu wollen! Jedes weitere Auskunftsuchen war überdies verdächtigend.
So machte er denn einen Gang durch die bergansteigende einzige Dorfgasse; die kleinen Häuser, vor welchen im Sommer geputzte Kindergäste sich tummelten, lagen schlummerstill; nur ein Hahn krähte hier, eine Kuh brummte dort, dann und wann brannte eine Morgenlampe; eine schwache Rauchsäule wirbelte aus dem Schornstein in den Nebel. Alles so friedlich wie daheim, und wie unfriedlich[626] mochten daheim die Herzen schlagen, wenn vielleicht schon in der Nacht die Häscher auf den feindlichen Mann gefahndet hatten, nach welchem er selbst wie betört in der Irre umherspähte.
Ja, in der Irre! Denn Schritt um Schritt war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Würde der Verfolgte hier, im nächsten Bereich der Verfolger, eine Zuflucht gesucht haben, da er von der rückwärts liegenden Station aus auf fremdem Gebiet mit weit geringerer Entdeckungsgefahr den Platz der Entscheidung erreichen konnte? Schieben sich doch in diesem Talwinkel gar mancher Herren Länderchen ineinander, deren Grenzen ein preußischer Gendarm nicht so ohne weiteres zu überschreiten wagt. Auf dem jenseitigen Ufer war er mindestens einen Tag lang geborgen, – aber die letzte Hoffnung erloschen, ihn dort vor der verhängnisvollen Stunde aufzufinden.
In dieser beklemmenden Erkenntnis hatte Dezimus die Berglehne erreicht, von welcher er manchesmal einen erquickenden Blick in das grüne Tal getan hatte. Heute lag es im ersten schwachen Morgendämmer weiß in grau. Der Nebel verdunstete in phantastischen Gebilden, die oberen Regionen klärten sich; ein leiser Reiffrost überzog die entlaubten Äste mit glitzernden Kristallen. Jenseit warf die schmale Mondsichel einen fahlen Schimmer über das schwärzliche Gemäuer der Ruine; ostwärts, da wo die Heimat lag, leuchtete noch der Morgenstern. Ein erquickendes Landschaftsbild auch heute für ein Auge, das hoffnungsfroh darauf geschaut hätte.
Und warum zuckte des Beschauers Auge, warum schlug sein Herz jählings hoffnungsfroh? Was bedeutete das Lichtchen drüben zwischen dem schwarzen Gemäuer, als daß der alte Burgschenke, der Sommers so manches Faß[627] in seinem »Verlies« verzapfte, auch nicht aus demselben gewichen wäre, und wenn ein Gletscherwall sich rings um dasselbe gezogen hätte! Wie manchen akademischen Witz über des alten Kilian Kellertreue und die romantischen Abenteuer seiner beiden einzigen Winterkumpane, Mops und Mietz, hatte Dezimus belachen hören und mit belacht. Der alte Kilian kochte seinen Morgenkaffee, weiter nichts! Und dennoch erleuchtete das Flämmchen auf dunklem Grund den Beschauer plötzlich wie eine Vision, wie ein Blinken seines treuen Johannissterns. »Dort oben, dort oben!« rief er laut auf.
Er nahm sich nicht Zeit zu dem Umwege durch das Dorf, setzte, als wäre er selbst ein Verfolgter auf der Flucht, den steilen Abhang hinunter, quer durch die Wiesen bis zum Ufer, von wo ein Kahn an den Fuß des Burgfelsens trug. Beim Übersetzen fragte er den Fährmann, ob dann und wann wohl noch ein Fremder den alten Kilian besuche? Der Fährmann hatte seit diesem Monat keinen mehr hinübergerudert.
Auf dem jenseitigen Ufer schlug Dezimus statt des sich windenden Fahrweges den steilen Fußpfad ein mit Siebenmeilenschritten und keuchender Brust. Es war licht geworden, ein leiser Lufthauch, die Nebel scheuchend, verhieß einen klaren Sonnenaufgang, einen blauen Himmel über der düsteren Tat.
Schon der Ringmauer nahe, stockte der eilende Schritt. Vom Fuß zum Gipfel war der Pfad von der Ruine aus zu übersehen; einer, der nicht entdeckt sein wollte, konnte sich längst zwischen den weitläufigen Trümmern verborgen oder von der entgegengesetzten Seite entfernt haben. Dezimus seufzte laut auf, als ob es sein Schutzgeist wäre und nicht sein Feind, der vor ihm geflüchtet.[628]
Und wirklich war er von oben bemerkt und erkannt worden, denn der alte Burgwirt stand schon auf der Lauer vor dem halbzerfallenen Tor, schwenkte seine Pudelmütze und schrie ihm das »Salve« entgegen, das er seinen Lieblingsgästen abgelauscht hatte. Dann aber schüttelte er dem Ankömmling herzhaft die Hand und rief: »Das nenne ich Glück!« (Er drückte den schönen Begriff mit einer durchaus nicht schön zu nennenden akademischen Hyperbel aus.) »Seit dem Reformationsfeste kein Gesicht und an Sankt Kathrinen ihrer zwei!«
»Ihr habt schon Gäste, Freund?« fragte Dezimus mit klopfenden Pulsen.
»Nur einen!« antwortete der Alte. »So was dergleichen wie ein Maler kommt er mir vor. Er stellte sich ein wie Nikodemus in der Nacht; von jener Seite. Aus dem Reiche, denk ich mir, denn ein Landeskind ist er nicht. ›Herr Wirt‹ und ›Hören Sie‹ hat er mich tituliert; das erste Mannsen, das wie ein geziertes Berlinsches Mamsellchen den alten Kilian per Herr und Hören Sie traktiert. Und Wein hat er sich bestellt. Bier ist für so einen zu kommun. Na, der alte Kilian kann auch mit Wein aufwarten und an Sankt Kathrinen mit schmackhafterem Wein als Bier. Er hat sich gestern abend auf einer Fußtour im Nebel verirrt und will nun den Sonnenaufgang hier oben genießen. Und dazu kanns allenfalls Rat werden, denn der Nebel ist weg. Aber gestiegen, und ohne Nieselwetter gehts heute nicht ab. Wie er Sie den Berg ransteigen sah, sagte er: ›Noch einer, der die Sonne hier oben aufgehen sehen will. Nötigen Sie ihn herein, Herr Wirt, und bringen Sie uns ein Frühbrot und Wein.‹«
Auf des Alten Erkundigung wärmte Dezimus nun die Fabel – leider war es im wesentlichen ja keine – aus[629] dem Goldenen Scheffel wieder auf, nur daß er das zweiselige Pärchen in einen ledigen Freund verwandelte; worauf der Alte schmunzelnd erwiderte: »Na, warten Sie ihn nur getrost hier oben ab. Ists ein alter Bruder Studio, geht er der Ruine nicht vorbei, und der alte Kilian schreibt in seinen Kalender: ›An Sankt Kathrinen drei Mann hoch oben auf der Burg!‹«
»Sie werden sich mit zweien begnügen müssen, Herr Wirt, der Gesuchte ist gefunden,« sagte hinter ihnen eine Stimme mit wohlbekanntem musikalischen Klang.
Max von Hartenstein war unbemerkt in den Torrahmen getreten, Dezimus Frey folgte ihm in das Verlies. Er zitterte; jener war ruhig wie ein Bild von Stein. Der alte Kilian wunderte sich, daß zwei alte Freunde, die sich suchen und finden, zum Salve sich nicht einmal die Hände schütteln. Aber einer aus dem Reich, der »Hören Sie« zum alten Kilian sagt, und ein weiland Kamel, das den Pastorrock auf dem Leibe trägt, die haben eben ihre absonderlichen Mucken.
»Sie suchen Ihre Schwester?« fragte Max.
»Zunächst allerdings sie,« antwortete Dezimus.
