Eine jähe Bewegung unterbrach die heilige Stille, in welcher die Verlobten, die kalten Segenshände der Mutter und die warmen des Vaters auf ihren Häuptern, dem Entatmen lauschten. Rose war ohnmächtig zusammengesunken. Als Dezimus sie in seine Arme nahm, um sie in ihre Kammer zu tragen, bemerkte er Lydia, die still zu Füßen des Sterbebettes gestanden hatte. Sie folgte ihm, um die gebotenen Belebungsmittel anzuwenden; tröstend flüsterte sie ihm zu, daß sie keinen Anfall der herrschenden Krankheit befürchte, da diese unter anderen Symptomen aufzutreten pflege. »Sterben sehen ist schwer – und diese Mutter!« sagte sie.
Dezimus kehrte in das Totenzimmer zurück, als eben der Vater der treuen Gefährtin zum letzten Lebewohl die Hand drückte. Er war so ruhig wie alle Tage. »Ich komme bald, meine Hanna,« sagte er leise, und Dezimus las in seinen erschöpften Zügen, daß diese Zuversicht nicht trügen werde.
»Nimm auch du Abschied,« wendete er sich darauf zu dem Sohn, »du darfst dieses Zimmer nicht wieder betreten.«
Während der Jüngling die toten Lippen und Hände küßte, öffnete der Greis die Fenster und drängte den Widerstrebenden dann aus der Tür, die er verschloß und deren Schlüssel er zu sich steckte.
»Es ist unsere Pflicht,« sprach er, »voranzugehen mit dem Beispiel der strengen Vorsicht, die wir von anderen fordern müssen, selbst wenn sie, wie hier wahrscheinlich, nicht vonnöten wäre.«
Während eines Ganges durch den Garten erzählte er dem Sohne darauf den leidvollen Vorgang, der erst in der vorigen Nacht mit einem Schüttelfrost seinen Anfang genommen und dessen Ende, ohne Schmerzgefühl, schon nach zwölf Stunden eine Lähmung auf die sanfteste Weise vorbereitet[455] hatte. Es war daher glaublich, daß, durch Sorgen und Mühen der letzten Tage beschleunigt, es lediglich der Lauf der Natur war, der sich an der Greisin erfüllt hatte. Wenn es aber auch der Beginn der Epidemie gewesen wäre, so gebührte Gott zweifach Dank für diese rasche Erlösung ohne Qual und Angst, in Klarheit und Freudigkeit bis zum letzten Augenblick. Sie hatte vollbracht! Des Greises Sorge galt der Tochter, die erst vollbringen lernen sollte.
»Sie ist dein geworden, mein Sohn, früher, als ich gedacht, wolle Gott nicht zu früh!« sagte er, »führe sie an fester Hand treu durch das Leben!«
Mit dem Händedruck, der statt des Dankesworts des Vaters Rede erwiderte, betraten sie Rosens blumengeschmücktes Mädchenzimmer. Sie lag auf ihrem Bett in Lydias Armen. Das Leben schien ihr in Übermaß zurückgekehrt; das Gesicht flammte, nach Atem ringend wendete sie sich ruhelos hin und wieder. Plötzlich richtete sie mit starrem Blick den Kopf in die Höhe, und ein Blutstrom entquoll ihrem Munde. So in Todesschmerz begann und in Todesängsten endete Dezimus Freys Verlobungsstunde.
Spät in der Nacht kehrte er mit Doktor Brand, den er zu Hülfe geholt, aus der Stadt zurück. Die Geliebte lag einer Schlafenden gleich, doch mit nur halbgeschlossenen Augen; Glut und Blutung waren gestillt; die Flammen auf den Wangen erloschen. Sie gab auf keine Frage einen Laut, kein Zeichen des Verstehens, sie regte sich nicht, atmete kaum merklich. Der alte Vater war auf einem Stuhl an der Bettseite eingeschlummert. Lydia hatte die eine Hand auf die Stirn der Kranken gelegt, mit der anderen hielt sie deren beide Hände, ineinandergefügt, umspannt. Sie glaubte an das Auflegen der Hände. Man braucht aber[456] nicht so starken Glaubens wie Lydia zu sein, um die wohltuende Wirkung zu spüren, wenn durch innige Berührung eines kraftvollen Menschen gleichsam ein Strom warmen Lebens in einen Entkräfteten übergeht, oder ein kühlender Hauch in das Blut des Fieberglühenden.
Der Doktor fand keine beunruhigenden Symptome. Er kannte Rosen seit ihrer Geburt; ihre Lungen waren heil; der matte Puls deutete nicht auf Entzündung. Das frohlebige Kind war ekel und krankenscheu; die schauervollen Schilderungen, die ihr nicht hatten erspart werden können, die Furcht vor Ansteckung, der Anfall der Mutter, Angst und Schmerz, das erste Totenbild im Leben hatten die Nervengeister überreizt und einen abnormen Blutandrang bewirkt, dessen Ergießung naturgemäß die Erschöpfung folgte. Unbedingte Ruhe, zweckmäßige Kost und einige leichte Tonika würden den erschlafften Lebensgeist bald wieder aufrichten, meinte Doktor Brand.
Er hatte sich noch nicht aus der Pfarre entfernt, als, wie er verheißen, Doktor Kurze sich in dieser einstellte. Wenngleich ein Anfänger, konnte ihm als Verwandten und Freunde des Hauses ein Einblick in den Zustand der Kranken nicht verweigert werden. Und so gewährte – wenn auch als Braut eines anderen, wie leider, natur- und vernunftgemäß, seit Jahren vorauszusehen – Schönröschen den heißersehnten ersten kritischen Fall, über welchen Doktor Peter Kurze ein ärztliches Gutachten abzugeben hatte. Da Doktor Peter Kurze aber mit Leib und Seele zu den Erstlingsjüngern der neuen Schule zählte, die beim Abweichen von typischen Lebenserscheinungen das Pünktchen über dem i zu ergründen trachtete, wollte er von des alten Kollegen seelisch gestörtem Lebensgeist nichts wissen und suchte den Sitz des Übels in Störungen[457] eines leiblichen Organs und einem äußerlichen Motiv. Seine erste Frage war nach Quantität und Qualität des entleerten Bluts, und als er von keiner Seite eine befriedigende Antwort erhielt, da es ununtersucht beseitigt worden war, schüttelte er mit energischer Entrüstung sein ärztliches Haupt. Er machte darauf mit der Neuigkeit des Beklopfens, Behorchens und anderer exakten Untersuchungen, allerdings nur bei den Laien in der Krankenstube, einen bedeutenden Effekt. Lächelte nun der alte Spiritualist über den modernen Hokuspokus, mit welchem kein Hund aus dem Ofen gelockt werde, so lachte der junge Naturalist über die blutspeiende Seele und die vor Olims Zeiten ausgeheckten Arkana, die nur den Apothekerkarren schmieren helfen; nannte der Alte den Jungen – selbstverständlich hinter seinem Rücken – einen in der Wolle gewaschenen Scharlatan, so nannte der Junge den Alten – ebenso selbstverständlich hinter seinem Rücken – einen mürben Schlauch, an dem kein neuer Flicken hafte. Und da mußte es denn um der lieben Rose und derer willen, die für ihr Leben zitterten, als ein Segen betrachtet werden, daß der Antagonismus in Diagnose und Prognose sich nicht auch auf die Behandlungsweise erstreckte. Kühle Temperatur, kuhwarme Milch und Ruhe, anderes als der spiritualistische Äskulap wußte der materialistische auch nicht anzuraten, und mit der Vorschrift: »Keine Jammermienen! lachende Gesichter!« – einer Vorschrift, die doch auch nicht lediglich auf eine Störung deutet, die man tastet, hört und sieht, verließ Peter Kurze des geliebten Röschens Lager, um unter Führung des ungeliebten Schloßfräuleins als Held auf sein erstes Kampffeld vorzudringen.
Rose lag unverändert, ohne merkbares Leiden, ohne Regung und Bedürfnis irgendwelcher Pflege. Der alte[458] Vater wich nicht aus ihrer Nähe; am Abend übernahm Dezimus die Wacht. Der Tag war ihm auch äußerlich ruhelos vergangen: er hatte das Begräbnis anzuordnen, das schon am anderen Nachmittag stattfinden sollte, auch die Trauerbotschaft in die Ferne mitzuteilen. Es war des Vaters ausdrücklicher Wille, und er war überzeugt, darin nach dem seiner Hanna zu handeln, daß keines der Kinder oder Enkel um dieser Feier willen die infizierte Gegend betrete.
»Für die unheilvollen Folgen rechtmäßiger Handlungen gibt es keine Verantwortung,« sagte er und machte sich daher auch nicht die geringsten selbstquälerischen Gedanken, den Ansteckungsstoff vielleicht in seine Familie getragen zu haben. Eine Befriedigung des Gemüts und der Sitte, die niemand Hülfe und vielen Gefahr bringen konnte, rechnete er aber nicht zu jenen obligatorischen Handlungen.
Auch die Kranzbinderin der Gemeinde hatte der Mutter nicht den letzten Schmuck reichen können, und als in der schweren Stunde ein Sonnenblick, den Herbstnebel durchdringend, auf ihr Lager fiel und ein flüchtiges Lächeln auf ihre Lippen zauberte, da ahnete sie nicht, daß er das frische Grab ihrer Mutter beschien und daß der wärmste Liebesstrahl aus ihrem Leben gewichen war.
Dem Sarge folgte nur der greise Gatte, gestützt auf den Sohn und hinter beiden Lydia. Die angstzitternden Gemeindeglieder hielten sich in weitem Abstand von der Grube. Keinen der Befallenen hatte der Würgengel ja so hastig abgetan wie die alte Pastorfrau. Doch fehlte es an Tränen, an aufrichtigen Tränen nicht. Hanna Blümel hatte viel früher als ihr Konstantin und fast ohne Ausnahme die Herzen seiner Pfarrkinder zu finden gewußt.
»Vater, ich danke dir für den Segen, den du mir für[459] Zeit und Ewigkeit in diesem Weibe bescheret hast,« sagte Konstantin Blümel mit fester Stimme, sprach dann den Friedensspruch über das Grab und stand, bis dasselbe gefüllt war, in stillem Gebet auf der Stelle, die er sich dicht daneben zur letzten Ruhestatt vorbehalten. Wenige Schritte zur Seite lag der Hügel der armen Hirtenfrau, welche Dezimus das Leben gegeben hatte; aber erst heute war ihm eine Mutter versenkt worden.
Das Opfer im Pfarrhause blieb das einzige der Obergemeinde; um so weiter verbreitete sich die Epidemie in der Aue. Doktor Peter Kurze schwamm wie ein Fischchen in seinem Element; er gönnte sich nur wenige Raststunden im Schloß; diese wenigen aber wußte er zu rühmen. Ein Komfort, wie er unter Frau Ottiliens Walten zur häuslichen Regel geworden, war für Doktor Peter Kurzen ein entdecktes Schlaraffenland, und daß er in der unnahbaren Schwanenkönigin, die er vor wenig Monaten reif für das Narrenhaus erklärt hatte, über einen so praktischen, unermüdlichen Amanuensis zu verfügen haben werde, das hätte Doktor Peter Kurze sich noch viel weniger träumen lassen. Lydia schaltete mit angemaßten Herrenrechten in der Untergemeinde Haus bei Haus, und Haus bei Haus ließ man in der Not den angemaßten Herrendienst sich gefallen. Peter Kurze zog aus dem physiologischen Grundsatz von den angewandten Kräften einen ihm neuen psychologischen Beweis:
»Wie scharmant diese heilige Jungfrau latente Stoffe aus sich herausarbeitet,« sagte er zu seinem Freund, dem Kandidaten.
Lydia dahingegen dachte still bei sich: »Wie die Tüchtigkeit in seinem Beruf doch den gewöhnlichsten Menschen zu adeln vermag!«[460]
So blühten »Ysop und Lilie« friedfertig nebeneinander und wirkten einträchtig Hand in Hand. Bei Peter Kurzen aber datierte seit den Erstlingstagen seiner ärztlichen Praxis die Schwärmerei für eine Sprungfedermatratze und ein weibliches Ideal.
Sooft er von seinen Rundgängen nach dem Schlosse zurückkehrte, sprach er in der Pfarre vor, um nach dem »herzigen Dinge«, dem Röschen, zu sehen, dessen ausschließliche Behandlung er für sein Leben gern in die Hand genommen hätte, da die andauernde Erschlaffung ihn zu beunruhigen begann. Sämtliche innere Organe hatte er nach exaktester Untersuchung – wie sein altmodischer Kollege ohne eine solche – als heil erklären müssen; für das Sprengen etwelcher überfüllter Äderchen machte er dagegen statt heimlich empörter Nervengeister den spirituosen Inhalt eines zur Hälfte entleerten Fläschchens verantwortlich, das von dem alten Kollegen als vorbeugendes Mittel in das Haus gestiftet worden war und von welchem das arme Kind im Glauben, daß viel viel helfe, über Gebühr Gebrauch gemacht haben mochte. »Das Blut, so viel dessen noch vorhanden, ist mit Gift versetzt,« erklärte er. Indessen nur guten Muts! Doktor Peter Kurze ist bei der Hand, und wenn alle Stränge reißen, weiß er ein heroisches Korrektiv, für dessen Wirkung, natur- und vernunftgemäß, gutzusagen ist. Einstweilen gilt es, mit gelinden Reizmitteln den Grad der Inertie auf Apathie oder Anästhesis zu untersuchen und zunächst mit dem unverfänglichsten aller Reize, dem auf die Lachmuskeln, eine Probe zu machen. Wenn freilich der kleine Schelm über einen Heidenspaß nicht mehr lachte, dann stand es bedenklich um das arme Kind, und das heroische Korrektiv mußte ernsthaft in das Auge gefaßt werden.[461]
Auf diese Probe hin betrat Doktor Peter Kurze in der Vesperstunde des Begräbnistages das Krankenzimmer, nachdem er sich außerhalb desselben wegen seines notgedrungenen Fehlens bei der Trauerfeier entschuldigt hatte.
»Ich komme direkt von Ihrem großen Feinde Mehlborn, Papa Blümel, und quasi als dessen Friedensgesandter an Sie,« hob er mit seinen muntersten Trompetentönen an. »Nämlich und so, wie Vater Walbe sagt: Auf Befehl meiner hohen Prinzipalin bin ich in die sagenhafte Bärenhöhle gedrungen, nach deren Erforschung ich schon längst ein naturwissenschaftliches Lüstchen gehegt. Muhme Timpel, die Wirtschaftsdame, hatte sich am Morgen gelegt, wie ich schwarz auf weiß geben kann, indessen nicht unter den Erscheinungen des Hungertyphus, au contraire, im Gegenteil unter denen einer übervölligen Ladung von Wellfleisch und Sauerkraut. Das schmaust und zecht anjetzo im Herrenhause, als stünde man vor dem Jüngsten Tag.«
»Ist der Amtmann denn krank?« fragte Pastor Blümel, indem er den Erzähler in die Nebenstube winkte. Der drastische Erregungsversuch entheiligte ihm seines Kindes Leidensstatt. Zu des Heilkünstlers ärztlichem wie zärtlichem Bedauern hatte er sich auch als total unwirksam erwiesen.
»Krank! nichts weniger,« antwortete der Doktor lachend. »Aber rein aus dem Häuschen, sage ich Ihnen. Der Tod der Tochter mag ihm doch ärger mitgespielt haben, als er sich merken ließ, und die unerlebte Seuchennot macht ihn nun vollends toll und töricht. Gott weiß, in welcher alten Scharteke er einmal von dem schwarzen Tod, will sagen von der Pest, die vor soundso viel Jahrhunderten auch in der Werbenschen Gegend reinen Tisch gemacht haben soll, gelesen hat; Cholerageschichten neueren Datums kommen[462] dazu kurzum, der alte Knabe bildet sich steif und fest ein, das schwarze Gespenst sei wieder da und habe ihm, Johann Mehlborn, zur Strafe für seine Sünden den Morbus in den Leib gejagt. Besagten Morbus läßt er sich nun absolut nicht ausreden, wennschon ihm keine Ader weh tut und er lediglich vor Sterbensangst verfällt. Sein Leichnam ist heil wie der eines bemoosten Hechts. Bis auf die Augen versteht sich. Denn die sind futsch, insofern er es nicht auf eine Operation ankommen läßt. Ich habe ihm den Staarstich gratis angeboten. Was täte es, wenn er mißläng'? Blind ist er sowieso; und wo fände ich eine herrlichere Gelegenheit zu einem ersten Versuch? Aber gegen diesen Mehlwurm ist ein Stier ein Lamm.«
»Welches ist denn nun aber der Auftrag, den er dir an mich gegeben hat?« unterbrach mit merklichem Unwillen Pastor Blümel den Vortrag dieses »aufheiternden« Erlebnisses.
»Daß Sie zu ihm kommen und sein Herz entlasten sollen, Papachen,« antwortete der Doktor, in seinem natur- und vernunftgemäßen Vorhaben keineswegs irritiert. »Seit die Timpel ihm dummerweise den Heimgang der guten Mutter hinterbracht hat, ächzt er, ringt die Hände und flennt wie ein geprügelter Bube. ›Wenn ich nur hinan könnte!‹ stöhnt er ein über das andere Mal; ›aber kann einer sich rühren, der den Morbus im Leibe hat?‹ Ich schlug ihm zur Herzensergießung und eventuellen Abspeisung – in deren Folge bei derartigen Todeskandidaten regelmäßig die Genesung einzutreten pflegt –, item, ich schlug ihm den werten Amtsbruder in Bielitz vor. Aber da kam ich schön an, Papachen! Was weiß so ein grüner Junge – er ist vorige Woche ein Sechziger geworden! – von Werbenschen Zeiten und Mehlbornscher Not? Hat[463] der Bielitzer die Brigitte nur mit Augen gesehen? hat er der Röse und dem Hannes den Sermon gehalten? Nein, sein Werbenscher mußte es sein, sein Blümel mußte es sein. Und wenn der 'runter kam und ihm seine Sünden vergab und ihm den Lebenslauf zu halten gelobte, dann mochte es seinethalben mit dem schwarzen Morbus sein Bewenden haben.«
Konstantin Blümel, der Greis, bedachte sich keinen Augenblick, wenige Stunden, nachdem er sein Weib bestattet hatte, das Krankenbett seines liebsten Kindes zu verlassen und, erschöpft von Gram und Sorge, wie er war, bei anbrechender Nacht in das Tal hinabzusteigen, um der Einbildung eines alten Toren genugzutun, des einzigen Menschen, der ihm im Leben feind geworden war. Der Sohn mochte warnen, soviel er wollte, Freund Kurze mochte sich ob seiner übel angebrachten Aufmunterung zehnmal einen Esel schimpfen – wer aber hätte natur- und vernunftgemäß einem Siebziger auch noch solchen Hitzkopf zutrauen können? – Der Pastor hängte sein Chormäntelchen um und schritt voran.
Indessen schon unter der Tür knickte er zusammen; die jungen Männer mußten ihn zu seinem stillen Kinde zurückführen.
»Geh du an meiner Statt,« sagte er zu Dezimus; und als dieser zögerte, Vater und Braut, beide seiner Pflege bedürftig, um eines eingebildeten Kranken und auch seines einzigen Feindes willen zu verlassen, rief der Alte, als ginge es, wie Anno 13, fort von Weib und Kind in den Kampf: »Tapfer voran, mein Sohn! Recht trauern heißt sich selbst überwinden.«
So machte der Kandidat sich denn auf den Weg zur ersten Probe in seinem seelsorgerischen Amt. Freund Kurze[464] versprach, während seiner Abwesenheit in der Pfarre Wacht zu halten.
Dezimus hatte seit seiner großen Erfahrung noch keine Viertelstunde gehabt, in welcher seine Tränen unbeobachtet fließen durften; nun genoß er diese Wohltat auf dem abendlichen Gange. Im Kahn traf er mit Lydia zusammen, die in das Tal ging, die Nacht bei einem schwerkranken Kinde zu durchwachen. Sie reichten sich schweigend die Hände und gingen dann schweigend nebeneinander hin. In Freude oder Leid, mit Lydia fühlte Dezimus sich niemals zu zweien.
Auf dem Talgute sah es wüst und öde aus. Dienstboten zur persönlichen Abwartung hatte der Amtmann niemals gehalten; die alte Ausgeberin lag krank im Oberstock; Knechte und Mägde taten sich gütlich auf Schlenderwegen; keiner kümmerte sich um den blinden Greis. Sie machten sich lustig über ihn und gönnten ihm die Qual, die er sich in den Kopf gesetzt hatte, da der liebe Herrgott nun einmal mit so unverdienter Barmherzigkeit seine Geißel an dem erbarmungslosen Geizkragen und Leuteschinder vorübergehen ließ.
Der alte Mann saß mutterseelenallein in seiner Bärenhöhle; im Ofen qualmte ein halberloschenes Torffeuer, der Docht der zinnernen Öllampe blakte; schwärzliche Dünste von Ruß und Rauch zogen gleich Wolken durch die wochenlang nicht gelüftete Stube. Auf dem vielleicht ebenso lange nicht abgestäubten Tische standen eine Kanne kalten Kamillentees und ein Napf gleichfalls kalter Roggensuppe; beides noch gestrige Krankentraktamente Muhme Timpels. Daneben lag das Rezept, das Doktor Kurze verschrieben und für das sich noch kein Bote gefunden hatte. Es mochte wohl von dem Kaliber dessen der Muhme Timpel sein, über[465] welches Doktor Kurze vorhin geäußert hatte: »Wäre sie eine Dame gewesen, würde ich gesagt haben: ›Reinen Born getrunken!‹ da sie eine alte Großmagd war, verschrieb ich den Born mit Sirup braun gefärbt.«
Dezimus hatte seit seinen Knabenjahren den Amtmann nicht in der Nähe gesehen. Hätte er nicht gewußt, daß er keinem anderen als ihm gegenüberstehe, er würde den behäbigen Mann nicht wiedererkannt haben in der schier unheimlichen Gestalt mit dem verfallenen Leib, dem eisengrauen, struppigen Haar und Bart, der weißen Nebeldecke über den eingesunkenen, schwarzen Augen. Das ist der Mensch!
Der Kandidat hatte von seiner Adoptivfamilie angenommen, das sachsenhöfliche »schön« vor dem »guten Morgen« oder »guten Abend« fortzulassen; als der Alte daher einen ungewohnten Tritt und die kurze »preußische« Begrüßung hörte, kreischte er vor Freude laut auf, und dann schluchzte er vor Rührung wie ein Kind:
»Sie kommen, Herr Pastor! Ach, Sie guter Herr Pastor, Sie armer Herr Pastor! Weiß der Herr, ich habe nicht zum Begängnis 'nauf gekonnt! Sie sehens ja, kann ich mich rühren? Und was für eine schöne Predigt werden Sie ihr gehalten haben! Und nun sind sie alle beieinander, die Frau Pastorin und meine Brigitte und meine Röse und mein Hannes, alle beieinander, und ich, ich habe den Tod im Leibe und muß auch fort. Herr Pastor, Herr Pastor, glauben Sie, daß ich, wenn ich fort bin, zu den Meinigen kommen werde?«
»Ich glaube, daß wir im jenseitigen Leben mit denen wiedervereinigt werden, die wir hienieden treuliebend im Herzen getragen haben,« versetzte Dezimus, durch seine Erinnerungen bewegt. »Im übrigen ist es nicht Pastor[466] Blümel, der vor Ihnen steht, Herr Amtmann. Da er selbst für den Weg sich körperlich zu erschöpft fühlte, sendete er mich, um ihm Ihre Wünsche zu hinterbringen. Ich bin Dezimus Frey.«
»Dezimus Frey!« schrie der alte Mann auf und fuhr von seinem Stuhl in die Höhe, als hätte ihn eine Hornisse gestochen. Die Schwäche ließ ihn jedoch alsobald zurücksinken, und so saß er eine lange Weile in sich gekehrt und nickte und murmelte vor sich hin, indem er aufwachende Erinnerungen und Vorstellungen, wie sonstmals die Wagnisse und Treffer einer Spekulation, an den Fingern abzählte. »Dezimus Frey, – der Hirtendezem, – dem ich den Inspektor gelobt habe, – der Königspate, – den, den ich um ein Haar massakriert, – der, der kommt gerade alleweile, wo ich den Tod im Leibe habe. – Gottes Finger! Gottes Finger! – Röse, meine Röse! – Herrgott, ich schwerer Sünder! – Und er ist am Ende schon ordentlicher Pastor droben – –«
»Noch nicht, Herr Amtmann,« unterbrach ihn Dezimus. »Und, so Gott will, noch lange Zeit nicht.«
»Aber doch Pastors Substitarius, gelt?«
»Auch dazu bedürfte ich erst noch der Ordination. Ich bin erst Kandidat und nur nach Werben gekommen, um meinem Pflegevater bei den jetzt so schweren Obliegenheiten seines Amtes, soweit ich dazu berechtigt bin, beizustehen.«
»Aber das ist ja Jacke wie Hose! Substitarius oder Kandidat! Pastors Abgesandter, das ist die Sache! Und er kommt aus gutem Willen herunter und fürchtet sich nicht vor dem Gift in meinem Leib. Und abspeisen wird er mich, und mir den Lebenslauf halten wird er. Und ich habe ihn windelweich gebläut, und ich hätte ihn totgeschlagen in meiner Wut. Aber ich will alles wieder gleichmachen,[467] alles wieder gut; verlassen Sie sich auf mich, verehrlicher Herr Kandidat.«
»Nennen Sie mich doch du und Dezimus, wie sonst, Herr Amtmann,« sagte Dezimus lächelnd, worauf der Alte jedoch mit Eifer entgegnete:
»Beileibe nicht! Beileibe nicht ›höre‹ sagen zu einem, der einem zum geistlichen Troste abgesandt ist und einem die letzte Ehre erweisen darf. Nur wenns mir einmal so unversehens herausfährt, da nehmen Sie mirs nicht für ungut um der alten Freundschaft willen, verehrlicher Herr Kandidat.«
Wieder saß er eine lange Weile in Gedanken versunken, wiegte den Kopf und zählte an den Fingern. Dann aber schlug er jählings mit beiden Fäusten auf den Tisch, daß Kanne und Napf aneinanderklirrten, und rief mit einer Stimme, die an den alten Kraftmenschen Mehlborn erinnerte:
»Ja, so stimmts; so solls sein. So und nicht anders; so wahr ich Johann Mehlborn heiße! Alles soll dir zukommen, alles sollst du haben, Kandidat, alles! Denn warum? Wen habe ich außerdem? Und was wird, wenn ich fort bin, aus dem lieben Gut? Und du hasts um mich verdient. Denn warum? Was gehe ich dich an? Habe ich wie ein Pate an dir gehandelt oder nur wie Königs Prokurist? Wie ein Sakermenter habe ich an dir gehandelt, und du handelst an mir wie ein Christenmensch. Und du bist auch der Mann dazu, Kandidat. Was für ein hübscher Kerl du geworden bist! Komm doch einmal recht dicht an mich heran; mein Gesicht ist bei Abend ein bißchen blöde geworden. Aber das hat nichts auf sich. Was ich sehen will, sehe ich doch. Und schneiden lasse ich mich nicht. Partoutement nicht. Aber eine Brille will ich mir anschaffen,[468] wenn ich wieder gesund geworden bin. Eine grüne, wie die von Beyfußen. Grün stärkt.«
Der Kandidat mußte ganz nahe an seinen Stuhl treten, mußte sich bücken, drehen, sich betasten, bestreichen, der Länge und Breite nach mit den Fingerknöcheln ausmessen lassen, genau wie eine Kreatur, die vom Roßkamm erhandelt wird.
»Ja, weiß Gott, ein strammer Bursche bist du geworden,« wiederholte der Alte nach der Untersuchung. »Einen Kopf höher wie mein seliger Hannes und noch einmal so breit. Und schon einen Bart, und Haare so weich wie ein Seidenhase. Wie die Haare, so's Gemüt, stehts geschrieben. Und kein Finger tut dir weh, gelt? Hundert Jahre kannst du werden und was vor dich bringen in deinem Leben. Denn warum? Ein Rechenmeister bist du gewesen, wie du noch im Kittel liefst, und wie mans so nennt, einen Turkel hast du gehabt vom Mutterleibe an. Und siehst du, Kandidat, Glück haben ist im Menschenleben Numero eins und Grütze im Oberstübchen Numero zwei. Und wenn dein Vater auch als ein Saufaus bis zum Schafhirten heruntergekommen ist, ein richtiges Werbener Kind bist du doch und heißt anjetzo Herr Kandidat und dürftest einen abspeisen, und wenns ein König wäre; und wenn einer keine eigenen Angehörigen hat, da ist einem der Pate doch immer noch der nächste. Denn siehst du, Kandidat, meine Brigitte, die ist dir im Seebade ertrunken. Hätte sie ihre Schuldigkeit an mir getan, wäre sie bei mir geblieben, sie lebte heute noch und kriegte nun alles. Für wen habe ich mich geschunden und geplackt? Was habe ich nicht alles an sie gewendet: erst in der Benehmichte und dann bei der Wirtschaft mit dem Windhund von Baron! Hätte sie mir gefolgt, – aber Strafe muß sein, so stehts geschrieben,[469] und darum hat sie in ihren jungen Jahren daran glauben müssen. Und höre, Kandidat, der zweite Mann, den sie genommen hat, der ist dir noch zehnmal ärger als der erste. Denn warum? Der erste, das war doch bloß ein Schwerenöter, dahingegen der zweite, – na, es wird dir nicht verborgen geblieben sein auf deiner hohen Schule, – der zweite, das ist ein Freimaurer, so einer von der Zunft, die den Herrgott im Himmel absetzen will; und meine Brigitte, sagen die Leute, hat ihm mit ihrer Feder bei dem Geschäfte geholfen. Und nun stelle dir einmal die Wirtschaft hienieden vor, Kandidat, wenn den beiden und ihren Helfershelfern ihr Vorhaben gelungen wäre: keinen Schöpfer im Himmel, keinen Vater, keinen Richter und zu guter Letzt keinen Erbarmer! Der Erdenmensch ein Wurm, der auffrißt, was er findet, und am Ende selber von den Würmern gefressen wird!«
Der alte Mann machte eine Pause; er faltete die Hände, vielleicht betete er zu dem Erbarmer für seine Brigitte, die an die Würmer geglaubt, und die nun die Würmer nagten. Der Kandidat machte einen schwachen Versuch, ihn über die freimaurerische Wirksamkeit Frau Brigittens und ihres zweiten Gatten tröstlich aufzuklären, da er heute aber durchaus nicht in lehrhafter Stimmung war, lenkte er des alten Mannes Gedanken auf seine Enkelkinder, die jener völlig aus dem Gedächtnis verloren zu haben schien, schlug jedoch mit den bloßen Namen wie mit einem Stock in einen Wespenschwarm. Der alte Mehlborn, wie er vor zwanzig Jahren leibte und lebte, war jählings wieder aufgewacht.