»Nun, sie wird, hoffe ich, gestern abend wohlbehalten im Schlosse von Werben eingetroffen sein. Wir haben uns auf der vorletzten Station getrennt.«
Es kam Dezimus nicht in den Sinn, diesem stolzen Menschen in irgendeiner Lage eine Unwahrheit zuzutrauen. Max hatte Rose berechenbar heimlich verlassen. Sie ahnete sein blutiges Vorhaben nicht. Die ganze Konstellation war verrückt.
Der Wirt hatte das Frühstück gebracht. Max entkorkte die Flasche, kostete, forderte eine zweite, bot Dezimus ein Glas, das dieser ablehnte, und trank dann selbst in[630] durstigen Zügen, ohne daß es ihn zu erregen schien. Darauf sagte er:
»Sie würden mich verbinden, Herr Pfarrer, wenn Sie dieses Blatt bis auf weiteres an sich nähmen. Es ist nicht wahrscheinlich, daß ich Werben in der Kürze wiedersehe, und das Leben kann wohlfeil werden in dieser Zeit. Für den Fall meines Todes geben Sie diese Zeilen meiner Schwester.«
Er nahm bei den Worten von dem Tische im Fenster ein Blatt Papier, faltete es und schrieb mit Bleistift »An Sidonie« darauf. »Mir fehlt eine Oblate,« setzte er hinzu. »Aber auch unverschlossen weiß ich, daß Sie vor dem genannten Termin keinen Einblick nehmen werden. Nach jenem Termin steht er Ihnen frei.«
Dezimus barg das Blatt in seiner Brieftasche. In einer späteren Zeit ist ihm der Inhalt mitgeteilt worden. Er lautete:
»Ich erwarte von meiner gütigen Schwester, daß sie ihre Freundin Rose Blümel in jedem Sinne als die rechtmäßige Witwe ihres Bruders betrachten wird.
Max.«
»Und nun wären wir wohl fertig miteinander, Herr Pfarrer,« sagte Max.
Seine frostige Ruhe, die Ironie in Miene und Klang hatten in Dezimus das Feuer der Verfolgung unter den Zweifelgrad hinabgedämpft; die Gleichgültigkeit, mit welcher er des Mädchens erwähnte, das so großmütig, die tiefste Kränkung vergessend, mit Hintenansetzung von allem, was es hochzuhalten hatte, ihn der dringendsten Gefahrentrissen, empörte ihn. Aber er dachte an dieses Mädchen und an die beiden anderen, die mit ihm um diesen Mann leiden würden, und so zwang er sich zu dem Worte, das, er wußte[631] es, in den Ohren dieses Mannes wie eine Narrenrede verhallen würde.
»Nein, Herr von Hartenstein,« sagte er, »der Zweck, um dessentwillen ich auch Sie gesucht, ist noch nicht einmal berührt.«
»Eh bien! Was möchten Sie?«
»Sie beschwören, bei allem, was Sie wert und heilig achten, von der Tat dieses Tages abzustehen.«
»Sie wissen darum?« fuhr Hartenstein auf. »Und wer noch außer Ihnen?«
»Keiner, mindestens durch mich; und, bei Gott! in keinem anderen Auftrag als dem meines Herzens habe ich – –«
»Ich weiß die Ehre zu schätzen,« unterbrach ihn Max mit einem schnöden Lächeln, »und ich sage Dank dafür, daß der eifrige Levit von mir, dem Heiden, voraussetzt, er werde eher als der gläubige Bekenner die linke Wange bieten, wenn die rechte den Streich empfangen hat.«
»Sie irren, Herr von Hartenstein. Es war nicht priesterlicher Eifer, es war einfach die Freundschaft für die Ihnen nächststehenden Menschen, die mich zu Ihnen trieb statt zu dem anderen, den ich im Bann unüberwindlicher Vorurteile befangen wußte.«
»Und was berechtigte Sie,« rief Max, indem eine Blutwoge sein marmorbleiches Gesicht überflog, »was berechtigte Sie zu der Annahme, daß ich, ich diese Vorurteile, wie Sie es nennen, nicht hege? Meinen Sie, daß ich die Sache der misera plebs, für die ich meine Existenz in die Schanze geschlagen, so verstanden habe, um im Sinne des Plebs ein Schimpfwort für ein Scherzwort zu nehmen und nicht vielmehr des Volkes Schranken so weit hinauszurücken, daß es wie wir für sein Recht und seine Ehre den Einsatz des Lebens nicht zu hoch erachte?[632] «
Dezimus blickte eine Weile betreten zu Boden; dann erwiderte er, aber kleinlauter als vorhin: »Ein ungemeines Streben in ungemeiner Zeit zieht keine Alltagskonsequenzen. Ihre Freunde, Herr von Hartenstein, werden es schwerlich verstehen und sicherlich es Ihnen nicht vergeben, wenn der Tribun sich dem Kavalier zum Opfer stellt. Retten Sie sich für die Sache, um derentwillen Sie, wie Sie sagen, Ihre Existenz in die Schanze geschlagen haben.«
»Ich habe keine Freunde, an deren Verständnis mir gelegen wäre,« entgegnete Max mit einem geringschätzigen Achselzucken, »und die Sache, die ich die meine nannte, ist über meine Lebenszeit hinaus eine verlorene. Das Volk – es bleibt bei dem Weidetier.«
»Wills Gott, nicht!« rief Dezimus. »Solange die Menschheit währt, wird der Kampf für die Menschlichkeit geführt werden, wenn auch mir anderen Waffen als den heutigen. Wollen Sie die Flinte in das Korn werfen, weil – lassen Sie mich Sie an die Stunde erinnern, in der ich den frühesten Blick in Ihre Seele getan –, weil Ihre ersten Blütenträume nicht reiften? Sie haben auf unberechenbare Jahre hinaus mit Ihrem Vaterlande gebrochen, wollen Sie mit einem Mord von ihm scheiden? Suchen Sie ein neues, ein nach freieren Satzungen bereits geordnetes, mit dem Bewußtsein einer selbstüberwindenden, einer hochherzigen Tat. Fliehen Sie, Herr von Hartenstein! Die Stunde drängt, nein, die Minute; gelüstet es Sie, in Handschellen mit Ihrer Jugend abzuschließen?«
»Seien Sie ruhig, Freund,« versetzte Max lächelnd. »Ich werde keine Handschellen tragen.«
»Sie wollen sterben, Max! Warum nicht leben? Nicht lebend sühnen, was Sie vielleicht noch nicht einmal einen[633] Irrtum nennen; was aber, nachdem der Irrtum zu einem Verhängnis geworden ist, nicht für Sie allein, Sie, wie Sie sich auch stellen mögen, als ein Frevel gemahnen wird? Der Tod scheint nur unreifen Geistern eine sühnende Tat. Leben Sie, eilen Sie. Sie haben meinen Paß; tauschen wir die Kleider; fliehen Sie nach der Insel; berufen Sie sich bei meinem Bruder auf mich. Er rudert Sie nach Helgoland. Ihre Schwester, die jede Stunde von ihrem traurigen Posten erlösen kann, wird Ihnen folgen und – –«
»Und – Rose?« fragte Max mit einem lauernden Seitenblick.
»Soweit die Macht eines Bruders über die Schwester reicht, bei Gott im Himmel! niemals!« antwortete Dezimus, und sein Ton mochte den Ernst seines Willens nicht bezweifeln lassen, denn Max reichte ihm die Hand, und über seinen Augen lag ein feuchter Nebel.
»Sie sind ein seltener Mensch, Dezimus, in Wahrheit ein Glücklicher,« sagte er mit weichem Klang. »Ich danke Ihnen, Sie haben mir den Glauben wiedergegeben, dessen letzten Rest ich gestern verloren hatte.«
»Den Glauben an die natürliche Gutheit der misera plebs?« versetzte Dezimus, und diesmal war er es, welcher lächelte. »Wahren Sie sich diesen Glauben, Herr von Hartenstein, auch wenn er in bezug auf mich sich nicht völlig zutreffend erweisen sollte. So wenig wie es der Priester war, der sich bekehrend in Ihre Nähe drängte, so wenig ist es der Sohn des armen Hutmanns Ihrer Heimat, der aus natürlichem Drang an die Kraft Ihres Gemütes appelliert. Es ist der Zögling des Mannes, dessen liebstes Kind Sie höher gehalten hat als Ehre und Herzensfrieden, obgleich es wußte, daß Ihre Neigung nur eine Wallung war. Und[634] es ist der Freund einer anderen, welcher mit dem Leben eines Bruders das des Mannes auf dem Spiele steht, dem sie einst ihr reines Herz geöffnet hatte.«
»Lydia!« rief Max. Er machte einen Gang durch das Zimmer.
Dezimus trat an das Fenster. Die Sonne war, ohne daß sie es bemerkt hatten, klar aufgestiegen, schon jedoch wieder von auf und ab wallenden Dünsten umschleiert. Der Tag würde in Regen enden, in Tränen ahnete Dezimus.
Max war an seiner Seite stehen geblieben. »Es kann nicht sein, Freund,« sagte er. »Das Blut ist stärker als die Logik Ihrer Großmut. Schon das gestrige Unternehmen, dessen unzeitige, kindische Ausführung Sie wenigstens nicht auf meine Rechnung setzen sollen, hat meinen Namen zum Spott gemacht. Soll ich nun noch unter dem Gelächter meiner Zeitgenossen aus der Arena flüchten, in die ich mit vollen Backen zum Kampf geladen habe? Ich würde vor dem gestrigen Begegnis versucht haben, nach Süddeutschland zu entkommen, wo eine nochmalige Erhebung für eine wenn auch nicht soziale, doch politische Neuerung Deutschlands nicht völlig undenkbar ist. Nach jenem Begegnis habe ich von der Hand eines beherzten Weibes, welches, wäre mir die Frist gegönnt, das meine werden würde, mich entführen lassen, nicht zu schmählicher Flucht, sondern zu einer Rettung der Ehre, dem einzig geziemenden Abschluß, der mir übrigblieb. Es muß geschehen. Aber, Freund, Lydia wird um keinen Bruder Leid zu tragen haben, und falle ich – so oder so –, mögen Sie ihr sagen, daß das Leben wenig Wert mehr für mich hatte, seit sie ihr reines Herz vor mir verschließen mußte.«
Lydia! Warum hatte Dezimus diesen teuersten Namen aufgerufen, warum die schwerste Versuchung für sich selbst[635] heraufbeschworen? Sprach sie: »Nimm die Schmach auf dich, Max, ich teile sie mit dir,« er würde sich gerettet haben für sie, um ihretwillen, vielleicht – nein gewiß.
»Schieben Sie die Tat auf, bis Lydia über sie entschieden haben wird, erwarten Sie ihre Weisung auf der Insel.« Sein Herz krampfte, während er diese Worte sprach, und seine Blicke wurzelten am Boden, während er die Antwort erwartete.
»Nein!« lautete sie nach kurzem Zögern. »Sie liebt mich nicht mehr, und ihr Mitleid ließe mich nur noch tiefer sinken, als ich mich gesunken fühle. Ist es aber möglich, so lassen Sie ihr das Schicksal dieses Tages verborgen bleiben.«
Der letzte, schwerste Versöhnungsklang war machtlos verhallt. Lydias hehres Bild vor der Seele schieden sie.
Am Bahnhofe traf Dezimus mit Martin und dem getreuen Doktor Kurze zusammen. Nachdem er bei dem beleidigten Feinde gescheitert war, machte er noch einen Versuch, den beleidigenden Freund umzustimmen; er erinnerte daran, wie dieser mit dem unantastbaren Ehrenruf, nachdem er noch gestern die Feuerprobe auf das tapferste bestanden, so viel leichter als sein allseitig und auch von ihm geschmähter Gegner die Hand zur Versöhnung bieten, ja sogar dem Zusammentreffen aus dem Wege gehen könne. Er erinnerte auch – wennschon er über diese Eventualität im Innersten beruhigt war – bei einer traurigen Möglichkeit an den Jammer seiner Mutter, an die Verwaisung seines Töchterchens, und gewiß blieb das zärtliche Vater- und Sohnesherz bei diesem Mahnen nicht ungerührt.
»Ich habe mein Testament gemacht und dich zum Vormund meiner kleinen Tili ernannt, Dezimus,« sagte er mit Tränen in den Augen. Aber es gibt nun einmal einen[636] Punkt, auf welchem auch der Schwache unbeugsam ist, und je schwächer, häufig desto mehr.
So brachen sie denn nach dem Mordtale auf, das Freund Kurze »wie seine Tasche« zu kennen versicherte. Er hatte auf einer Lichtung desselben während der pfingstlichen Burgkommerse an mancher kameradschaftlichen Paukerei mit Nadel und Heftpflaster teilgenommen, hin und wieder wohl auch mit Schläger und Rapier. Er war beileibe kein Feind von derlei Entladungen eines überschüssigen Bluts; weder im Spaß noch sogar im Ernst. Das gegenwärtige bitter ernsthafte Vorhaben erklärte er jedoch, natur- und vernunftgemäß, für einen Raptus der Absurdität.
»Denn,« so sagte er beiwege zu Freund Dezimus, während der sonst so mitteilsame Martin stillschweigend voranschritt, »denn Numero eins: Blut wäscht einen Flecken von der Ehre ab, aber Blut wehrt ihn auch ab. Gibt mir mein Bruder einen Knuff, gebe ich ihm wieder einen, und er und ich sind so gut wie vorher. Demgemäß können Brudersöhne sich schon einmal einen dummen Jungen anbrummen, ohne gleich loszuknallen. Der dumme Junge erstickt im natürlichen Blut. Numero zwei: bei jeglichem Ärgernis entscheidet die Präsenz. Müssen Kanaille und Hasenfuß gewärtig sein, Tag für Tag oder allenfalls auch nur dann und wann mit den Köpfen gegeneinander zu rennen, na, so schießen sie sich wieder zu Ehrenmännern zurecht oder meinetwegen auch tot. Wissen sie aber von vornherein, daß sowieso, selbigen Tags einer von ihnen auf Nimmerwiedersehen ins Zuchthaus transportiert wird oder bestenfalls über das Weltmeer echappiert, item, daß Kanaille und Hasenfuß quasi nicht mehr füreinander vorhandene Individuen sind, warum soll einer dem anderen[637] zuvor mit Teufelsgewalt das Lebenslicht ausblasen oder, was noch weniger angenehm sein würde, es sich von ihm ausblasen lassen? Narren sind sie alle beide, diese Hartensteine, der rote wie der blaue. Indessen, ich habe die Hoffnung, sie zu kurieren, noch nicht aufgegeben. Woran die Weisheit zuschanden geworden ist, das hat schon manchmal ein Jokus zustande gebracht. Laß mich nur machen, alter Dezem.«
Trotz dieser tröstlichen Versicherung entwarf er indessen mit der ihm eignen praktischen Umsicht das Programm für jeglichen mehr oder minder schwierigen Fall und fühlte sich, der redlichsten Teilnahme unbeschadet, durchaus con amore bei dem verzwickten Handel.
In der Waldlichtung wartete Max bereits. Er hatte als Beleidigter keine weitere Bedingung als die des gleichzeitigen Feuergebens zu stellen, eine Bedingung, welcher Martin mit einem Kopfneigen zustimmte. Dezimus drückte erst dem Freunde, dann dem Feinde die Hand; nur dem letzteren mit einem Abschiedsgefühl, und wahrlich! mit einem wehe tuenden. Dann nahm er seinen Platz außerhalb des erwählten freien Raums.