»Die, die!« schrie er, die Hände zu drohenden Fäusten geballt, »die sind erst recht von der giftigen Couleur! Für die ist das vierte Gebot nun vollends ein Kinderspott. Meine Brigitte, die hat mir zum wenigsten doch alle[470] Monate einen Schreibebrief geschickt. Gelesen habe ich sie seit ihrer zweiten Heirat nicht mehr, aber aufgehoben habe ich sie alle, eine ganze Kiste voll, Kandidat. Aber die, die Brut! Fragt eines nur nach mir in meiner schweren Not? Da lassen sie mich blind werden und sterben und verderben. Und sie, juchhei, oben hinaus! Und wenn ich tot bin, da kommen sie und sacken ein. Aber prosit die Mahlzeit! Nichts sollen sie haben, das blanke Nachsehen sollen sie haben; du sollst alles haben, Kandidat. Grün und gelb sollen sie sich ärgern, bersten vor Bosheit sollen sie, Kandidat!«
Der Kandidat ließ geduldig den aufgebrachten Großvater seinen Ingrimm auspoltern, setzte sich und dachte an seine liebe stille Mutter im Grabe und sein liebes stilles Röschen auf dem Krankenbett. So viel von der menschlichen Naturgeschichte verstand allenfalls auch er, um zu wissen, daß ein deutscher Bauer, solange er noch einen Blutserben hat, sein Hab und Gut nicht einem Fremden gönnt, und wenn der Fremde sein bester Freund und der Blutserbe sein Erzfeind wäre. Der schwarze Tod und die Patenerbfolge erledigten sich Hand in Hand. Ohne Widerrede rückte er daher auch, wie der Alte es ihm hieß, eine schwere Eisentruhe unter seinem Stuhle hervor, setzte sie vor ihn auf den Tisch, öffnete sie und reichte ihm das Kontobuch, das obenauf lag. Des Blinden zitternde Finger blätterten darin, während er mit einem mißtrauischen Schielen sagte:
»Bei Heller und Pfennig weiß ich, was drinne steht, und was im Kasten drinne liegt, bei Heller und Pfennig weiß ichs auch. Nur über das Mußteil bin ich nicht ganz helle. Denn siehst du, Kandidat, das Mußteil kann ich ihnen nicht entziehen, so stehts einmal geschrieben im Gesetz. Aber[471] keine hohle Nuß kriegen sie über das Muß; das übrige kriegst du, alles du, Kandidat. Und wenn wirs miteinander ausgerechnet haben, dann lasse ich anspannen, und du fährst heute noch in die Stadt und holst die Gerichte. Aber nicht den alten Hecht. Ich hätte es für die Langeweile bei ihm, denn er ist mein Justiz. Ich wende es aber dran: du holst das richtige Amt. Denn siehst du, Kandidat, der Hecht, der ist ein Fuchs. Der hat mir die Suppe mit der alten Exzellenz eingebrockt, und du, armer Kerl, hast sie austütschen müssen. Wahrlichen Gott! ich hätte dich totgeschlagen, so war ich in der Wut. Aber nun kriegst du dafür auch deinen Lohn, und wenn die Sonne aufgeht, ist alles baumfest gemacht, und der dickschnäuzige Absalon und seine bucklige Schwester sollen daran glauben lernen, einen Muttervater wie Johann Mehlborn über die Achsel anzugucken.«
»Sie irren, Herr Amtmann,« wendete Dezimus ein. »Ihre Enkelin ist eine vortreffliche Dame, sehr gescheut und gar nicht stolz. Sie wird ohne Säumen zu Ihrer Pflege herbeieilen, sobald ich ihr schreibe, daß Sie nach ihr verlangen.«
»Ich verlange aber nicht nach ihr, dummer Junge,« fuhr der Alte auf, »und das Schreiben sollst du unterwegs lassen! Das Muß sollst du mir ausrechnen, und in die Stadt sollst du fahren und mir die Gerichte holen.«
»Ich verstehe mich auf derartige Berechnungen nicht, Herr Amtmann,« versetzte Dezimus, »und für einen Stadtweg habe ich heute abend keine Zeit. Ich muß nach Hause eilen, da Vater und Schwester krank liegen.«
Der alte Mehlborn zuckte bei den letzten Worten zusammen, als sähe er ein Gespenst. Hatte eben noch der Bär gebrummt, nun krümmte sich der Wurm.[472]
»Die auch! die auch!« ächzte er. »Das Rosenpatchen auch! Großer Gott, in deine Hände! die auch den schwarzen Tod!«
»Wir fürchten so Schlimmes nicht, Herr Amtmann. Nur die starke Erschütterung – –«
»Aber sie liegt doch krank, sie kann doch sterben, und sie wird auch sterben, schon mir zum Schure wird sie sterben und vor mir hinaufgehen und mich droben anklagen bei meiner Röse – und – und – und das wars ja eben, derhalben ich den Herrn Pastor zu mir herunter genötigt habe, und was Sie nun als sein Abgesandter anhören sollen, verehrlicher Herr Kandidat, daß Sie, wenn Sie mir den Lebenslauf halten, mich nicht vor der lieben Menschheit blamieren.«
So hörte denn Pate Kandidat als ehrwürdiger Beichtvater das Bekenntnis an, das halb mit Reue und halb mit Selbstbeschönigung sich der alten Seele in ihrer vermeintlichen Todesnot entrang. Habsucht, Geiz, Hartherzigkeit im allgemeinen war es nicht, was ihn behelligte, und unerwartet Besonderes erfuhr der Sohn Mutter Hannas auch nicht. Der Mann, der für einen Millionär geschätzt wurde, war, um zirka hundert Taler willen, seiner treuesten Freunde Feind geworden, und ohne daß er es sich eingestand, sein eigener zumeist, denn mit dem Respekt vor sich selbst war es seitdem vorbei, mit dem vor allen andern Leuten aber auch; denn was ich denk und tu, das trau ich anderen zu.
Er hatte die Patenbüchse aus der Hand seiner sterbenden Röse genommen, mit dem Gelöbnis, sie der Frau Pastorin zu dem bewußten Zwecke auszuhändigen, und diese Aushändigung nun, »die hatte er in der Rage vergessen.« Er hätte sie freilich auch gar nicht nötig gehabt; denn was in[473] der Wirtschaft erübrigt wird, gehört dem Ehemann und nicht der Frau; so steht es geschrieben im Gesetz; und schwarz auf weiß war auch nichts über die Sache dagewesen. Wenn einer aber einen in den letzten Zügen liegen sieht, verspricht er manchmal etwas, was ihn nach der Zeit wurmt. Kurz und gut: der Amtmann hatte die Patentaler – beileibe nicht etwa unterschlagen – nur auf Hypothek gegeben, jetzt aber wollte er sie ausliefern, obendrein Zins auf Zins; aber freilich nur dritthalb Prozent, denn mehr komme bei der Ökonomie nicht heraus, und tue er ein übriges mit einem Dokument über hundertfünfzig Taler. Das aber sollte der Kandidat noch diese Nacht seiner Schwester aushändigen, ehe sie etwa auch noch daran glauben müsse und Johann Mehlborn am Ende als ein schwerer Sünder von seiner Rosine vor Gottes Thron empfangen werde.
Er kramte während dieser Beichte unter den Papieren in seinem Kasten und tastete trotz Blindheit und schwarzen Todes geschickt genug ein Hypothekendokument hervor, von welchem der Kandidat nicht mit Unrecht vermutete, daß es auf schwachen Füßen stehe, da Johann Mehlborn sich sonst wohl kaum so leichten Herzens von ihm getrennt haben würde. Er, der Kandidat, machte zwar den Einwand, daß er die Sache erst mit seinem Vater bereden und morgen dessen Entscheidung bringen werde, da er aber sah, wie so gar eilig der Alte es hatte, zwei Fliegen mit einem Schlage zu klappen, indem er gleichzeitig sein Gewissen entlastete und sich eines verdrießlichen Wertzeichens begab, steckte er das Schriftstück ein.
Mit merklich erleichtertem Herzen sagte der reuige Sünder darauf:
»Und wie ichs mit dir vorgehabt, Kandidat, dabei[474] bleibts. Denn warum? wer solls kriegen? Und weißt du, was meine Röse in ihrem letzten Stündlein für mich gesagt hat? ›Johann,‹ hat sie gesagt, ›sooft du der armen Hirtenwaise etwas zugute tust, wird es der liebe Heiland dir an Leib und Seele gesegnen.‹ Und was einer in seinem letzten Stündlein prophezeit, das kommt von oben. Der Herr wird mirs an meinem Leiblichen gesegnen. Und darum sollst du alles haben, Kandidat, alles bis auf das Muß.«
Der Kandidat riet ihm, die Angelegenheit zuvörderst zu beschlafen, dann ruhig zu überlegen, bis eines seiner Enkelkinder, mit dem er sie besprechen könne, in seiner Nähe sei. »Nur eine Woche Geduld, Herr Amtmann, und ich bürge Ihnen dafür, daß wenigstens Fräulein Sidonie Ihnen zur Seite steht.«
»Wenn sie die Erbschaft wittert, ja warum denn nicht!« versetzte der Alte mit höhnischem Gelächter. »Was ein Rabe ist, fliegt nach Gold.«
»Ich wiederhole Ihnen, Sie verkennen Ihre Enkelin, Herr Amtmann. Fräulein Sidonie ist weder hoffärtig noch verschwenderisch. Sie hat diese Jahre her Klavierstunden gegeben, um ihrer seligen Mutter die Haushaltung zu erleichtern.«
Das war eine glückliche Wendung. Sie machte dem reichen Mann, der sein einziges Kind hatte darben lassen, sichtbar einen bedeutenden Eindruck. »Stunden? Stunden für Geld?« fragte er.
»Für Geld, Herr Amtmann.«
»Aber was kann bei dem Fingerieren denn herauskommen, Kandidat?«
»Fräulein Sidonie ist sehr geschickt in ihrer Kunst; sie schlug ihren jährlichen Erwerb auf tausend Taler an.«[475]
»Wa–wa–was, tausend, tausend Taler?«
»Sie wird aber keinen Augenblick anstehen, diesen einträglichen Erwerb aufzugeben, um dem Vater ihrer seligen Mutter – –«
»Na, die Spielstunden, die müssen ihr freilich angerechnet werden im Testament,« unterbrach ihn der Alte. »Für dich bleibt dann immer noch genug und satt, Kandidat. Aber mehr, als das Muß und die Stunden zu Kapital gemacht, nicht. Denn siehst du, Kandidat, die Sache hat einen Haken. Das Mädchen ist schief. Und wenn einer schief ist und wenn einer schielt, da traue ich ihm nicht quer über den Weg. Und Männer kriegt sie, weil sie ausgewachsen ist, wohl zehne, aber Nachkommenschaft keine. Und wenn an Nachkommenschaft nicht zu denken ist, was wird da aus dem schönen Anwesen, das Johann Mehlborn sechzig Jahre lang sich zusammengerackert? Grund und Boden wird um ein Dudeldei verschleudert, alles zu bar gemacht für den Bruder Luft und von dem Bruder Luft außer Landes verjuchheit. Nein und ein Punktum dahinter: Nein! Die Wirtschaft muß beieinanderbleiben; der Bruder Luft soll auch auf Umwegen nichts erlangen, keinen Pfifferling über das blanke Muß!«
Dezimus wendete ein, daß Fräulein Sidonie besser als er selbst imstande sein werde, des Großvaters ungünstige Meinung über seinen Enkelsohn zu zerstreuen, und daß sie für ihre eigene Person gar wohl an die Gründung einer Familie denken dürfe, da ihr körperliches Gebrechen durchaus nicht so erheblich sei, als jener es sich in den Jahren der Entfernung vorgestellt. Fräulein Sidonie wäre eine gesunde und sehr hübsche Dame. Das aber waren gute Worte und keineswegs in den Wind geredet. Der Großvater dachte schon gar nicht mehr an das Patenerbe, und[476] wenn er es auch nicht eingestand, brannte er vor Verlangen, sein Tochterkind zur Stelle zu haben. Als Dezimus erklärte, daß er sie morgenden Tages nach Werben einladen werde, da hatte der alte Mann nur noch das einzige Bedenken, daß das Schweizerland erschrecklich weit gelegen sei und der schwarze Tod raschen Prozeß mit einem Menschen mache. Der Kandidat suchte ihn auch darüber zu beruhigen.
»Doktor Kurze versichert ja aber, daß Sie von der bösen Krankheit gar nicht befallen seien, Herr Amtmann, und Sie sehen auch wahrlich nicht danach aus, als ob Sie dieselbe zu befürchten hätten.«
»Nicht, meinst du wirklich nicht, Kandidat? Aber siehst du, meine grausamen Schmerzen!«
»Wo tut es Ihnen denn weh, Herr Amtmann?«
»Hier und da, ach du meine Güte, überall. Das Herzgespanne! das Kreuze – –«
»Aber zum Aushalten ist es doch?«
»Je nun, zum Aushalten wäre es allenfalls. Aber die Beine, wie die steif sind und eiskalt. Und höre nur, Kandidat, wie's mir im Bauche knurrt.«
»Sie werden Hunger haben, Herr Amtmann.«
»Na freilich, Mordhunger! Die Krankheit heißt ja eben darum die Hungerseuche. Denn wenn einer, der sie hat, was zu sich nimmt, drückt es ihm auf der Stelle das Herz ab. Seit zwei Tagen ist kein Bissen über meine Lippen gekommen. Nur wie ichs gar nicht mehr aushalten konnte, hat mir die Timpeln ein bißchen von ihrem Tee und von ihrem Mehlmus geschickt. Ich konnte aber nicht einen Löffel voll hinunterbringen, so wendete sich mir das Eingeweide um. Und siehst du denn nicht, Kandidat, meine Hände sind schon ganz schwarz.«
»Der Lampenschatten fällt darauf, Herr Amtmann. Ei,[477] nicht doch, Sie haben sich beim Torfanlegen geschwärzt. Waschen Sie sich, und Sie werden sehen, daß sie rot wie alle Tage sind.«
»Waschen, ja waschen!« entgegnete der Alte in ärgerlich weinerlichem Tone. »Wo soll ich denn Wasser hernehmen und Seife und eine Quehle? Kann ich denn aufstehen? Habe ich denn einen, der nach mir fragt? Ja, wenn meine Röse noch lebte oder mein Sidonchen wäre schon da. Siehst du, Kandidat, wenn einer ein Lump ist, da springen die Leute ihm bei und greifen ihm unter die Arme. Wenn einer aber in Schweiß und Plack etwas vor sich gebracht hat, da beschreien sie ihn, wünschen ihm die schwere Not an den Hals, und ist sie da, lachen sich die Neidhammel in die Faust. Du wirsts schon auch einmal erleben, Kandidat, wenn du erst oben in deiner schönen Pfarre sitzest.«
Der geistliche Berater und Beichtiger ging in die Küche, holte warmes Wasser und Waschzeug und reinigte dem reuigen Sünder das Gesicht, das nicht weniger wie die Hände von Ruß und Kohle geschwärzt war, dann aber ließ er den Sünder sich die Hände so lange seifen und reiben, bis wieder eine menschliche Farbe zum Vorschein kam. Von Gram und Sorge bedrückt, wie er war, und wahrlich nicht aufgerichtet durch die kindische Zerknirschung und selbstsüchtige Großmut einer Greisenseele, die sich am Grabesrande wähnt, muteten diese Handreichungen ihn nahezu erheiternd an. Denn wenn eine rasche, mutige Tat, für welche einem Menschen – und auch nur dem glücklichsten – vielleicht ein- oder zweimal im Leben die Herausforderung geboten wird, ihn aus seiner Bedrängnis über sich selbst erhebt, so sind es die gemeinen Erweisungen des Tageslaufs, welche das gestörte Gleichgewicht mählich wieder in die Richte bringen. Und ist[478] denn dieses Gleichgewicht am Ende nicht unser wahrhaftes Glück?