Peter Kurze dahingegen stellte sich in dessen Mitte. Er reckte sich, räusperte sich und begann darauf in seiner kommentwidrigen vierfältigen Eigenschaft als Medikus, Unparteiischer und Sekundant beider Parteien – denn der priesterliche Hüne, der sich mit mäusefahlem Angesicht dort an die alte Hagebuche lehnte, zählte lediglich für eine »geistige Natur« – recht weidlich die Narrenkappe zu schütteln und die Narrengeißel über das natur- und vernunftwidrige wie auch nebenbei brudermörderische Vorhaben zu schwingen.
Der Wahrheit die Ehre! Peter Kurzens Rede war ein[638] satirisches Musterstück, wie er kein zweites geleistet hat. Auch blickte er, nachdem er geendet, mit siegesstolzer Zuversicht von einem der feindlichen Hartensteine auf den anderen. Der Dichter lächelte; um so grimmiger schaute der Leutnant drein. Das war nicht der Mann, der sich eine bitter ernsthafte Sache von einem Bajazzo verpfuschen ließ! Da jedoch zu einer Rückwärtsbewegung, wie der Mittelsmann sie empfohlen, denn auf eine Handreichung hatte er von vornherein bescheidentlich verzichtet, weder der Lächelnde noch der Grimmige Anstalt machte, da auch von außen her kein willkommnes Hindernis in die Szene sprang, keine Feuerkugel vom Himmel fiel, kein Spaziergänger des Weges kam, kein Forsthüter, nicht einmal ein Gendarm, raunte er dem Freunde unter der Hagebuche zu: »Vor derartigem Blödsinn erbleicht sogar dein Johannisstern!«
Dann aber setzte er sich in Positur, maß die Schritte ab, reichte mit einer Verbeugung einem jeden seine Waffe, führte ihn an seinen Platz und zählte ohne Zagen: »Eins – zwei – drei!«
Die Schüsse fielen. Max, der in die Luft gefeuert hatte, brach leblos zusammen.
»Ist er tot?« schrie Martin auf. Er sah so sterbensfahl aus wie der, welcher am Boden lag. Der Doktor zuckte schweigend die Achseln.
Die Kugel war nahe der Schulter in die Brusthöhle gedrungen. Kurze legte den blutstillenden Verband an und entfernte sich darauf, um, wie verabredet, die diplomatischen Maßnahmen zu treffen, die kaum weniger als der ärztliche Dienst eines Meisters Kunst erheischten.
Er eilte nach dem Ausgang des Tales, wo der Wagen pünktlich eingetroffen war, präsentierte sich dem Kutscher als der vom Mieter erwartete Freund, der vorangegangen[639] sei, um für einen plötzlich erkrankten Begleiter einiges Erforderliche im Dorfe einzuholen. Als Ortsunkundiger bat er den Kutscher, indem er ihm ein Trinkgeld in die Hand drückte, diese Besorgungen für ihn abzutun: Wein und einen Imbiß aus dem Wirtshause, Hofmannsche Magentropfen aus der Apotheke, vom Kaufmann eine Flasche Kölnisches Wasser; kurzum, er schickte ihn von Pontius zu Pilatus, indem er versprach, in der Zwischenzeit die Leinen gewissenhaft festzuhalten. Kaum aber, daß der Mann aus der Gehörweite war, schwang Peter Kurze sich auf den Bock, um über Stock und Stein nach der Lichtung zu jagen.
Hier hatte währenddessen der Verwundete ohne Zeichen des Lebens am Boden gelegen, den Kopf an Dezimus' Brust, dessen Hand gepreßt auf den Verband der Wunde. Martin an seiner Seite kniend, küßte seine Hände, weinte wie ein Kind. »Bei Gott im Himmel!« schluchzte er, »ich habe es nicht gewollt. Ich hatte auf den Oberarm gezielt, und ich treffe das Daus in der Karte. Warum hat er auch in die Luft gefeuert und dabei gezuckt, daß ich die Brust treffen mußte. In meinem Leben kann ich dem armen Röschen nicht wieder in die Augen sehen.«
Als der Doktor mit dem Wagen zurückkehrte und den Verband erneuert hatte, wurde der Kopf des Verwundeten mit verschiedentlichen Taschentüchern umwunden, das Gesicht obendrein durch ein breites schwarzes Pflaster unkenntlich gemacht, des Pastors Feldmütze ihm über die Ohren gezogen, der Soldatenmantel ihm übergehängt und, auf diese Weise umgewandelt in Bruder Frieden, den blöden Amerikaner, der beim gestrigen Straßenkampfe in der Festung zufällig einen Schuß wegbekommen hatte, der rote Hartenstein in den Wagen gehoben.[640]
»Und nun machen Sie sich aus dem Staube!« sagte der Doktor zu Martin. »Sie haben Ihre Heldentat getan. Das Weitere ist unsere Sache!«
Martin ging. Wie einst sein Vater hatte er die Ehre der Hartenstein mit blutiger Hand gerächt. Daß er aber, wie sein Vater, deshalb ein krankes Herz durch das Leben tragen werde, wird für den Sohn nicht zu befürchten sein.
Der Verwundete ruhte in Dezimus' Armen. Freund Kurze, nachdem er sorgfältig die Gardinen geschlossen hatte, führte den Wagen Schritt für Schritt nach der Haltestelle, versprach dem Kutscher, als dieser zurückkehrte, ein doppeltes Trinkgeld, wenn er zur Schonung seines kopfleidenden guten Freundes ein gleich langsames Tempo beibehalte, und nahm dann seinem Pflegling gegenüber auf dem Rücksitze Platz.
Wie der alte Kilian prophezeit hatte, war das Wetter in einen Landregen umgeschlagen, die Dämmerung daher noch früher als sonst im Spätherbst hereingebrochen; die Straße menschenleer. Wohin nun aber mit dem vielleicht sterbenden Mann? Wo Rast für ihn suchen, selbst im günstigsten Falle lange währende, heimliche Rast? Wo die sorgsame Pflege für ihn finden, deren er unumgänglich bedurfte? Eine weite Fahrt würde er nicht überstanden haben. Selbst Werben war im Grunde zu weit. Welche Wahl blieb aber außer Werben? Auch hatten beide Freunde von Haus aus an keine andere Zuflucht als die des Talgutes gedacht. Bei näherer Überlegung mußten sie sich jedoch sagen, daß dort, bei den Seinen, der Verfolgte zuerst gesucht und unvermeidlich entdeckt werden würde. Wohin aber sonst?
»Aufs Schloß mit ihm!« rief plötzlich der Doktor mit dem Trompetenton der Unwiderleglichkeit. »Bei seiner[641] feindlichen Exbraut vermutet den roten Hartenstein nicht die feinste Schnüffelnase. Still wie in einem Kloster! Matratzen und Verpflegung ideal! Dort oder nirgend ist er geborgen! Dort oder nirgend leistet Peter Kurze sein ärztliches Meisterstück! Aufs Schloß mit ihm!«
Wie Dolchspitzen hatte des armen Dezimus Brust ein jeder dieser natur- und vernunftgemäßen Sätze mit den Erinnerungen, die sie weckten, und nur allzu naheliegenden Folgerungen durchzuckt. Er schwieg eine lange Weile, kämpfte schwere Seufzer nieder und sagte dann, auch seiner Natur und Vernunft gemäß: »Ja, auf das Schloß!«
Vor der Station, von welcher aus er gestern abend seine Fußwanderung angetreten hatte, verließ er den Wagen, da er, wenn er den Nachmittagszug benutzte, einen mehrstündigen Vorsprung gewann, um in der Heimat Rat und Hülfe vorzubereiten. Und von allen Martern, die er seit vierundzwanzig Stunden zu bestehen hatte, ist die Unheilsbotschaft an die beiden Frauen wahrlich nicht die am wenigsten martervolle gewesen.