Die Hände waren rein; auch das Zimmer notdürftig gelüftet und das qualmende Ofenfeuer zum Lodern gebracht. Der Kandidat riet dem armen Hungerleider nunmehr auf seine seelsorgerische Verantwortung hin, sich etwas Leibliches zugute zu tun, erbat sich die Schlüssel zu Keller und Speisekammer, die der Hausherr Muhme Timpeln bei ihrer Erkrankung abgenommen, holte Brot und einen Schinken, entdeckte glücklich auch noch eine Flasche alten Rheinweins, die während der stolzen Magnatenzeiten in das Haus gestiftet und in einem Kellerwinkel vergessen worden sein mochte. Und der arme Todeskandidat schlürfte den Labetrunk wie ein lechzender Storch und verschlang die köstlichen Mundbissen wie ein ausgehungerter Wolf.
»Ach, wie das gut tut!« rief er ein über das andere Mal sich auf den Magen klopfend. »Nun erzeige mir aber auch noch den Gefallen, Kandidat, und stelle die Neigen hier unter meinen Stuhl, daß keiner dazu kann und ich sie gleich bei der Hand habe. Oder möchtest du etwa auch ein Häppchen?«
Dezimus dankte.
»Aber doch einen Schluck?«
»Auf Ihr Wohl, Herr Amtmann!« sagte Dezimus, indem er ihm das Glas aus der Hand nahm. Der Alte bemerkte schmunzelnd, daß es sich nicht leerer anfühlte, als es ihm wieder zurückgereicht wurde.
Noch mußte der Kandidat die Eisenlade wieder sorgfältig schließen und verbergen, dann entkleidete er den taumelnden alten Mann, führte ihn an sein Bett, und nachdem er ihm die dicke Federdecke bis an die Ohren gezogen, dies kaum geschehen auch schon die ersten Laute eines[479] Mehlbornschen Schlummers vernommen hatte, schüttelte er den Staub von seinen Füßen und eilte freiaufatmend seinem stillen Hause zu. Als er sich der Fähre näherte, hörte er ein Posthorn schmettern; ein Wagen bog von der Stadtseite her in die Dorfgasse ein. »Wiederum ein Kranker, dem ein Arzt zu Hülfe gerufen worden ist,« dachte Dezimus seufzend.
In der Pfarre ruhte der Vater bereits, und Peter Kurze sehnte sich laut gähnend, nach des Tages Lasten auf seiner Sprungfedermatratze einen tiefen Schlaf zu tun. Auch dem armen Bräutigam fielen vor Erschöpfung die Lider zu. Auf die litauische Lene war ja Verlaß. Strickstrumpf und Kaffeetrank halten alte Augen wach; das liebe Röschen war ja auch ihr Hätschelkind, und leider verlangte es nichts anderes als dann und wann mit einem matten Blick nach einem Tropfen Wasser. Dezimus warf sich in seinen Kleidern auf das Sofa der offenen Nebenstube. Der Tag, der im hehrsten Schmerzgefühl begonnen hatte, in Trübsal und Trivialität verlaufen war, endete mit einem Totenschlaf. Darf einer aber ein Glücklicher heißen, der mehr als einen solchen Tag erlebt?
Am anderen Morgen entschied der Vater dafür, das Dokument anzunehmen. Sein Wert erschien auch ihm äußerst fragwürdig; »aber,« meinte er, »was kann es uns auf ein Dankeswort ankommen, wenn der kindische alte Mann durch dieses Scheingeschenk mit sich selber ausgesöhnt wird?«
Dezimus machte den Versuch, sein Röschen durch die Mitteilung von dem Patenlegat zu erheitern. Sie verblieb unbeweglich mit halb geschlossenen Lidern, und als er die blassen Wangen streichelnd sie fragte, ob sie sich denn nicht[480] auf das kleine Treibhaus, das sie sich für das Geld bauen wollten, ein wenig freue, wendete sie, als ob sie kein Wort mehr hören möge, den Kopf nach der Wandseite. Das bewegliche junge Herz schien gegen Wunsch wie Gram erschlafft. Dezimus zitterte bei der Vorstellung, daß das liebste Leben in solch geheimnisvoller Stille entweichen könne. Er hätte die welken Hände nicht aus den seinen lassen, die Blicke nicht von dem weißen Rosenantlitz verwenden mögen.
Aber der Vater gestattete ihm kein müßiges Weilen. »Laß den Greis wachen,« sagte er, »und wirke du an seiner Statt.«
Der Amtsbruder in Bielitz mußte um seine Vertretung bei sakramentalen Handlungen angegangen werden, in manches Kranken-, in manches Trauerhaus der Untergemeinde war Ermutigung und Trost zu tragen. Ja, Vater Blümel ging so weit, an die Vorbereitung zur Sonntagspredigt, des Sohnes erste Predigt, zu mahnen; damit hatte er des Sohnes Kraft und guten Willen aber doch überschätzt.
Der Abend dämmerte, als er das Gut betrat, in welchem er die dankbare Annahme des Vermächtnisses melden sollte. Wie eilig er nun aber auch war, wie tief von Weh und Angst erschüttert, wie bänglich er sich in die stille Leidenskammer der Geliebten sehnte: eine sonderbare Veränderung des verwahrlosten Herrenhauses konnte ihm nicht entgehen. War es doch, als ob kleine dienstfertige Wichtelmännchen über Nacht darin gewaltet hätten. Die blinden Fensterscheiben blinkten hell, die Spinneweben waren fortgefegt, die Steinfliesen des Flurs geschwemmt und mit weißem Sand bestreut; aus Kohlenpfannen wirbelten würzige Wacholderdämpfe in die Höhe. Auch die Wohnstube war gescheuert und gelüftet, auf dem sauber gedeckten Tische[481] Wein und ein Vesperimbiß aufgetragen. Der Amtmann gewaschen, gekämmt und rasiert, mit dem guten Kirchenrock angetan, schien um ein Mandel Jahre verjüngt, um seine breiten Lippen spielte eine neckische Laune, die früherhin keineswegs zu seinen Temperamentseigenschaften gezählt hatte. Als Dezimus vom Flur her das Zimmer betrat, verließ es jemand durch die Kammertür. Wer? war im Zwielicht nicht zu unterscheiden. Das Rauschen eines Frauenkleides ließ indessen darauf schließen, daß Muhme Timpel die Anfechtung von Wellfleisch und Sauerkraut so glücklich überwunden habe wie ihr alter Herr den Würgengel der Hungerseuche, und daß zum Dank für diese Gnade sie einen neuen, reinlichen Menschen angezogen.
Dezimus richtete seinen Auftrag und sprach seine Befriedigung über des Herrn Amtmanns sichtliches Wohlbefinden aus, worauf der Herr Amtmann, indem er das Glas, aus welchem er sich eben gestärkt hatte, aus der Hand setzte, lachend erwiderte:
»Na ja, mein Junge, wie es so den Anschein hat, kannst du es noch zum richtigen Pastor bringen, ehe du mir den Lebenslauf zu halten hast. Aber höre, Kandidat, die Klughänse von Doktores, die sollen mir mit ihrem Mehlmus und Kamillentee gewogen bleiben. Nicht heraus, hinein treiben sie das schwarze Gespenst. Du bist mein Mann, Pate, mit deinem Schinken und deinem Wein! Aber freilich, noch ein drittes muß dazukommen, wenn dem Morbus der Garaus gemacht werden soll.«
Er blinzelte bei diesen Worten mit den Augen, die nicht mehr ganz scharf sehen, und spannte mit den Ohren, die noch immer sehr scharf hören konnten, nach der Kammertür, durch welche der Weiberrock verschwunden war. Pate Kandidat aber lächelte und dachte: »Jawohl, das Gemüt,[482] befreit von dem Druck eines Handgelöbnisses und eines unsicheren Dokuments.«
Der so wunderbar vom Tode Gerettete rieb sich seelenvergnügt die Hände. Plötzlich jedoch schien eine unbehagliche Vorstellung ihm durch den Kopf zu schießen. Er fragte, ob der Kandidat sich mit der Zitation des städtischen Gerichts auch nicht übereilt habe, und als die Frage verneint ward, kehrte die joviale Stimmung ihm zurück.
»Siehst du, mein Junge,« sagte er, »es wäre bloß weggeschmissenes Geld. Wofür brauche ich denn ein Testament? Du wirsts wohl gemerkt haben, es war nächtens in meinem Oberstübchen nicht ganz helle. Die grausame Krankheit hatte mir gar zu schmählich mitgespielt. Und darum hattest du von wegen des Beschlafens wieder einmal ganz recht. Heute bin ich auf dem richtigen Punkte. Wozu brauche ich einen letzten Willen? Ich habe zwei leibliche Tochterkinder, und das mit dem Muß – Pflichtteil nennens die Gerichte, ich konnte mich nur nächtens nicht auf den gehörigen Titel besinnen – wäre zuwider Gottes Ordnung in der Heiligen Schrift. Meinst du nicht auch, Kandidat?«
»Jedenfalls, Herr Amtmann, zuwider der Natur und einem gütigen Vaterherzen,« antwortete Dezimus.
Der Amtmann drückte ihm, nach seiner Art gerührt, die Hand. »Eine ehrliche Haut bist du, Kandidat,« sagte er, »das muß der Feind dir lassen. Eine grundehrliche Haut. Und helle bist du auch, mordhelle, hast ein Einsehn in jedwede Sache, wie sie schmeckt und riecht. Aber dein Schade solls nicht sein. Verlaß dich auf den alten Mehlborn, wenn er auch nicht dein Pate ist. Denn was verschlägt am Ende ein königlicher Prokurist? Der alte Mehlborn hats gut mit dir im Sinn.«
Er machte eine Pause, simulierte ein Weilchen, indem er,[483] wie vorhin, nach der Kammertür starrte, dann hob er von neuem an:
»Siehst du, Kandidat, es ist mir über Nacht, wie man zu sagen pflegt, ein Licht aufgesteckt worden. Mein Enkelsohn betreibt in der französischen Hauptstadt die Wissenschaft und schreibt Lesebücher. Er hat die Kunst von seiner Mutter, meiner Brigitte, geerbt; nur daß das, was mein Enkelsohn macht, sich reimt wie die Lieder, die im Gesangbuche stehen. Aber eine Sünde ist das Versemachen nicht und eine Schande auch nicht; und ein ganz hübsches Stück Geld kommt bei dem Bücherschreiben heraus. Meinst du nicht auch, Kandidat?«
»Unter Umständen allerdings.«
»Unter Umständen bloß, he? Wovon hätten denn meine Brigitte und ihr Professor gelebt und gut gelebt? Geld wie Heu, sage ich dir, wenn auch nicht ganz so viel, wie sich bei der Ökonomie herausschlagen läßt. Aber die kann mein Enkelsohn ja auch noch betreiben lernen, er ist ja noch ein junges Blut. Was aber den Professor anbelangt, den Wittmann von meiner Brigitte, kein Gedanke an einen Freimaurer bei ihm! der Beyfuß ist ein Esel, daß er mir den Freimaurer in den Kopf gesetzt. Die Lesebücher, die der Professor schreibt, kann einer wie Beyfuß ja gar nicht verstehen. Und den Herrgott hat der Professor in seinen Schriftstücken auch beileibe nicht abgesetzt. Nur einen anderen Mantel hat er ihm umgehängt; grasgrün und himmelblau, statt nach der alten Mode Purpur und Gold. Na, das ist seine Sache. Herrgott bleibt Herrgott. Die Hauptsache ist das Gesetz. Was nun aber vollends mein Sidonchen – –«
Er machte von neuem eine Pause, und Dezimus stand vor Staunen starr und stumm. Wer hatte dem blinden[484] Greise dieses Licht aufgesteckt? Ein Traumgeist, der Geist des Weins, oder bloß das Frohgefühl der Genesung? Hatte Peter Kurze ihn in die Kur genommen? oder etwa – etwa Lydia? Zuzutrauen wäre die Absicht dem weißen Fräulein sicherlich gewesen; aber die Wirkung, diese Wirkung einer Lydia auf einen Johann Mehlborn? Des Kandidaten Blicke folgten denen des Amtmanns nach der Tür. Er unterschied aber nichts als die blankgeputzte Messingklinke.
»Was aber mein Sidonchen anbelangt,« fuhr der Alte fort, »so hast du zum dritten Male wahrgesprochen, Kandidat. Mein Sidonchen ist dir ein ganz scharmantes Mädchen; rund und rot wie ein Borsdorferapfel, zum Anbeißen, sag ich dir, und von wegen des Schulterstücks, na, weiß Gott, die Brille müßte einer aufsetzen, wenn er die Schiefigkeit bemerken sollte!«
Kicherte da nicht jemand hinter der Kammertür? Törichte Einbildung! es ist ja alles mäuschenstill, und der über Nacht bekehrte Großvater fährt auch ganz ungestört in der Anpreisung seines Fleisches und Blutes fort: »Zehn Männer, Kandidat, kann dir mein Sidonchen kriegen; ein Dutzend Wochenbetten wären nicht zuviel für sie; bis zur goldenen Hochzeit kann sie's bringen. Und höre, Kandidat, gescheut ist dir mein Sidonchen, gescheut wie ein Advokat, und die Worte kann sie dir setzen wie der allerschönste Pastor, und auf die Wirtschaft versteht sie sich, daß meine selige Röse dir nichts, egal gar nichts dagegen gewesen ist. Eine Käserei will sie bei mir anlegen, so wie sie draußen in der Schweiz schon manchen armseligen Hutmann, wie dein Vater einer war, Kandidat, zum reichen Manne gemacht hat. Nur daß draußen, außer dem Rindvieh, anstatt wie bei uns Schafe, mehrenteils Ziegen gehalten werden und die Ziegen[485] nicht so viel Fütterung brauchen. Dafür haben wir aber die Wolle.«
Der Kandidat faßte sich mit beiden Händen nach der Stirn. Träumte er, oder war hier ein Wunder geschehen? Sollte Sidonie geschrieben haben? Aber der blinde Großvater hätte den Brief ja nicht lesen können. Die Frage nach Lydia brannte auf seinen Lippen, des Alten Redefluß ließ sie aber nicht zum Ausdruck kommen.
»Und siehst du, mein Junge,« fuhr er in einem Atemzuge fort, »weil du doch nun einmal halb und halb meine Pate bist und ich dir den Inspektor versprochen und nicht gehalten habe, – denn warum? du wolltest ja nun einmal absolut auf den Postor studieren, – und weil meine selige Röse dich mir, sozusagen, aufs Herz gebunden hat, und weil ich dir nächtens, wo mich die Morbuslaune ein bißchen benebelt hatte, mit der Erbschaft einen Floh ins Ohr gesetzt habe; desselbigengleichen aber auch, weil die Werbensche Pfarre ein einträglicher Posten ist und einer ganz bequem die Wirtschaft auf dem Talgute daneben betreiben kann, und weil die paar Tausend Legation von dem römischen Fräulein doch auch eine angenehme Zubuße sind, kurz und gut, weil alles klappt und stimmt wie gemaust, derhalben will ich dir mein Sidonchen zur Frau geben, und lieber heute als morgen kann die Hochzeit sein.«
Dezimus, bei aller Betrübnis seiner Seele, hatte Mühe ein Lachgelüst niederzukämpfen, und noch war er zu einer schicklichen Gegenrede nicht gelangt, als eine kühle Frauenhand sich in die seine legte und eine wohlbekannte klangfrische Stimme fragte:
»Nun, was sagen Sie zu dem Antrag, Johanniskind?«
Da stand er denn wie eingewurzelt mit stockendem Atem, so, als wäre der liebe Mond gleich einer Bombe zu seinen[486] Füßen niedergeplatzt. Gottlob! daß es halb Nacht in der Stube war und keiner bemerken konnte, wie der kalte Angstschweiß ihm von der Stirne tropfte.
Der alte Mehlborn hatte nach seiner anstrengenden Werbung sich durch ein Spitzgläschen von seiner bewährten Medizin gestärkt; – Johann Mehlborn stand wahrlich in Gefahr, in alten Tagen zum Bacchusjünger auszuarten! – nun kicherte er, sich die Hände reibend, vor sich hin:
»Stockstumm vor Pläsier steht er da, hihihi! wie der dumme Junge von Meißen steht er da, hihihi!«
»Sie sagen nichts, und das ist genug gesagt,« flüsterte Sidonie, indem sie langsam ihre Hand aus der seinen zog; Dezimus aber, der sich mühsam gefaßt hatte, erwiderte:
»Ich beklage, gnädiges Fräulein, daß diese Greisenschrulle vor Ihren Ohren laut werden mußte, und ich beschwöre Sie, zu glauben – –«
»Na, was tuschelt Ihr denn so heimlich miteinander?« unterbrach der Großvater die feierliche Beschwörung. »Liebeswörtchen schon? hihihi!«
»Nicht doch, Großvater,« antwortete Sidonie mit ruhiger Stimme, wennschon Lippen und Glieder leise zitterten. »Der Schlaukopf hat es gemerkt, daß du deinen Spaß mit ihm getrieben.«
»Ich, einen Spaß? einen Spaß, ich?« rief der Alte völlig verdutzt.
»Nun was denn sonst, Großvater? Habe ich dir denn nicht gesagt, daß er schon seit Jahren ein Schätzchen im Herzen trägt? Nicht? Ei was, da habe ich gedacht, die Sache verstünde sich von selbst. Siehst du, Großvater, ein Kandidat, der bloß mit einer Herzallerliebsten von der hohen Schule abgeht, der kann sagen, daß er noch mit einem[487] blauen Auge davongekommen ist; gewöhnlich erfreut er sich schon einer verlobten Braut. Habe ich nicht recht, Herr Kandidat?«
»Soweit es meine Person betrifft, allerdings, gnädiges Fräulein,« antwortete Dezimus bewegt, »ich habe seit Jahren eine Liebe im Herzen getragen, und die Geliebte ist meine verlobte Braut geworden. Auf ihrem Sterbebette hat meine Pflegemutter die Hand ihrer Tochter in die meine gelegt für das Leben.«
Er atmete nach diesem Geständnis auf wie erlöst. Sidonie war betroffen ein paar Schritte zurückgewichen; es war minutenlang in dem dunklen Zimmer kein Atemzug zu hören. Jählings jedoch schlug der alte Mehlborn mit beiden Fäusten auf den Tisch und stieß mit der Naturkraft seiner guten Tage einen Fluch aus, vor welchem eine andere nervenschwache Dame als die gegenwärtige bis zur Ohnmacht erschrocken sein würde. »Das ist,« schrie er, nachdem das Donnerwetter ihm Luft gemacht, »das ist ja egal wieder so ein hinterrückscher Streich wie dazumal der mit der alten Exzellenz, das ist ja – –«
»Nicht doch, Großvater,« unterbrach ihn Sidonie, die sich gefaßt hatte. »Es ist eine Zuneigung und ein mütterlicher Plan von Kindesbeinen an. Wenn du in letzter Zeit mehr mit unseren guten Freunden in der Pfarre zusammengekommen wärest, würdest du den Braten längst gerochen haben.«
Sidonie lachte bei den Worten mit seltsam vibrierendem Klang; der Bär war aber einmal aufgewacht, und so brummte er sich unerschütterlich aus.
»Schwatz doch nicht so dummes Zeug, Sidonchen! Das ist ja alles nicht hotte und nicht hü. Wenn zwei miteinander in der Boje gelegen haben, zum Henker, das ist ja egal,[488] als ob Bruder und Schwester Mann und Frau werden wollten. Die Geschichte muß auseinander. Ein Sterbebett ist doch nicht etwa Gottes Altar und Brautstand noch lange kein Ehestand. Der Junge müßte ja des Teufels sein, Sidonchen. Die kleine Röse ist arm wie eine Kirchenmaus, und mit dir kriegt er einmal ein Rittergut und eines in der Tasche obendrein.«
Sidonie lachte von neuem und natürlicher als vorhin.
»Ja, wenn er nur früher gewußt hätte, wie gut du es mit ihm vorhattest, Großvater,« sagte sie, trat an den Tisch, schenkte das Spitzgläschen wieder voll, und der Großvater, nachdem er es ausgeschlürft, streichelte ihrzärtlich die Backen und sagte schmunzelnd, von einem lichtvollen Einfall durchzuckt:
»Weißt du was, mein Sidonchen, weil du es bist, will ich ein übriges tun. Höre, die kleine Röse, so pauvre wie sie ist, die geben wir deinem Mäxchen, und er zieht mit ihr hinüber und wirtschaftet als mein Verwalter in Bielitz. Du nimmst den Kandidaten und bleibst hüben bei mir. Und wenn dein Mäxchen etwa – –«
»Du hast recht,« fiel Sidonie ein, »das wäre ein Vorschlag zur Güte, den wir miteinander überlegen wollen, Großvater. Jetzt aber mußt du durchaus ruhen. Das viele Sprechen hat dich angegriffen; du siehst schon ganz blaß aus und bist rauh auf der Brust. Daß um Gottes willen kein Rückfall kommt! Mit solch einer Krankheit ist nicht zu spaßen, Großvater!«
Der störrische alte Mann gehorchte wie ein Kind. Er ließ sich von seinem Sidonchen nach dem Kanapee führen, streckte sich, wie sie es vorschrieb, »der Länge lang« aus und drückte die Augen zu. Bald verriet der schnarchende Atem, daß die ungewohnte Labe auch heute wieder ihre[489] Schuldigkeit getan. Sidonie legte ihren Arm in den des Kandidaten, und sie verließen das Zimmer.
Eine Weile gingen sie nebeneinander her und schwiegen sich aus. Ach, solch ein armseliger Stümper ist ja der stolze Willensheld, Mensch genannt, daß eine unbehagliche Situation die wärmsten Affekte seiner Seele wettzumachen vermag. Wo fänden wir den idealen Helden, welcher die Weihe des Ostermorgens Doktor Fausten unverdrossen nachempfunden hätte, wenn ebenso unverdrossen eine Brummfliege sich auf seine Nase setzte? Dezimus Frey hatte gestern seine Mutter begraben, er zitterte für das Leben einer geliebten Braut, rings um ihn her wüteten Tod und Verderben, in diesen Minuten jedoch empfand er nichts, rein gar nichts als die Verlegenheit des armen Schäfersohnes, der einem reichen Edelfräulein ins Angesicht einen Korb gegeben hat; eine Verlegenheit, die allerdings Märchenhelden öfter empfinden werden als ein Kandidat der Theologie. Die Not wurde aber immer romantischer, da das verschmähte Edelfräulein sich mit der Unbefangenheit einer glücklichen Braut an des Schäfersohnes Arm hängte und zweiselig mit ihm im Mondenschein spazierte über den Hof, durch den Garten, längs des murmelnden Flusses, bis zu dem friedlich ruhenden Nachen. Das Fräulein hätte, fürchten wir, bis zur Stadtbrücke mit dem Hirtensohne spazieren können, ohne daß ihm in der Schwüle seines Intellekts ein würdiges Wort oder auch nur eine unwürdige Redensart zur Aufklärung und Entschuldigung gelungen wäre.
Das Fräulein war es, welches, beherzter als er, endlich den Bann der Stimmung brach, und – ja Laut scheucht Furcht – und mit dem ersten sonoren Klang ihrer Rede, da wurde auch dem verlegenen Kandidaten wieder ganz[490] frisch und beherzt zumute; das aber um so mehr, da er lediglich zuzuhören und nur selten ein Wörtchen dareinzugeben hatte.
»Menschen wie Sie, Dezimus, und ich,« hob Sidonie an, »dürfen sich, denke ich, ohne Verwirrung alles sagen und alles voneinander hören. Und so sage ich Ihnen denn, was Sie ohnehin von vornherein durchschaut haben werden, daß Papa Mehlborns Antrag weder ein Scherz noch die Schrulle eines Greises gewesen ist, sondern mein eigener, zwar rasch gefaßter, aber wohlbedachter Plan. Auf Ihre Ablehnung war ich gefaßt und würde sie Ihnen zugute gehalten haben, auch wenn Sie – worauf ich allerdings nach dem Tone Ihrer Briefe keineswegs gefaßt war – nicht bereits der hoffnungsvolle Ehestandskandidat einer anderen gewesen wären. Die Wahrheit zu sagen, ich hatte Ihr Röschen von jeher Freund Kurzen zu gedacht. So wenig ich nun aber Ihnen den Ungeschmack in der Lebenskunst zutraue, sich, und wäre es um zehn Rittergüter willen, zum Mann einer Frau machen zu lassen, die Ihnen mißfiel oder einfach bloß nicht gefiel, so wenig werden Sie meiner Person die Abgeschmacktheit einer verliebten Laune zutrauen, auch wenn ich Ihnen ehrlich gestehe, daß Sie der einzige Mann sind, dem ich einen solchen Antrag hätte stellen lassen, ja eben darum nicht. Ich dachte mir aber, Dezimus, daß zwei gute Freunde, beide frei und klug, ohne Anlage zu leidenschaftlichen Problemen, ungeplagt von dämonischen Störefrieden, beide dagegen anhangend einem tief aus der Seele treibenden Lebenszweck, daß diese beiden ihre Hände ineinanderlegen könnten, vertrauend jenem Gleichgewicht und jener verständnisvollen Selbstbewußtheit, auf welchen letztlich die Befriedigung jedes Zusammenlebens doch beruht. Sie, Dezimus, würden durch die[491] Verbindung mit mir Ihrer beschränkenden Lage entrückt, Ihnen die weiteste Umschau am Himmel und auf Erden, die freieste Entwicklung gewährt worden sein, dazu der Anteil, das völlige Verstehen eines Nächstgestellten. Mir gewährte sie ein starkes Herz und eine feste Hand. Und sehen Sie, Freund, die arme kleine Sidi bedarf mehr denn jemals eines starken Herzens und einer festen Hand, um ihr eine Gefahr abwenden und ein Schicksal tragen zu helfen, denen sie ganz allein machtlos gegenübersteht.«
»Sie sprechen von Max?« fragte Dezimus.
»Nun ja, von wem denn sonst? Ist er nicht mein Lebenszweck, wie die Chaldäerweisheit der Ihrige ist? Ihr lebt hier, so scheint es, wie Crusoe auf seiner Insel, spürt nichts von den Wettern, die über dem Festlande brauen, und von den Dämpfen, die unter demselben brüten. Ich aber komme von solchem Herd, und Max steht harsch an dem Krater, von welchem der Ausbruch droht. Nicht Schwarzseherei, Hellblick, Hellblick der Liebe ist es, wenn ich ihn von den speienden Flammen ergriffen und unter der Asche verschüttet schaue. Noch in dieser Nacht werde ich ihm schreiben, und weil die Beredsamkeit eine Gabe ist, die er vor vielen besseren Gaben schätzt und auf sich wirken läßt, werde ich ihn mit so viel rhetorischem Aufwand, als einer Schwester zu Gebote steht, beschwören, vor dem Ausbruch in unseren stillen Hafen zu flüchten. Wenn er sich in Bielitz einrichtete, soviel ihm beliebt als Grandseigneur, es wäre ein ableitender Wechsel. Wenn er sich einen eigenen Herd gründete, es wäre, wie schwach auch immer, eine Bürgschaft der Stetigkeit. Mit den äußeren Mitteln soll nicht gekargt werden; der schwarze Tod hat mir trefflich in die Hände gearbeitet und kein anderer als Sie, Johanniskind, mich auf den Zaubertrank verwiesen,[492] mit dessen Darreichung die geheimnisvolle Wandlung vollzogen werden wird. Ich traue mir zu, diesen halsstarrigen Greis zu regieren wie eine Gliederpuppe, mit List oder Gewalt ihm den Schlüssel seiner Eisentruhe zu entwinden. Was kommt es mir darauf an, um einen vollebenden Zwanziger zu retten, einem absterbenden Achtziger ein X für ein U zu machen? Die Frage ist nur, wird mein Plan an dem nicht scheitern, den er retten soll? Und wenn der Reiz ritterlicher Seßhaftigkeit den Unsteten heimwärts lockte, würde er nicht bald wieder zurückgetrieben werden in sein geniales Zigeunertum? Würde selber die Liebe zum Weibe imstande sein, ihn häuslich zu bannen? Wird, wenn den Rhein herüber die Fanfaren schmettern, die ihm das, was er Freiheit nennt, verkünden, wird er dann, wie ein feuriges Roß, nicht jeden Zügel sprengen, und werden Sie dann, Dezimus, mit Manneswillen und Manneskraft – für ihn einstehen? – Nein, das läge außer Ihrer Macht, – aber zu seiner Rettung für mich eintreten, nicht als ein Bruder, wie ich Törin einen Augenblick gewähnt, aber als – –«
»Sein Freund und Ihrer, Sidonie,« sagte Dezimus mit warmem Händedruck.
Sidonie erzählte darauf, daß sie alsobald nach ihrer Mutter Tode sich bewußt gewesen, wo fortan ihre Heimstatt und welcher Art ihre Werkstatt sei. Die Neueinrichtung ihres Stiefvaters und ein Nervenleiden, das sie hart mitgenommen, hatten die Ausführung verzögert. Bei ihrem endlichen Aufbruch vor ein paar Tagen sei es auf eine Überraschung im Blümelhause abgesehen gewesen. Als sie jedoch beim gestrigen Eintreffen in der Stadt den Ausbruch der Epidemie, den Tod der guten Pfarrmutter und Rosens Erkrankung erfahren, sei sie ohne[493] Verzug nach dem Talgute aufgebrochen und daselbst angelangt, als just der Kandidat die heroische Kur an Papa Mehlborn vollbracht und zum Lohn dafür das Erbe der unartigen Enkelkinder in Aussicht gestellt erhalten habe. Mit ergötzlicher Laune schilderte sie nunmehr, wie sie die günstige Konjunktur benutzt, um sich, in Verbindung mit Traum- und Weingeistern, rasch in des alten, mürbe gewordenen Eisenmannes Gemüt und Hause festzusetzen, und mit welchen Engels- und Teufelskünsten sie gesonnen sei, ihre Position zu behaupten.