Rose hatte, als sie am verwichenen Abend allein, aufgelöst in Schmerz und Angst auf das Schloß zurückkehrte, die Geschehnisse dieses Tages und ihren Anteil an ihnen ohne Hehl der Freundin mitgeteilt und war von dieser um ihrer großmütigen Tat willen aufrichtig bewundert worden. Sie selbst wäre des gleichen Entschlusses ja fähig gewesen, allein schwerlich der gleichen praktischen Durchführung. Von dem bevorstehenden Zweikampf hatte Rose keine Ahnung. Sie wie Lydia schwankte, ob es Absicht oder unfreiwillige Verspätung, wenn nicht gar eine verhängnisvolle Begegnung gewesen war, daß Max, als er auf der letzten außerpreußischen Station das Coupé ohne Vorwand verlassen hatte, nicht dahin zurückkehrte.[642] Mit Zittern und Zagen hatten sie im Geiste ihn umherirren sehen, verfolgt, erkannt, verhaftet, gefangen; aber dann auch wieder hoffnungsvoll, ihn geborgen und unentdeckt den Hafen erreichen, von welchem das nächste Schiff ihn in die Freiheit trug.
Und nun zu hören, daß er, von allen Seiten bedroht, als ein zum Tode Verwundeter in seine Heimat geführt werde! Rose stand vernichtet, starr und stumm. Seit gestern fühlte sie sich nicht mehr als die verlassene Geliebte, die mutvoll gegen ihr Begehren und die Schmach der Mißdeutung kämpft. Sie hatte gehandelt wie ein zur Treue verpflichtetes Weib, bekannte ihre Liebe ohne Scheu, war froh gewillt, Gefahr und Verbannung mit dem Geächteten zu teilen. Höher denn jemals vor sich selbst gestellt, stürzte eine Minute sie in den Abgrund alles Entsetzens.
Aber auch Lydia stand erschüttert wie eine Liebende. Selbst wenn sie nicht die Tat eines Bruders zu sühnen, nicht der Großmut dieses Mannes das Leben eines Bruders zu danken gehabt hätte, würde es kaum einen Preis gegeben haben, der ihr für seine Rettung zu hoch erschienen wäre. Denn wenn die Sehnsucht der Liebe in einem Herzen auch erlischt, das Mitleid der Liebe bleibt lebendig bis zum letzten Atemzuge. Dezimus hatte ja nicht daran gezweifelt, daß sie ohne Besinnen ihn bergen und pflegen werde; sie hätte nicht Lydia sein müssen, wenn das unbedingt Menschliche ihr nicht höher gestanden hätte als die bedingte Natur, die gemeinhin dem Weibe eignet. Und dennoch, als er sie jetzt so freudig, ohne jegliches Bedenken dessen, was sie für sich selbst auf das Spiel setzte, in seinen Vorschlag willigen sah, krampfte in seinem Herzen eine Empfindung, der er sich schämte einen Namen zu geben. Er fühlte den Puls des Weibes für den Einstgeliebten schlagen.[643]
Man hatte allerdings schon am Morgen auch auf dem Schlosse nach Max geforscht; eine Haussuchung, wie sie auf dem Talgute und auch in Bielitz stattgefunden, war, auf Lydias Wort hin, jedoch unterblieben. Sie hoffte, daß es bei dieser Nachfrage sein Bewenden haben oder daß sie einer späteren zu begegnen wissen werde.
Rose jedoch widersprach ihr mit plötzlich aufgewachter Energie.
»Nein!« rief sie. »Es wird bei dieser ersten nicht sein Bewenden haben, und je eifriger du dich einer Haussuchung widersetzest, um so mehr wirst du dich verdächtig machen. Er ist hier so wenig wie auf dem Talgute zu verbergen. Schon daß er bei der Ankunft, wenn auch im Dunkeln, durch das Dorf und über den Hof gefahren werden muß, da er in seinem Zustande nicht die Terrassen hinangetragen werden könnte; daß die Schenke dem Gute gegenüberliegt und von ihr aus jeder ungewohnte Ein- und Ausgang beobachtet werden kann; daß die Fenster des Schlosses von allen Seiten zu übersehen sind und es in ihm wohl eine zusammenhängende Zimmerflucht, aber keinen einzigen Schlupfwinkel gibt, keine Seitentreppe oder Hintertür! Und was machte wohl Bruder Frey auf dem Schlosse der Hartenstein? Was brauchte der unschuldige Hirtenfriede mit so viel Heimlichkeit darin gepflegt zu werden? So dumm wäre nicht der dümmste Bauer, wieviel weniger ein geschulter Polizist, um nicht am ersten Tage hinter dem versteckten Hutmannssohn den verfolgten Herrensohn auszuwittern.«
Alle diese Einwendungen hatten auch für Dezimus einen einleuchtenden Grund. Aber der Seitenblick, mit welchem Rose dabei die sinnende Schloßbesitzerin streifte, bekundete noch einen heimlichen Vorbehalt, und –[644] keineswegs edel, aber leider wahr! – daß dieser Vorbehalt in seinem Herzen einen lauten Widerhall fand.
»Nein, Dezimus!« fuhr Rose fort, mit schmeichelnden Tönen die Rücksichtslosigkeit umhüllend, deren nur der Egoismus weiblicher Liebe fähig ist, »nein! du hast um meinetwillen, um seinetwillen Großes getan und geduldet: aber du hast nichts getan, weil alles umsonst, wenn du nicht auch das Letzte tust: wenn du ihn nicht dorthin bringst, dort birgst, wo er allein geborgen ist, wo keiner ihn sucht, wo dein Bruder mit Recht hingehört, – wenn du ihn nicht aufnimmst in deine stille, abgelegene Pfarre!«
In die Pfarre! Ein preußischer Hochverräter verborgen in einer preußischen Pfarre! Minutenlang herrschte atemloses Verstummen. Des weißen Fräuleins Blicke hingen mit nicht minderer Spannung als die des glühenden Weibes an des jungen Pfarrherrn Lippen.
»Ein Samariterdienst, der Ihnen das priesterliche Amt kosten würde, Freund,« sagte Lydia endlich mit leise zitternder Stimme. Als er aber dennoch das Haupt zustimmend neigte, da drückte sie ihm die Hand mit einem Freudenblick, der allen Zweifel und Vorbehalt aus seiner Seele scheuchte und ihm alle Qualen seines qualvollsten Lebenstags lohnte.
Eine Stunde später trug der Pfarrer den Hochverräter in das Haus, dessen höchster Schmuck seit einem Menschenalter das schwarzweiße Kreuz über dem des Erlösers gewesen, und bettete ihn zur Pflege in dem stillen Gartenzimmer, wo einstmals der mutterlose Hirtenknabe in die Wiege des eigenen Kindes gebettet worden war. Dazumal hatte die Junisonne hoch am Himmel gestanden; heute stürmte und ergoß sich der Novemberstrom. Aber, von Nacht und Nebel verhüllt, war es doch die nämliche Leuchte, welche das Samenkorn, in jener Stunde ausgestreut, zur Reife brachte.
[645]
Und in diesem stillen Gartenzimmer haben die drei liebenden Frauen den Verwundeten gepflegt, zwar nicht heil, aber doch allmählich zum Leben. Nie hat ein Mensch geahnet, daß es der Feind des Hauses war, der unter einem Brudernamen in Todesqualen rang. Selbst die litauische Lene nicht. Denn wenn auf ihre blöden Augen auch guter Verlaß war und auf ihre treue Seele der beste, die Zunge lief ihr dann und wann davon, wenn sie mit ihrer guten Freundin Beyfuß vertraulich Zwiesprach hielt, und ganz unversehens würde die Sturmglocke im Dorfe geläutet haben. Es war daher klüglich gehandelt, daß ihr Hätschelkind sie von vornherein in ihr eigenstes Revier, die Küche, verwies und Lydia ihren alten Wagner, der an und für sich schweigsamer Natur war und auf seines Fräuleins Verlangen stumm wie ein Fisch, in die Krankenstube versetzte, um die Dienste zu erweisen, für welche Frauenhände nicht ausreichten und dem Pfarrer die Zeit gebrach.