»Greise sollen wie Kinder behandelt werden,« sagte sie. »Mein altes Kind wird sich nicht über sein pflegendes Mütterchen zu beklagen haben; er darf aber niemals aufhören, sich vom Würgengel bedroht zu wähnen, und niemals bezweifeln, daß er sieht, was zu sehen er sich und anderen vorspiegelt.«
Sie waren der Fähre nahegekommen, als Sidonie, ihren Arm aus dem des Begleiters ziehend, mit folgender Wendung abschloß:
»So, nun stehen wir, will es Gott, für das Leben klar und fest uns zur Seite; und mir erübrigt nur noch der Glückwunsch zu Ihrer Verlobung, Freund. Ein redlicher Wunsch, aber leider nur ein Wunsch, denn die Zuversicht Ihres Eheglückes habe ich nicht. Brummen Sie doch nicht so unwillig in Ihren kürzlich gesproßten Bart, Kandidat! Als ob ich die Zärtlichkeit Ihrer gegenseitigen Gefühle bezweifelte oder mir anmaßte, irgend etwas von irgendeiner erotischen Gefühlsspezies zu verstehen, und mich nicht gern belehren ließe, daß eine Gewohnheitsneigung, ›aus der Boje‹ herausgewachsen, sich zu einer dergleichen Spielart entwickeln könne. Das aber weiß ich, daß zum Dauerglück in der Ehe, will sagen einer Ehe, die nicht bloß auf[494] die gemeine Plattheit hinausläuft, mehr gehört als irgendeine Spielart der Liebe. Denke ich an den kurzen Wonnetraum von Max und Lydia zurück, wie er, doch wahrlich einer reellen, raschen Herzensglut entspringend, dennoch beim ersten Anstoß in Groll und Zwietracht zerstob, halte ich dagegen die in Kampf und Not unerschütterliche Befriedigung der auf keinen lebhafteren Pulsschlag gegründeten zweiten Ehe meiner Mutter, so sage ich: Kontraste reizen; die Harmonie der Treue erwächst aus verwandten Elementen. Auf die gleiche Sehweite kommt es nicht an, aber auf die gleiche Sehlinie kommt es an. Was aber versteht Liebchen Rose von des Chaldäers Sternenziel? Was der lichtsuchende Chaldäer von seines Rosenliebchens Erdenlust? Falter und Rose, Mäxchen und Röschen – Freund, wären Sie nicht bis über die Ohren vernarrt, Sie nennten den Einfall meines alten, neuen Herrn schlechthin luminös. Sie aber, Sternengucker, trösteten sich, müßten sich trösten, würden sich trösten, nicht etwa mit der kleinen Sidi, die Ihnen außer etwelchen Rittergütern nichts als einen hellen Kopf auf einem ungleichen Schulterstück als Mahlschatz zubringen würde, sondern mit der zum Himmel strebenden, hehren Lilienblüte, die ohne Sie einsam im Mondschein des Klostergartens verduften würde.«
Dezimus prallte schier entsetzt einen Schritt zurück; sein ganzes Wesen protestierte gegen diese wenn auch nur scherzhaft gemeinte Weissagung. Ließ der kleine Kobold an seiner Seite ihn aber nur zu Worte kommen? Lachte er nicht so ausgelassen, wie bloß Kobolde einem verblüfften Menschenkinde in das Gesicht zu lachen imstande sind? Und schmetterte er dann nicht mit seiner metallhellen Stimme sein musikalisches Capriccio unerschütterlich zu Ende?
»Aber so fahren Sie doch nicht gleich aus der Haut,[495] Kandidat, wenn ein alter, ehrlicher Kamerad Sie besser kennt als Sie sich selbst; hören Sie doch ruhig erst den natürlichen Folgesatz: Lieben Sie Ihr Röschen, so zärtlich Sie es fertigbringen, heiraten Sie es meinetwegen auch: das weiße Fräulein war, ist und bleibt bei alledem Ihr Ideal. Indessen nur getrost. Sagte ich Ihnen bei einer anderen Gelegenheit: ein gesunder Magen und ein gesunder Kopf vertragen vielerlei, so sage ich Ihnen bei der heutigen: ein gesundes Herz verträgt noch mehr, ja sogar mehr zu gleicher Zeit. Eine Wiegenliebe wie die zu Ihrer Rose, eine verständige Freundschaft wie die zu der kleinen Sidi und ein hehres Traumbild wie das der Schwanenjungfrau, Sie haben Platz für alle drei und bleiben ungestört und unbeschwert, möglicherweise sogar als Ehemann, unser mustergültiges Johanniskind.«
Damit schüttelte sie ihm herzhaft die Hand und schlug dann lachend, so rasch sie vermochte, den Rückweg ein. Der ungalante Korbverleiher dachte nicht daran, ihr das Geleit zu geben.
Dezimus, du Held des Glücks, sie nennen dich eine redliche Haut und preisen dich ob deines ruhigen Bluts; das große Wort Liebe ist dir niemals allzu geläufig gewesen, sogar nicht gegen deinen besten Freund, und der bist auch du am Ende doch wohl selbst; deine Phantasie hat selten mit Amoretten gegaukelt, und zum Heroismus der Leidenschaft zum Weibe hast du bis dato keinen Drang gefühlt; solange du von deinem Leben weißt, hast du den Zug zu der holden Schwesterblüte gespürt wie dein natürlichstes Recht, und seit du dich als Mann fühlst, wie deine natürlichste Pflicht; was du von Hangen und Bangen empfunden, das hangte und bangte nach ihr. Und da kommt nun ein Menschenkind, lebenskundig und wahrheitsmutig, wie du[496] kein zweites kennst, nennt sich deinen braven Kameraden und sagt dir auf den Kopf zu, daß deine Liebe gar nicht die echte, rechte Liebe sei; daß du – schäme dich, Dezimus! – ein leibhaftiger Don Juan, noch ehe du ein Bräutigam geworden, ein zweites und drittes Verhältnis angebandelt habest, und am Ende kommen noch ein halbes Dutzend hinterdrein, denn wo ist bei solcher Anlage ein Aufhören abzusehen? Zum allerärgsten aber hat dieses kluge Menschenkind sich darauf gesteift, daß du ein Traumbild umkreisest, nicht bloß in der Phantasie, wo es hingehört und, dir wenigstens, nicht schaden kann, sondern als leibhaftiger Mann ein leibhaftiges Weib, als sein prädestiniertes anderes Ich!
Aber so habe dich doch nicht wie ein Narr, Kandidat. Denke doch an deine erste Sonntagspredigt! Du schreist dich ja heiser mit deinem »Hol über, hol über!« Hat der alte Veit sich bereits auf das Ohr gelegt, so erweckt ihn nicht die Posaune des Jüngsten Gerichts. Du nimmst dann den Weg über die Brücke und läufst dir den Wirrwarr von Liebesgedanken aus dem Hirn. Welchem Menschen, der sich gesunder fünf Sinne erfreut, fällt es ein, bei Seuchenzeiten, in rauher Novemberluft durch den Fluß zu schwimmen, um nichts und wieder nichts als eine halbe Stunde früher bei der zu sein, die er wirklich liebt? Und sieh, da kommt ja auch schon der alte Veit, fein gelassen, in deinem eigenen, bedächtigen Hirtenschritt, in welchem ein Mensch sein Ziel am zuverlässigsten erreicht. Und nun bist du jenseit, und wenn du auch wie ein Wetter durch die Dorfgasse fegst, du hast bis zur Pfarre hinlänglich Weile, dir zu überlegen, ob ein Ideal in Wahrheit ein so gefährliches Wesen sei, wie man dir hat einreden wollen, ein Wesen, das dich in deiner Herzenstreue beirren könnte?[497]
Und siehst du wohl, ehe du noch den Gottesacker erreichst, da bist du schon wieder der alte Dezem aller Tage, ja wahrhaftig, du lachst! Was versteht solch ein armes, verkümmertes Wesen, das keinen Näheren als einen Bruder lieben darf und will, von eines Jünglings Rosenwonne? Was versteht die kleine Sidi, mit ihrem altklugen Kopf und vorwitzigen Mund von einem Traumbild der Seele? Sind die hohen Himmelslichter dort oben nicht auch deine Traumbilder gewesen, und würdest du sie als Ideale gehegt haben, wenn du sie mit deinen Armen umspannen konntest wie die blühende Erde, in welcher dein Dasein wurzelte? Sei und bleibe dein weißes Fräulein dir ein Ideal und eine Seelenschwester für das Leben; die, nach welcher deine Pulse schlagen, das ist »die liebliche, geliebte Eine, die Jugend dir und Jugenddrang verbunden«, das ist dein Blumenkind, deine Rose!
Sie lag noch so still, anteillos und doch ruhelos, wie er sie verlassen hatte. In dieser Nacht aber hätte keiner bei ihr Wache halten dürfen als er allein. Er setzte sich auf den Bettrand, schlang den einen Arm um ihren Hals und umspannte mit der anderen Hand die beiden welken, kühlen Kinderhände. Und wie er so eine Weile gesessen hatte, ihr Köpfchen an seiner Brust, da war es, als ob ein Strom von seinem flutenden Leben in das ebbende hinüberwogte. Sie schlug einen Augenblick lächelnd wie sonst die Lider zu ihm in die Höhe, dann fielen sie ihr zu, und sie schlummerte ein. Die heißersehnte Schlummerruhe, Genesungsruhe! Er neigte die Lippen auf die wirren Locken über ihrer Stirn, – der erste Bräutigamskuß! Er sog ihren Odem ein, den göttlichen Lebenshauch! Er hätte das Klopfen seiner Pulse hemmen mögen, um sie nicht zu erwecken, und doch laut jubeln aus voller Brust: »Dich liebe ich, dich ganz allein!«
[498]
Doktor Brand fand Rosen am anderen Morgen noch schlummernd; aber es war nicht die erquickende Ruhe der Genesung, es war die betäubende der Erschöpfung. Fast schien es, als ob die Schlummernde, ohne wieder zu erwachen, in den ewigen Schlaf hinübergleiten werde, so matt schlug der Puls, so kaum hörbar schlichen die Züge des Atems. Wohl oder übel mußte der alte Symptomiker der Diagnose des jungen Exaktikers zustimmen; der Blutverlust war stärker gewesen, als er angenommen, und nicht seelische Überwältigung hielt den Körper im Bann, sondern körperliche Erschlaffung die Seele. In welcher Weise aber den Verlust ersetzen, da das liebe Kind die geringste Nahrung verschmähte, der Schlaf, statt zu stärken, abspannte und kein Heilmittel anschlug? Der alte Herr war am Ende mit seinem Latein, und wie in derartigen kritischen Fällen, wo eben kein Rat mehr zu geben ist, auch ein braver Medikus zu der Auskunft gelangen kann, den Patienten aus seinem Gesichtsfelde zu verweisen, z.B. an die Homöopathie, über welche – bei unkritischen Fällen – kein Sarkasmus beißend genug im Sprachschatze einen Ausdruck findet; oder in ein entlegenes Bad, dessen Heilkräfte allerdings innerhalb der eigenen Praxis nicht erprobt worden sind, wo aber, falls sie sich an dem Patienten bewähren, die Genesung dem kundigen Berater zugute geschrieben wird, falls sie sich dagegen nicht bewähren, ein Kurverstoß, Diätfehler, Erkältung und so weiter die Schuld zu tragen hat, im allerschlimmsten Falle jedoch der Patient wenigstens nicht unter des Beraters Augen die seinigen schließt, – desselbigengleichen wollte auch Doktor Brand, obschon er skeptisch die Achseln zuckte, gegen das heroische Korrektiv seines neubacknen Kollegen nicht länger Widerspruch erheben.[499]
Das Korrektiv, in einem Familienrate, dem auch Lydia beiwohnte, dargelegt, hieß: Transfusion fremden Bluts. Kein neues Mittel, allein selten angewendet. Peter Kurze selbst hatte die Operation nur ein einziges Mal von dem Meister, »zu dessen Füßen er gesessen« – eine von den wenigen euphemistischen Redensarten, deren Peter Kurze sich bediente –, vollziehen sehen, aber mit glorreichem Erfolg. Er nannte sie, natur- und vernunftgemäß, den direktesten Erneuerungsprozeß und würde ihm die weiteste Verbreitung in Aussicht zu stellen gewagt haben, insofern sich die Schwierigkeit überwinden ließe, für jedes blutarme oder blutkranke Individuum ein blutreich gesundes aufzufinden, das sich zur Teilung seines wertvollsten Lebensstoffes entschlösse. Denn von dem Lebensstoff als Lebensmittel höchst wertvoller Vierfüßler wollte der materialistische Doktor nichts wissen; der Mensch sei zwar auch eine warmblütige Bestie, aber eine Bestie, die durch Vermittlung ihres spezifischen warmen Blutes denkt. Hypothese zwar noch vorderhand, aber keineswegs eine irrationelle: mit Hülfe frischen Lebenssaftes sei sogar ein Greisenleben wieder jung zu machen!
Der Vortrag, mit Begeisterung zu Gehör gebracht, wurde nicht ohne Begeisterung aufgenommen. In Vater Blümel dämmerte die Erwähnung des Verfahrens bei einem seiner alten Heiden, deren Heilverständnis er von den Neueren selten übertroffen achtete; Lydia sah in dem Akt ein symbolisches Opfer, das ihrem innersten Sinne entsprach; Dezimus aber stimmte voll beseligender Hoffnung zu. Aus wessen Adern als den seinen hätte der lebenspendende Quell in die der Geliebten denn geleitet werden dürfen?
Noch in der Nacht dampfte Peter Kurze nach der[500] Universitätsstadt, um – des ängstlich schwachen Papa Blümel mehr als überflüssige conditio sine qua non! – von dem Meister, zu dessen Füßen Peter Kurze gesessen, ein Zeugnis einzuholen ad eins: über die Zulässigkeit der seltsamen Spende für die bedürftige kranke Tochter und ihre Ungefährlichkeit für den verleihenden gesunden Sohn. Ad zwei: – Superlativ aller Überflüssigkeit! – über Doktor Peter Kurzens Befähigung für die betreffende Operation.
Schon am anderen Mittag kehrte er mit einer Siegermiene zurück. Er brachte schwarz auf weiß die absolute Erledigung aller überflüssigen Bedenken vornehmlich des ad zwei; brachte den erforderlichen Apparat und sogar zwei junge Kollegen, welche des Meisterstücks Zeuge zu werden ein wissenschaftliches Verlangen trugen. Er hätte unverweilt zum Angriff schreiten mögen; da aber in Rosens Zustand verschlimmernde Symptome sich nicht geäußert hatten und die Hoffnung nicht aufgegeben werden durfte, auch ohne das Wagnis eine Besserung eintreten zu sehen, wurde auf Vater Blümels Verlangen die Operation auf Sonntag nachmittag verschoben. Es war der des ersten Advent und des Sohnes erste Predigt eine weihevolle Vorbereitung zu der lebenspendenden Tat.
Das Gotteshaus war am Sonntagmorgen dicht gefüllt, selbst die Untergemeinde durch ihre gesunden Insassen männiglich vertreten, Not lehrt ja beten, und die quasi Probepredigt eines Pfarramtskandidaten lockt auch in Drangsalszeiten an, zumal wenn der Prediger der Sohn des Gemeindehirten ist. Lydia saß im Herrenstuhl, und sogar des Professor Zacharias wahlverwandte Stieftochter hatte ihrem Kameraden zu Ehren die Scheu vor Kirchenluft überwunden. Als während des Morgenliedes »Auf, ermuntere dich, mein Geist« der Kandidat mitten aus den[501] Frauenreihen heraus der kleinen Sidi hohen, hellen Diskant unterschied, hätte der kräftige Zuruf seinen Geist wohl ermuntern können, falls er bänglich bedrückt gewesen wäre.
Aber Dezimus war zu tief bewegt, um bänglich bedrückt zu sein. Hatten Muße wie Stimmung zur Vorbereitung ihm auch gefehlt, nach einer Woche wie seiner letzterlebten und über einen Episteltext wie den des dreizehnten Kapitels des Römerbriefes, da läßt sich frei aus dem Herzen heraus am allererwecklichsten reden. War seine ganze Seele doch voll von dem einen: »Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung« und von dem anderen: »Die Stunde ist da, aufzustehen vom Schlaf.« Ja, hätte er auch nichts über die Lippen gebracht als das Gebet für seine Mutter, die einzige der Obergemeinde, die in dieser Woche heimgegangen war, dies Gebet würde mehr Tränen haben fließen lassen als der kunstfertigste Redebau.
Beide denn auch mit Tränen in den Augen stießen Lydia und Sidonie unter der Kirchpforte aufeinander, zum ersten Male seit ihrem harschen Bruch. Sie reichten sich schweigend die Hände und lebten fortan nebeneinander, wenn auch nicht wie Schwestern, aber doch als so gute Basen, wie es einer Tochter Joachim von Hartensteins und einer Zöglingin der alten Harfenkönigin gegeben sein konnte. Das strittige Erbobjekt war durch Sidoniens dauernde Übersiedlung in ihres Großvaters Haus erledigt, und auch Lydia hatte in ihrer nächsten Umgebung eine Aufgabe gefunden, die sie an auswärtigen Samariterdienst vorderhand nicht denken ließ.
Die Sonne stand am Himmel so hoch und so leuchtend, wie sie am ersten Advent zu steigen und zu leuchten vermag, als man sich im Pfarrhause zu der Tat bereitete, vor welcher das Herz des rüstigen Unternehmers stärker als in seiner[502] bisherigen Praxis, ja als in seinem ganzen bisherigen Leben pochte. Der Wagehals spielte mit seinem »direkten Erneuerungsprozeß« hinsichtlich seines ärztlichen Renommees schlechthin va banque, für seine Heimat mindestens. Das Verfahren war unerlebt und unerhört, in siebenfache mystische Dunstschleier gehüllt. Blut ist eben ein ganz besonderer Saft; es darf, nein, es muß vergossen werden im Kriege, von der Justiz, auch durch die Chirurgie. Die Zahl der Werbenschen Gemeindeglieder, zumal weiblichen Geschlechts, war nicht gering, die ohne gelegentliche Abzapfung mittelst Schröpfköpfen oder Lanzette ihr Leben bedroht erachtet haben würde; aber den abgezapften Stoff, anstatt ihn in die Gosse zu schütten, einem Nebenmenschen in den Leib zu filtrieren, das schien ein Frevel wider die Natur, wenn nicht gar gegen den Heiligen Geist, und scheu von der Seite, schier wie ein Schwarzkünstler wurde der allbekannte Lustigmacher des Pfarrhauses angesehen, als er sich vermaß, mit der geheimnisvollsten menschlichen Flüssigkeit wie mit einem Apothekersäftchen umzuspringen; dahingegen sein stillvergnügter Kumpan, der Hirtendezem, bis dato immer noch ein bißchen über die Achsel angesehen, gleich einem Opferlamm mit weheleidigen Blicken betrachtet ward. Hätte ihn während der Operation etwa der Schlag gerührt, seine braven Werbenschen Landsleute würden einen neuen Märtyrer in ihren Kalender aufgenommen haben.
Weder Neugierde noch Teilnahme sind vorherrschende Bauerneigenschaften, da diese außerordentliche Begebenheit aber einmal direkt durch den Emeritus Beyfuß, indirekt durch dessen vertraute Freundin, die litauische Lene, ruchbar geworden war, zogen Teilnehmende und Neugierige herbei, des verwogenen Bluthandels in der Pfarre Zeuge[503] zu werden, und die alte Lene hatte ihre liebe Not, den Zudrang der Nachbarn und Einwohner im Vorgärtchen festzuhalten, während oben im Flur Freund Beyfuß, die Kantoren beider Gemeinden, der Amtsbruder von Bielitz nebst Sidonien, die ja kein Blut sehen konnte, mit gespanntem Atem nach dem Resultat im Krankenzimmer lauschten.
Dahinein waren dem Doktor Brand zwei wissensdurstige städtische Kollegen gefolgt, im Verein mit den beiden, welche Doktor Peter Kurze aus der Universitätsstadt herbeigeführt hatte, ein Fünfgericht, und wahrlich kein milde gestimmtes, vor welchem ein junger Praktikus sich, sei es als Koryphäe der Zukunft, sei es als Scharlatan zu erweisen hatte. Der junge Praktikus bezweifelte nicht entfernt das Natur- und Vernunftgemäße der Operation an sich; er bezweifelte ebensowenig, daß ohne sie die Patientin ihrer Erschöpfung erlegen sein würde. Erlag sie ihr trotz der Operation, so hieß er ihr Mörder und – Doktor Faust, suche dir eine Klientel unter den Wasserpolacken oder den Antipoden!
An eine Stuhllehne geklammert, stand im Hintergrunde der alte Vater zitternd und bleich. Sein liebes Kind, sein jetzt ach! so weißes Röschen saß aufgerichtet, von Lydias Armen umschlungen, im Bett; das matte Köpfchen an der Freundin Brust gelehnt, ließ sie anteillos, wenn nicht bewußtlos das Erforderliche mit sich geschehen. Lydias Blicke hingen unverwendet an denen des Freundes, als ob sie dringen wollten in den innersten Grund, dem der lebenspendende Quell entsprang. Er hatte ruhig seinen Arm entblößt und mit einer wollüstigen Empfindung die roten Tropfen aus seiner Schlagader strömen sehen. Als nun aber auch der Geliebten die Pforte, durch die das Leben[504] einziehen sollte, geöffnet ward, da erblaßte er, erbebte, und minutenlang, da kein Hauch im Zimmer rege ward, lag vor seinen Augen ein schwarzer Flor.
Aber der Schleier fiel; ein Schein wie vom Morgenrot flog über das weiße Blütengesicht; die Lider weit geöffnet, schauten die Augen fragend und halb lächelnd im Kreise umher. Der Greis lag mit emporgehobenen Händen auf seinen Knien; Jairi Töchterlein war lebendig geworden! dem Verlobten war es, als hätte sich eine Ehe vollzogen.
Ein Moment heiliger Stille, aber nur ein Moment! Der sieghafte Praktikant winkte mit der Hoheit eines Souveräns die gelehrte und bewegte Versammlung aus dem Krankenzimmer, das während der Stunden eines erhofften, herstellenden Schlummers nur von ihm selbst und der unschädlichen litauischen Lene betreten werden durfte. Kein Laut der Freude, der Frage, nicht einmal ein Lobspruch des genialen Wunderdoktors durfte in dem Gehörfelde der Patientin geäußert werden. Unten aber im geistlichen Gemach, da brach der Jubel aus, und war der Kandidat, als er vor drei Monaten im Ahnensaale der Werben das Ei des Kolumbus zum Stehen brachte, ob seines Blicks und seiner Rede wie ein Genie gepriesen worden, so wurde er heute gefeiert, als hätte er ein Heldenopfer vollbracht.
»Edler Freund!« stand in Lydias strahlenden Augen geschrieben.
»Tapferer Kamerad!« schmetterte die kleine Sidi mit einem starken Händedruck.
Der Greis aber zog ihn an sein Herz und stammelte unter Tränen:
»In dieser Stunde, mein Sohn, hast du der fremden Frau die Liebe einer Mutter heimgezahlt!«
Ein paar Unzen überschüssiges Blut für mehr als[505] zwanzigjährige Muttertreue! Ach, wie oft sind es doch so leicht erkaufte Erfolge, die am höchsten angerechnet und am reichsten gelohnt werden! Die wahren Opfer werden im Verborgenen gebracht, und keiner zählt sie, und keiner zahlt sie heim.
»Ein Glückspilz bist du, und ein Glückspilz bleibst du, alter Dezem! Wer sich mit dir einläßt, hat gewonnen Spiel!« sagte mit einem Luftsprung Peter Kurze, und nach des Glückspilzes Dafürhalten hatte Peter Kurze den Nagel wieder einmal auf den Kopf getroffen.
Die geliebte Rose erholte sich wie durch ein Wunder; Leib und Seele wachten auf gleichzeitig zu Lebenslust und Todestrauer. Nun erst ward sie das Fehlen der Mutter gewahr, nun erst flossen ihre Tränen und dämmerte das Ahnen, daß in einer kurzen Spanne sie völlig eine Waise sein werde. Denn der erste Todesschmerz, und wenn der Verlust längst überwunden wäre, die sorglose Zuversicht zu dem Leben hat er für allezeit ausgelöscht. Die Tochter wußte, was der hinfällige Greisenleib bedeute, und sie hatte von Kind auf dem Vater stärker als der Mutter angehangen. Ihre Züge trugen seitdem ein vertieftes, herzrührendes Gepräge; Dezimus fand sie reizender denn je; Vater Blümel aber, der Blumist, sah in ihr nicht mehr die zum Entfalten reife Zentifolienknospe, des Gartens köstlichste Zier, und gottlob! auch nicht mehr die weiße Rose mit dem lichtgelben Kelch, die wir symbolisch auf unsere Gräber pflanzen, er verglich sie jener lieblichen Gattung, welche »errötende Jungfrau« genannt wird, weil nur ein verschämtes Glühen aus der Tiefe heraus die zarte Hülle durchschimmert. Da er diesen Wandel aber vornehmlich inneward, wenn er die Tochter in der Nähe ihres Verlobten sah, erfüllte sie ihn mit inniger Freude.[506]
Der Vater hatte nicht wie seine Gattin auf eine Vereinigung der beiden Kinder gerechnet und sie auch kaum gewünscht. Er hielt geschwisterliche Gewöhnung weder für den Grund, aus welchem bräutliches Verlangen, noch für den, aus welchem die Würde der Ehe erwächst. Wohl war ihm des Sohnes zärtlicheres Bezeigen seit seinen Jünglingsjahren nicht entgangen, Röschen aber, sein Spätling, war über die gewöhnliche Grenze hinaus ein Kind geblieben, und ihre unverändert neckende Vertraulichkeit deutete nicht auf einen wärmeren Herzschlag. Er verlängerte daher geflissentlich des Sohnes Entfernung vom Hause, bis die Vernunft oder vielleicht eine andere Neigung das reine brüderliche Verhältnis zu seiner Tochter hergestellt haben würde. Nun jedoch, da sie unter dem Schatten des Todes seine Braut geworden war, da sie dem Liebenden ein neues Leben zu danken hatte, ahnete er in der errötenden Mädchenblüte das heimliche Erwachen des Weibes, und seine letzte Erdensorge ward mit dieser Wahrnehmung gescheucht: denn ist der Liebesschutz eines Gatten nicht allemal erfüllender als der der treuesten Brüderlichkeit?
Fast in gleichem Verhältnis wie die Kranke im Pfarrhause sich erholte, erlosch die Seuche in der Auengegend, und da nach solchem Abschluß ein besonders günstiger Gesundheitszustand einzutreten pflegt, schloß gegen die Weihnachtszeit hin auch Peter Kurzens erster Wettlauf in der ärztlichen Arena ab. Er schied nicht ganz leichten Herzens, aber mit dem Nimbus eines Doktor Eisenbart. Seine Erfolge hatten in der Nachbarschaft Aufsehen gemacht und er selber weislich dafür Sorge getragen, daß sein Licht auch für weitere Kreise nicht unter dem Scheffel leuchte. Weit über die heimische Provinz hinaus stand in wissenschaftlichen Blättern und unterhaltenden Blättchen[507] zu lesen von dem plötzlichen Halt der Werbener Epidemie infolge des energischen Eingriffs und der rationellen Behandlungsweise eines freiwillig zur Hülfe geeilten jungen Arztes Soundso. Auch die wunderartige Rettung eines halb schon erstorbenen jungen Mädchens durch die bisher selten gewagte Übertragung fremden, kräftigen Blutes wurde an dieser Stelle in fachgemäß wissenschaftlicher Beleuchtung, an jener Stelle in herzrührend populärer dargestellt. Auf diese wirksamen Empfehlungen hin fühlte Doktor Peter Kurze sich befugt, sich in der Universitätsstadt, »dem geistigen Zentrum der Provinz«, zunächst zwar nur als Praktiker niederzulassen, unter günstigen Konjunkturen sich aber auch als Dozent daselbst zu habilitieren. Sattelfest auf jeglichem ärztlichen Flügelroß oder Gaul, leuchtete ihm die so glorreich erprobte Blutmethode als demnächst zu kultivierendes Steckenpferd verheißungsvoll vor. Er fühlte sich als gemachten Mann, als selbstgemachten Mann, als den eigenen Schöpfer seines Glücks.
Als gemachten Mann aber auch noch in einem zarteren Sinne als dem medizinisch chirurgischen. Eigentümlicher Rapport mit seinem zweiten Freund: von nicht weniger als drei Huldgestalten umschwebt, und just den nämlichen wie jener skrupulöse Freund, sagte – aber ohne jeglichen Skrupel – Doktor Peter Kurze der Heimatsaue Lebewohl! Numero eins: die alte Flamme, für das Herz; Numero zwei: ein weibliches Ideal, für die Phantasie; unschätzbare Schätze eine jede in ihrer Art. Aber ein gesetzter Mann denkt, wenn er liebt, an Hüttenbauen, und zum Hüttenbauen eines doch immer noch lediglich von der Hoffnung zehrenden Doktors der Medizin war, aus Brotschranks wie anderen Gründen, weder Flamme noch Ideal leider angetan. Dahingegen die dritte, keine Huldgestalt in[508] rationellem Sinn, aber gescheut, pikant, interessant, als demnächstige Erbin mehrerer Rittergüter, zum Hüttenbauen für einen dergleichen Doktor expreß geschaffen schien. Über seinen Erfolg hegte er nicht den geringsten Zweifel. Fräulein Sidonie hatte sich in Gelehrtenkreisen bewegt, wußte daher eine aufgehende Leuchte der Wissenschaft von einem Dreierlicht zu unterscheiden. Fräulein Sidonie trug einen altadeligen Namen, besaß aber hinlänglich Ingenium, um über verrottete Vorurteile erhaben zu sein oder mindestens um Vorurteil gegen Vorurteil mathematisch abzumessen und einzusehen, daß ein ungleicher Schulterbau am Ende eine Freiherrnkrone und mehrere Rittergüter aufwiegt. »Transfusion und Sidonie von Hartenstein!« mit diesem Feldgeschrei rückte Doktor Peter Kurze in die Arena des geistigen Zentrums seiner Heimatsprovinz ein.
Im Frühling wurde es ein halbes Jahrhundert, daß Konstantin Blümel sein erstes theologisches Examen abgelegt hatte. Bis zu diesem Jubiläum, falls er es erlebte, gedachte er sein Amt dem Namen nach beizubehalten, dann sollte der Sohn an seine Stelle treten. Den Sohn drängte es nach diesem Abschluß. Nicht sowohl in seiner Kandidateneigenschaft als in der des Bräutigams, dem das Amt eine nicht mehr bloß mit Freuden, sondern mit Bangen ersehnte Erfüllung bringen mußte.