Doktor Peter Kurzen gelang eine schwierige Operation, indem er die Kugel aus der Brust löste, und eine treffliche Kur, indem er die verletzten Gewebe ausheilte. Beider Darstellung hat – wenn der interessante Fall auch in eine andere Zeit und Zone verlegt werden mußte – dem ärztlichen Rufe, welcher just vor einem Jahre in dem nämlichen Raume begründet worden war, wesentlichen Vorschub geleistet. Unter den friedlicheren politischen Auspizien wurde Doktor Peter Kurze just um diese Zeit seiner militärischen Pflichten quitt. Zu seiner höchsten Befriedigung, da in der Festungsstadt die erhoffte Cholera morbus sich als Illusion erwiesen hatte und die wenigen Opfer der Emeute seinem Tatendurst auch nicht annähernd zu genügen vermochten. Bevor er in »das geistige Zentrum der Provinz« zurückkehrte, machte er daher in dem befreundeten Pfarrhause von[646] Werben Station, »um den Ansprüchen seiner bedeutenden Klientel in jener Gegend gerecht zu werden«. Diese Klientel beschränkte allerdings zurzeit sich auf einen einzigen Fall, zählte materiell jedoch für zehn, ja für hundert. Sidonie würde, wenn verlangt, die Rettung ihres Max mit dem demnächstigen Erbe eines Rittergutes gelohnt haben. Aber Doktor Peter Kurze war ein bescheidener Mann.
Über die ärztliche Behandlung hinaus hatte nebenbei zwischen der schwächlichen Korbverleiherin und dem rüstigen Korbträger sich ein literarisches Verhältnis eingefädelt, das zunächst zwar nur den Zweck hatte, verdächtigende Spuren von dem Krankenzimmer im Werbenschen Pfarrhause abzulenken, beiden Praktikanten aber zu einem Quell erheiterndster Laune wurde. Schon in den nächsten Tagen bekam man in der einen Zeitung zu lesen:
»Zuverlässigen Nachrichten zufolge ist der bekannte Max von Hartenstein am 25. huj. in Lausanne gesehen worden. Wem es daher, schon aus Gründen der Vernunft, nicht einleuchten sollte, daß ein Mann, sagen wir ein Agitator, von seinem Kaliber an dem kindischen Putsch in X. keinen Teil gehabt haben kann, dem würde es doch schon aus räumlichen Gründen unbezweifelbar werden.«
Einige Zeit später stand in dem Blatte einer anderen Farbe:
»Einsender hat in einem lauschig stillen Winkel am herrlichen Lemansee die Bekanntschaft des berühmten Dichters Max von Hartenstein gemacht und das Glück gehabt, eines Blicks in seine jüngste Schöpfung ›Pandora‹ gewürdigt zu werden, welches großartige Epos, in ottave rime abgefaßt, an Schwung und Farbenglut sich dreist mit den höchsten Leistungen der Byronschen Muse messen darf und eigentümliche Streiflichter auf eine Zeit fallen läßt, über[647] welche Pandorens Büchse wieder einmal die Fülle ihres Unsegens ausgegossen hat.«
Wenn diese und ähnliche Artikel im Werbenschen verbreitet wurden, dann lachte Sidonie wie in alten glücklichen Siditagen, und die übrigen Wächter im Krankenzimmer lächelten, denn sie wußten, wessen Phantasie die Dichtung entsprungen war und welche Hand sie unter die Druckerpresse befördert hatte.
Peter Kurzen war bei derlei »Fickfackereien« so wohl zumute wie einem Schmerlchen im klarsten Bachwasser. Er verhöhnte seinen Freund Dezimus, der über den Rudimenten der diplomatischen Kunst wie ein Abc-Schütze stockerte und unter den Praktiken, zu denen sie den Diplomaten nötigt, sich krümmte »wie die Bauern, wenn sie in den Turm kriechen sollen«. Und doch war im Grunde Peter Kurze keine weniger ehrliche Haut als sein geistlicher Freund. Erzählt man denn aber nicht, daß einzelne Individuen einen Giftstoff, von welchem ein Partikelchen der großen Mehrzahl den Tod bringen würde, in zehnfältiger Dosis als Arznei, ja als Leckerbissen und sogar als Schönheitsmittel zu sich nehmen und bei dieser Diät gesund und kräftig ein Patriarchenalter erreichen?
Der junge Pfarrer von Werben war leider jedoch ein solcher Arsenikschlecker nicht. Leib und Seele siechten an den Konsequenzen seiner Samaritertat wie an vergiftetem täglichen Brot.
Wenn er von der Kanzel herab das Grundgebot vom »Ja, ja, nein, nein« verkündet hatte oder das von der Obrigkeit, die Gewalt über einen jeden haben soll, und auf dem Heimwege erkundigte sich ein wißbegieriger Familienvater nach den näheren Umständen von seines Bruders verwunderlicher Blessurgeschichte – Peter Kurze[648] hatte dieselbige in Kurs gesetzt –, oder eine teilnehmende Gemeindemutter fragte nach dem Befinden des armen, guten Friede, dem sie ein selbst bereitetes Pflaster gar zu gern eigenhändig mit einem die Heilung bedingenden heimlichen Spruch auf seine Wunden gelegt hätte, dann trat kalter Angstschweiß auf das Pfarrers Stirn, und der Bescheid würgte wie Wurmsamen in seiner Kehle. Wohlwollende Amtsbrüder warnten ihn ob seines bedenklichen Aussehens. Sie meinten, er habe sich nach seiner Verwundung nicht hinlänglich geschont, und rieten zu einer ernsthaften Erholungskur. Erwiderte er nun auf solchen Rat, daß er sich eine Luftveränderung vorgesetzt habe, indem er seinen Bruder nach dessen Genesung auf die Insel zurückgeleite, so sagte ihm der heimliche Störefried im Herzen, daß diese Antwort wiederum nichts als ein diplomatischer Kunstgriff sei. Und ach! wie ernsthaft war sie doch gemeint; wie aus tiefster Seele schmachtete er nach den reinigenden Elementen und ach! wie sehnsüchtig nach den hohen, stillen Sternen, deren Priesteramt kein Samariterdienst entweiht!
Auch Lydia leistete ja verstohlen Samariterdienst, auch sie pflegte dem Namen nach den armen Hirtenfriede, der sich fern am Rhein in der Abwartung seines lieben Herrn, nunmehro Generals, so behaglich fühlte, wie im Leben noch nie. Aber Lydia war nicht falsch gestellt, indem sie es tat; sie übte des Weibes natürliche Pflicht, nicht eine Ausnahmspflicht, welche der Alltagspflicht widersprach. Selber Lydias Beispiel konnte dem armen Pfarrherrn das Herz nicht erleichtern.
Noch weniger jedoch als der Samariter schien der, welcher verwundet am Wege gelegen hatte, der Tat der Barmherzigkeit froh zu sein. Nachdem Max Fieberwahn[649] und Lethargie so weit überwunden hatte, um seine Erinnerungen mit dem Bewußtsein der Gegenwart verknüpfen zu können, da las Dezimus oftmals in seinem düsteren Blick und den zusammengezogenen Brauen den Vorwurf: »Warum hast du mir nicht den Abschluß, der mir ziemte, gegönnt?«
Seine Pläne waren gescheitert, sein Rausch ernüchtert; er war ein Geächteter, sein Name gebrandmarkt bei denen, die, aller Theorie zum Trotz, er allein für seinesgleichen hielt, über die sich zu erheben, über die eines Tages zu herrschen er geträumt hatte. Und dann: er war ein Siechling geworden; er, dem niemals eine Ader weh getan, der das, was Schonung heißt, in keiner Weise gekannt hatte, ein hinfälliger Mann, – wie er ahnete, für kurze Lebensfrist.
»Als standfester Philister können Sie es wie Papa Mehlborn zum Achtziger bringen, als roter Hartenstein, oder meinetwegen auch nur als blauer, gebe ich Ihnen keine zwei Jahr,« hatte Doktor Peter Kurze erklärt; Max von Hartenstein aber war einer, dem viel leben mehr gilt als lange leben. Er hatte wie ein Künstler sich an dem Anblick seiner eigenen Schön heit geweidet, nun zeigte der erste Blick in den Spiegel, den Rose ihm vorhielt, eine verfallene Gestalt, hohle Augen und abgezehrte Züge, die er kaum für die seinigen halten mochte; ihn graute vor der Zukunft dieses wandelnden Gerippes. Auch die Großmut, deren Gegenstand er sich fühlte, drückte ihn. Er war eine Natur zum Geben, nicht zum Empfangen. An die Aushülfe seiner Schwester hatte er sich von Kind ab als an etwas Selbstverständliches gewöhnt; er schenkte ihr, indem er von ihr nahm; sie dankte ihm, nicht er ihr, wenn er sie für sich sorgen ließ. Und nun diese Hingebung dulden zu müssen von Lydia, die ihn verschmäht hatte, deren Wimper[650] nicht zuckte, deren Hand nicht zitterte, wenn sie den Verband auf seine Wunden legte, eine barmherzige Schwester und – weiter nichts! von dem Sohn der misera plebs, dem der reiche Mann sein einziges Lamm geraubt hatte und der als Entgelt seine Existenz auf das Spiel setzte und sein Gewissen belastete! Wahrlich, es war eine grausame Rache, die sie genommen, indem sie dieses Dasein der Schmach gefristet hatten.
So war denn keiner froh als Sidonie und mit ihr natürlich Rose, denn Lydia war nur ruhig, voll frommen Dankes für eine gelingende gute Tat. Rose aber, Rose war selig, denn Rose liebte, und wenn sie sich auch schwerlich darüber täuschte, daß ihr nicht die höchste Empfindung zum Lohne ward, wenn ihr holdes Getändel dem Genesenden auch nur ein flüchtiges Lächeln erweckte, schon dieses Lächeln war ein Gewinn, denn sie allein zauberte es auf die bleichen Lippen. Und gibt es denn nicht auch weibliche Naturen, denen ein erobertes Glück schwerer wiegt als eines, das ohne Kampf in unsere Arme läuft? Sie war des Sieges über ihre Nebenbuhlerin in seinem Herzen gewiß. Liebte er Lydia noch, sie liebte ihn nicht mehr, und eine Geliebte, die nicht liebt, wird zum Schemen. Sie aber, Rose, sie liebte, und darum fühlte sie sich liebenswert. Sie war es ein paar Wochen lang für den Flatterling gewesen, und sie würde es wieder sein, unentwegt sein, wenn sie ganz die Seine geworden und treu zu dem Unglücklichen stand, nachdem der Glückliche ihr entflohen war. So rechnete die kleine Rose, und die kleine Rose war allezeit eine geschickte Rechnerin gewesen, wo es just nicht auf ideale Ziffern ankam. Die kluge Sidi aber sagte:
»Mein Mäxchen hat seine Meisterin gefunden und ist,[651] gottlob! auf dem besten Wege, aus einem Freiheitshelden ein Pantoffelheld zu werden. Gut Heil dem armen Jungen zu der Chance! Ihnen aber, Kamerad, seinem moralischen Gegenfüßler, zweimal gut Heil! Muß man doch wahrlich ein Johanniskind sein, wenn sogar unsere Missetaten uns zum Segen gereichen sollen. Als Tugendheld wären Sie lebtags ein Sklave geblieben; als Hehler und Helfershelfer eines Verschwörers kommen Sie zur Freiheit und zu Ihrem Ideal. Aber so werden Sie doch nicht rot, junger geistlicher Herr. Ich meine ja nur die lieben Sterne!«
So drängten alle und alles fort aus diesem Zwitterzustand, fort in reine Luft; das aber um so mehr, da die Zeit sich näherte, in welcher der Wechsel der Ämter verabredet worden war und ein Aufschub kaum ermöglicht werden konnte, ohne neue Menschen in das Geheimnis zu ziehen. Wie eine Heilsbotschaft wurde es daher aufgenommen, als in der Weihnachtszeit Meister Kurze den Ausspruch tat, daß er nunmehr eine Translokation gestatten dürfe, wenn auch natur-und vernunftgemäß nicht in einem Atemzug, sondern mit einer Kunstpause in der Mitte, zu welcher aus diplomatischen wie ärztlichen Motiven Mutter Stinas Inselhaus sich empfehle. Man rüstete sich demnach zur Reise.
Sidonie hatte nicht anders angenommen, als daß sie ihren Bruder begleiten werde, um sich im Leben nie wieder von ihm zu trennen: so zuversichtlich rechnete sie auf den Befreier Tod; und kein Tag, keine Stunde verging, wo sie ihn nicht hinter des Greises Schlummerstuhle lauern sah, wo sie das Ohr nicht an des Greises Brust lehnte, nach dem letzten Atemzuge lauschend. Immer aber regte sich wieder das wunderbare Geheimnis, Leben[652] genannt, und die Maschine taktierte weiter, lange nachdem der rastlose Arbeitsgeist, der sie achtzig Jahre regiert, sich abgenutzt hatte.
Am Silvestermorgen ging Dezimus Frey zum letzten Male in die Stadt seiner Ephorie, und wenn es in diesen Aufzeichnungen gelungen ist, das Wesen seiner ersten Lebensstufen deutlich zu machen, bedarf es keiner Schilderung des Kampfes, den dieser mit allem Heimatlichen abschließende Gang ihm kostete. Der altbefreundete Superintendent war längst vertraulich in den Ämtertausch eingeweiht; nun erbat sein junger Amtsbruder, zum Zweck einer Erholungsreise, sich eine geistliche Stellvertretung bis zur Ankunft des neuen Pfarrers und löste darauf einen Paß nach der Insel, ausgestellt auf seinen Namen, den seiner Pflegeschwester und seines kranken Bruders. Und das war Dezimus Freys letzte bewußte Lüge.
Heimgekehrt empfing ihn Sidonie mit der Kunde, daß ihr Großvater eingeschlummert sei für immer. Lachende Erben beim Augenschluß eines Mammonsnarren sind keine Seltenheit; diese Erben lachten nicht; erlösender aber ist kein Augenschluß empfunden worden als der dieses alten betörten Kindes von seiner jungen Hüterin. Noch eine mahnende Besprechung mit seiner Schwester unter vier Augen, eine zweite mit dem Genesenden, aus beider Munde ein entschlossenes »Ich will!«, dann fügte Dezimus Frey in Konstantin Blümels geistlichem Gemach Maxens und Rosens Hände ineinander und sprach des Priesters Segen über ihren Bund.
Ein wunderliches Dreiblatt von Verschmähten und Verschmähenden, Lydia, Sidonie und Peter Kurze, war des Bundes Zeuge und unterzeichnete ein Dokument über den geistlichen Akt, das im Schloßarchiv niedergelegt wurde,[653] da das Kirchenregister an dem geächteten Hartenstein und seinen Hehlern und Helfershelfern nicht zum Verräter werden durfte. Solches aber geschehen, entkleidete Dezimus Frey sich des priesterlichen Ornats und richtete an seine vorgesetzte Behörde seinen Verzicht auf das geistliche Amt. Als Beweggrund nannte er mit voller Wahrheit das Verlangen, sich dem Studium der Astronomie zu widmen.
Sobald es Abend geworden war, der letzte Abend dieses schweren Kampfesjahres, bestieg er mit der, welche seine Schwester, und dem, welcher sein Bruder hieß, den Wagen, welcher sie nach der nördlichen Bahnstation führte. Dort im Coupé stieß – seinerseits unter einem Schrei der Überraschung – Doktor Peter Kurze mit den Geschwistern zusammen, setzte die Reise auch in ihrer Gesellschaft fort, da er – wie mit weitschallendem Posaunenton verkündet ward – den Ruf in ein holsteinisches Lazarett, behufs einer eine Meisterhand heischenden Amputation, erhalten hatte.
Es mußte mit dieser Operation indessen nicht allzu drängende Eile haben, denn der Operateur dampfte wohlgemut an der Lazarettstadt vorbei, segelte auch ebenso wohlgemut mit den Freunden nach der Insel hinüber, der er erst acht Tage darauf, nachdem er seinem Patienten ein zuversichtliches »Gut Heil!« zugerufen hatte, den Rücken kehrte. Er schwelgte in dem Plane, sich in der Universitätsstadt zu habilitieren und mittelst seiner auf Mehlbornschem Acker erwachsenen goldenen Ernte eine Privatklinik zu gründen, die sich gewaschen haben sollte. Was, das Gewaschensein nämlich, nach seiner unmaßgeblichen Meinung, nicht von jeder Klinik zu rühmen sei. Seinem zweitbesten Freunde vertraute er außerdem, daß er sich kürzlich in ein[654] allerliebstes Wittweibchen verschossen habe, auf geneigtes Gehör rechne, unter allen Umständen aber entschlossen sei, fortan nur noch auf Witwen – natur- und vernunftgemäß der handlichsten Spezies des schönen Geschlechts – zu reflektieren.
Max erholte sich sichtbar unter dem Wehen der Meerluft und dem Gefühle der Freiheit. Rose triumphierte. Er war weich und bewegt, oftmals mit Tränen in den Augen. Leise begann er wieder sich des Lebens zu freuen, und dieses Leben dankte er ihr.
Nach Ablauf einer Woche kam Sidonie, und Lydia begleitete sie zum letzten Lebewohl.
Lydia und Dezimus standen am Strande allein, als das Boot abstieß, in welchem Bruder Klaus die Freunde nach Helgoland ruderte. Der erste Sonnenschein des Jahres rang sich durch den Inselnebel, den Fliehenden und denen, welche ihnen nachblickten, das Symbol eines neuen Lebens.
Als der letzte Schimmer des weißen Segels verschwunden war, da stand die treue Weltenmutter glorreich leuchtend über ihren Häuptern, und Dezimus Frey hielt an seinem Herzen das Weib, welches seinen Jugendträumen als Leitstern vorgeschwebt hatte und seinen Mannesjahren die Erfüllung bringen sollte.
Bis zu diesem Abschluß, mein Konstantin, bin ich gelangt, während der Wochen, die wir auf dem unwirtlichen Eiland hinbrachten in Erwartung des Phänomens, an welchem wir die Entfernung unserer Erde von der alten, guten Sonnenmutter zu ermessen hoffen. Morgen ist die entscheidende Stunde; es regnet, am Horizonte brauen dichte Nebel, die Gefährten blicken beklommen,[655] noch vertraue ich aber meinem bewährten Johannisglück.
Und nun lege ich die Feder aus der Hand, mit welcher ich die Erinnerungen an dieses Glück als ein Vatererbe für dich niedergeschrieben habe. Die Tatsachen sind treu. Wie aber eine Landschaft, die sich uns im Morgengold eingeprägt hat, verwandelt scheint, wenn wir im Nachmittagsschatten auf sie niederschauen, so mag auch die Farbe, über Menschen und Dingen von dazumal, sich im Gedächtnis nachmittägig verwandelt haben, und wenn es dich etwa bedünken sollte, daß das Licht mit ungebührlichem Glanze auf die Gestalt des Helden gefallen sei, – ei nun, mein Konstantin, es sind nur die besten Autoren, die heller als ihre Helden leuchten, und wem wird ein Fünkchen Eitelkeit wohl so gern verziehen werden als dem Vater, der seinem Sohne ein Erinnerungsbild hinterlassen möchte?
Es sind nur die Stufenjahre der Jugend, die ich vollenden konnte; nicht mit Unrecht aber hat man gesagt, daß die ersten beiden Jahrzehnte, »die süßen zweiundzwanzig«, wie der Dichter sie nennt, die Hälfte eines Manneslebens umfassen, und wenn es Methusalems Alter erreichen sollte. Die andere Hälfte, die mit Lydia beginnt und den Sternen, mag, soweit du sie nicht miterlebt, deine Mutter dir ergänzen. Drücke auch aus meiner Seele heraus die Segenshand an dein Herz, die so warm in der meinen gelegen und dich so treu bis heute geleitet hat.
Aber es war nicht gemütlicher Zeitvertreib, nicht die erquickende Rückschau in blaue Fernen allein, die mich trieben, deinen Blick auf das gute Heimland zu lenken, dem du Korn auf Korn entsprossen bist. Wie es einem Geschichten erzählenden Vater ziemt, lag mir eine Lehre im[656] Sinn, die ich dir zurufen wollte just aus der antipodischen Zone, in die ich seit Monden und auf Monde hinaus mich gebannt, um eines Lichtmomentes willen, den ein Wolkenschatten verdunkeln kann.
Es ist nahezu ein Postulat geworden, daß die Zeit, in der du zu reifen berufen bist, den idealen Lebensgehalt verkümmern läßt. In dir erfahren wirst du es nicht. Einem Sohne Lydias verkümmert nicht sein Ideal. Glaube es aber auch nicht, wenn du es hörst oder liest. Die Ideale wandeln und wechseln, erhellen und verdunkeln sich wie die Ideen, das Ideale währt und webt ewig wie die Idee. Du kennst nunmehr den Mann, den diese Zuversicht bis in seine Todesstunde beseligt hat. Und wenn es dir nicht gegeben sein sollte, die unlöschbare Flamme in Ausnahmsgeistern leuchten zu sehen und glimmen selber da, wo ihr geflissentlich Hohn gesprochen zu werden scheint, so wirst du ihren warmen Strom doch spüren in jedem guten Menschenherzen. Die Güte, deren Namen selbst unsere Sprache von Gott entnommen hat, ist das reinste Ideal.
Es sind Feiglinge, mein Sohn, und sie waren es seit Jahrtausenden, die da sagten und sagen: Nichts lieben und nichts glauben, nichts erstreben noch ersehnen als die Ruhe des Nichts heiße weise sein und einzig Erdenglück. Schwächlinge und Ärmlinge! Die Ärmsten unter uns! Sie kennen unseren Reichtum nicht einmal, unseren Reichtum selbst in der Traurigkeit, die kein Menschenglück und keine Menschenweisheit löst, weil sie das ewige Erbteil ist, das den Menschen erst zum Menschen macht.
Kämpfe darum mutig, mein Sohn, und scheue der Wunden nicht, um das, was du in dir trägst, zu behaupten im Gestritt der Welt. Denn nur dieses Eigenste ist dein Glück. Das holde Gestirn, an dem wir die Sonnenkraft[657] ermessen, es hat auch über deiner Wiege gestanden und wird dich leiten durch das Leben, bis es als Abendstern dir leuchten wird dort hinüber, wo wir mit reiferen Sinnen das Wandelbare zu erfassen und mit tieferem Sinn das Unwandelbare zu ergründen hoffen.
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