Denn seltsam! die Rosenwandlung, welche dem Vater so befriedigend erschien, sie erschien dem Verlobten je mehr und mehr befremdlich, und wenn der völlige Besitz die Wandlung nicht rückläufig machte, so hätte er schier verzweifeln müssen. Die errötende Jungfrau, ach! war sein liebes Röschen nicht mehr! Nicht, daß sie sich unschwesterlich gegen ihn bezeigt hätte; im Gegenteil, nur allzu[509] schwesterlich, ja im Grunde erst jetzt schwesterlich, da bisher doch immer mit dem schelmischen Übermute eines Hätschelkindes zu rechnen gewesen war. Nun zeigte sie ihm den Anteil einer mehr Verpflichteten als Berechtigten, sorgte für ihn mit nahezu dem Eifer ihrer seligen Mutter, ging ernsthaft wie eine Freundin auf seine Bestrebungen ein, nannte ihn, Tränen in den Augen, ihren Lebensretter; aber sie neckte ihn nicht mehr, widersprach ihm nicht mehr, umtändelte ihn nicht mehr wie sonst, und wo war die Liebende, die hoffende Braut? Hatte sie sich bisher hüpfend an seinen Arm gehängt, sich die Händchen streicheln lassen, Wangen und Stirn ihm zum Kuß gereicht, nun ging sie ehrbarlich an seiner Seite, entzog ihm die Hand, entwand sich den Armen, die sie verlangend umfingen, und ach! von Sichküssenlassen durfte gar nicht mehr die Rede sein.
Anfänglich ehrte Dezimus diese Zurückhaltung als ein geziemendes Traueropfer, oder er dachte wohl auch: sie hat dem Tode in das Auge gesehen und muß erst wieder leben lernen; bemerkte er aber, wie sie in Gegenwart dritter zu all ihrer früheren Munterkeit zurückkehrte, hörte er die Scherzreden, die sie mit der kleinen Sidi wechselte, überlas er die je mehr und mehr sich wieder freudig stimmenden Briefe, die sie an die Schwestern, an Philipp, Peter Kurzen und sogar Freund Martin schrieb, dann mußte er sich sagen, daß eine natürliche, wenn auch noch so leidvolle Erfahrung das Grundwesen eines Menschen auf die Dauer nicht umwandele und daß das heitere Blumenkind einzig und allein gegen ihn verändert sei. Sollte das in Wahrheit der Umschlag geschwisterlicher in bräutliche Liebe sein?
Die Cousinen Hartenstein trafen sich allabendlich in der Pfarre, und niemals kamen sie, ohne dem Greise irgendeine[510] Erquickung mitzubringen; die eine eine schöne Blume oder Frucht; die andere von dem guten Wein, der sich an Papa Mehlborn dauernd als Spezifikum bewährte. Lydia und der Vater unterredeten sich dann erbaulich miteinander, während Sidonie in der Nebenstube auf dem klangvollen Flügel der Harfenkönigin musizierte. Zwar hatte sie ihren eigenen nicht minder klangvollen sich aus der Schweiz nachschicken lassen; was aber ein richtiger Musikant ist, verlangt nach dem Anklang in einem Menschenohr, und weder das von Papa Mehlborn noch von Muhme Timpel waren akustisch auf ein Echo angelegt. Auch Dezimus leistete seinen kräftigen Baß, und Röschen trillerte wie ein junger Pirol, wenn es, der Trauerzeit entsprechend, auch nur ernste Weisen waren, die zum Vortrag kamen.
Nach dem geistlichen Konzert wurde gelesen. Sidonie, die weitaus am reichsten Gebildete des jugendlichen Kreises und mit allem Trefflichen wohl versehen, hatte das Buch des Tages, den Kosmos, in das Haus gestiftet. Ihr Kamerad trug vor, erläuterte und schwelgte dabei in seinem eigensten Element; der Greis übersetzte, nach seiner Art, die wahrnehmbare Welt symbolisch in die des ahnenden Gemüts; Lydia, die Hände im Schoß, sog mit großen Augen und der Begierde eines dürstenden Kindes ungekannte Lebensstoffe ein; Sidonie nickte verständnisvoll, während die Hände wie auf einer Klaviatur sich dehnten und drückten, Rose aber lächelnd mit den zierlichen Fingern Läppchen und Fädchen zu Blättern und Blumen zusammendrehte und nur mit halbem Ohr auf die Wunder der Welterscheinung lauschte, von denen sie sogar nur wenige mit ganzen Augen betrachtet haben würde. Wenn Peter Kurze Zeuge dieser abendlichen Unterhaltungen gewesen wäre, was er indessen nicht ward – möglicherweise weil[511] ein gewisser Korb ihn beschwerte, wahrscheinlichererweise weil er bereits anderweitigen Spuren folgte –, angenommen aber, daß Peter Kurze den Lektor so inmitten der drei ungleichartigen Hörerinnen, die sich gleicherweise seine Freundinnen nannten, hätte sitzen sehen, würde er ihn dem Hahn im Korbe oder, edler ausgedrückt, der Perle im Golde verglichen, ein Uneingeweihter aber eine Braut unter den Freundinnen schwerlich vermutet haben.
Zwei von ihnen führte der Freund dann regelmäßig im winterlichen Abenddunkel nach ihren Heimwesen zurück; Lydia bis an das Schloß, Sidonie die Terrassen hinab zum Gute hinüber; kehrte er aber dann beflügelten Schrittes sehnsüchtig nach der Pfarre zurück, so hatte die, welche seine Braut hieß, sich bereits zur Ruhe gelegt und dem Vater ihren Gutenachtgruß aufgetragen. Seufzend setzte der Bräutigam, bevor er sich in der Kammer des Vaters auf sein Bett warf, sich an den Arbeitstisch, zerwühlte sich Hirn und Herz, aber die exegetische Abhandlung rückte nicht vor und die über die Sternschnuppen kam ihm gar nicht mehr in den Sinn.
So war es denn ein wunderliches Wesen, das in dem stillen Pfarrhause sich umtrieb; aber froh und reich verlief unter demselben dem Greise der Winter, den er mit ungetrübter Klarheit seinen letzten nannte, ja geflissentlich so nannte, um die Kinder mit seinem Heimgange vertraut zu machen. Seine Körperkräfte schwanden sichtbar, aber die des Geistes und selber die der Sinne blieben rege. Schlummerte er auch oftmals ein, beim Erwachen fühlte er sich aufgefrischt zum Geben und Empfangen. Sein Trachten ging dahin, den friedlichen Zustand, in welchem er schied, ohne Unterbrechung für seine Lieben zu befestigen.
An einem Nachmittage bald nach Neujahr, als er mit[512] dem Sohne zum Zweck von dessen Sonntagspredigt das Evangelium von der Hochzeit von Kanaan mit der herrlichen Epistelperikope des zwölften Römerbriefes erläuternd zusammengestellt hatte, winkte er auch die Tochter an seine Seite, und indem er beider Hände in die seinen nahm, sagte er ohne weitere Einleitung:
»Und warm im Herzen von dieser öffentlich verkündeten apostolischen Vorschrift, die für den priesterlichen Stand wie für den ehelichen eine goldene Regel ist, verlies dann, mein Sohn, das gesetzliche Aufgebot und erflehe Gottes Segen zu deiner Verbindung mit meinem lieben Kind.«
Beide Verlobte stießen einen Schrei aus. Er der hellen Freude, sie des Erschreckens, ja schier des Entsetzens. Der Vater achtete weder des einen noch des anderen, sondern fuhr in seiner natürlichen Gelassenheit fort:
»Daß es mein Wunsch ist, als letzten Dienst in meinem Amt eure Hände ineinanderzulegen, vielleicht noch eine kurze Spanne eures Glückes Zeuge zu sein, dürfte gegen manche schwer wiegende Bedenken kaum in Betracht kommen. Aber indem ich eure Vereinigung beschleunige, erleichtere ich euch die Trennung von mir. Denn das ist ja eben der höchste Segen der Ehe, daß sie die Bürde des Lebens erleichtert, weil sie die Tragkraft verdoppelt. Indessen hat, neben der des Gemüts, noch eine zweite weltliche Erwägung diesen Entschluß in mir gereift. Stürbe ich, bevor ihr Mann und Frau geworden, würde die friedliche Ordnung eurer Gegenwart für längere Zeit unterbrochen. Es gäbe ein Rennen und Laufen, das in Trauertagen doppelt störend ist. Entweder müßtest du, Dezimus, bis nach deiner Ordination die Pfarre verlassen und das Amt, das du im wesentlichen verwaltest, einem anderen anvertrauen; oder Rose müßte im ersten Herzeleid zu einer[513] ihrer Schwestern übersiedeln, da ihr über meinen Begräbnistag hinaus nicht unter einem Dache leben dürftet.«
»Und warum,« rief Rose und schüttelte das Strudelköpfchen so unwirsch wie in ihren fröhlichsten Tagen, »warum, Väterchen, sollen Bruder und Schwester nicht wie bisher unter einem Dache leben dürfen?«
»Weil sie Bruder und Schwester nicht mehr sind, sondern Bräutigam und Braut, mein Kind,« versetzte der Vater, »und weil jeder Mensch, aber ein Diener des Amts zumeist, sich den gemeingültigen Gesetzen der Sitte und Schicklichkeit zu fügen hat.«
»Aber welchem vernünftigen Menschen fällt denn so etwas – so etwas Albernes ein?« eiferte Rose. »Und bloß um der dummen Bauern willen sollen wir die Trauerzeit um unsere Mutter mit einem Feste unterbrechen?«
»Wir werden kein Fest feiern, mein Töchterchen. Ich lege in Gegenwart unserer lieben Abendgäste eure Hände still ineinander, und deine verklärte Mutter wird segnend im Geiste unter uns sein.«
Der Vater sagte das wohl und sagte es mit Überzeugung. Im Herzensgrunde jedoch hatte der Vorwurf der Tochter Einlaß gefunden. Nicht daß er ihn bei sich selbst unerwogen gelassen, aber daß er ihn von ihr nicht erwartet hätte. Er blickte mit bewundernder Liebe auf sein zartsinniges, treues Kind, und als er gar Tränen in seinen Augen gewahrte, sagte er, nach einer sinnenden Pause, mit jener Kindesunschuld, die sich bis zum Grabesrand in diesem seltenen Menschen der gereiftesten Weisheit verbunden hat:
»Wer sollte es nicht würdigen, wenn ein feiner weiblicher Sinn vor der höchsten Erfüllung bangt, solange einem berechtigten Empfinden nicht sein Genügen ward?[514] Kennen wir denn aber nicht unseren Dezimus? Er wird in deiner kindlichen Treue eine Bürgschaft mehr für sein eigenes Glück gewahren und sich, auch als dein Gatte, mit der Liebe einer Schwester begnügen, solange der Trauer um eine Mutter nicht ihr Recht geschehen ist.«
Dezimus legte schweigend seine Hand in die dargebotene des Greises. Er tat es mit niedergeschlagenen Augen, und wennschon er im Leben nicht selten mit verräterischen Blutwogen zu schaffen gehabt hat, so über und über in Karmin getaucht wird sein ehrliches Gesicht schwerlich je zuvor oder je nachdem gewesen sein, aber auch sein Herz selten peinvoller geschlagen haben.
Rose hatte während des Vaters letzten Worten wie versteinert gesessen. Jählings überfiel sie ein Zittern; sie sprang auf, und die Hände vor das Gesicht geschlagen, floh sie aus dem Zimmer. Der Vater lächelte still vor sich hin. Dem Bräutigam lag eine Zentnerlast auf dem Herzen.
Zu seiner Erleichterung trat im nämlichen Augenblick der Emeritus Beyfuß ein, behufs einer amtlichen Anfrage, da er der Küsterpflicht nicht gleichzeitig mit der des Schulregenten entsagt hatte. Sein alter Herr teilte ihm die gefaßte Entschließung mit. Es lag ihm daran, seine Gemeinde über die Beweggründe des immerhin auffälligen Schrittes vorbereitend aufzuklären, und für derlei Vorbereitungen war der Adlatus Beyfuß just der rechte Mann. Mutter Hanna hatte ihn allezeit die wandelnde Glocke genannt.
Rose kehrte in das Zimmer erst zurück, nachdem die beiden Freundinnen eingetroffen waren; sie setzte sich in den Ofenwinkel und sprach an dem Abend kein Wort. Der Bräutigam stand ebenso schweigsam im Fensterbogen. Er starrte zum Himmel empor, an dem doch, so dick war[515] der Nebel, kein einziges Sternchen zum Durchbruch kam. Der Vater teilte auch seinen lieben Abendgästen das Vorhaben mit, das seinem Leben einen beruhigenden Abschluß geben sollte. Da Rose ihre Bedenken nicht von neuem laut werden ließ, blieben sie unerwähnt, und es befremdete Dezimus einigermaßen, daß Lydia, die für alles Edle und Schickliche doch so feine Organe hatte, jene Bedenken nicht vorauszusetzen, sondern das Verlangen nach der väterlichen Weihe für den Bund der Herzen das natürlichste zu finden schien. Das musikalische, für Mißklänge daher äußerst scharfe Ohr der kleinen Sidi dahingegen spürte die durch diesen Akkord gestörte Harmonie bald genug heraus, war auch über die Urheberschaft der Störung nicht im Zweifel. Dem Vater sagte sie zwar nur in trockenem Ton, daß ihm eine recht lange Frist gegönnt sein werde, sich des Glückes seiner Kinder zu erfreuen, da Todesvorbereitungen gewöhnlich in Lebensverlängerungen umschlügen; während des Heimwegs, der heute zu verfrühter Stunde, weil ohne geistliches Konzert samt Weltbetrachtung, angetreten ward, spottete sie jedoch nach Herzenslust über die hochzeitliche Stimmung, die im Schmollwinkel ausgeschwiegen worden sei.
Die kluge Sidi hatte, wenn sie spottete, immer einen Zweck und fast immer einen so guten, daß Lydia ihm zugestimmt haben würde, insofern sie ihn unter solcher Verkappung erkannt hätte. Sie erkannte ihn auch heute nicht. Rosens Widerstreben war ihr wohl nicht entgangen, aber das leichtherzige Kind gewann dadurch in ihrer Schätzung, wie es schon in der des Vaters gewonnen hatte, und so wendete sie mit vorwurfsvollem Tone ein:
»Muß denn nach dunkler Nacht das Auge sich nicht erst an das Sonnenlicht gewöhnen lernen?«[516]
Dezimus drückte ihr für dieses gute Wort die Hand; Sidonie zuckte nur schweigend die Achseln, als sie den Weg aber allein mit dem Freunde fortsetzte, sagte sie unmutig:
»Wenn diese Idealisten doch nur das Urteilen bleiben lassen wollten! Alles wird nach dem eigenen Gefühlsmaßstabe bemessen; nichts nach dem der Natur, der Individualität. Zu stark wäre für dieses frohe Auge das Licht des Glücks? Zu schwach ist es ihm. Das Leben ist mächtiger als der Tod. Rose denkt nicht an ihre Mutter!«
Sie merkte zu spät, daß sie die wundeste Stelle im Herzen des Freundes berührt habe, und lenkte daher begütigend ein:
»Das liebe Mädchen, mit Staunen haben wir alle es bemerkt, hat sich redlich Mühe gegeben, sich Ihrem Wesen, Freund, anzubilden. Nicht weil sie Ihre Braut geworden, dies Verhältnis dünkte ihr von klein auf das natürliche, aber weil sie Ihnen das Leben zu danken glaubt und sie das Leben liebt. Nun müssen aber auch Sie sich Mühe geben, sich ihrem Wesen anzupassen; das heißt nicht nur es sich spielerisch gefallen zu lassen, sondern ernsthaft darauf einzugehen. Rose ist durchaus nicht das Kind, für das sie sich gibt und für das sie genommen wird. Sie ist eine fertige Natur und kann ein Charakter werden. Sie weiß, was sie will, weiß, warum sie lacht und weint, mit dem Lockenköpfchen nickt und es schüttelt. Und eben in dieser bewußten Ursprünglichkeit, in dieser Wechselwirkung von Kindersinn und Überlegung wirkt sie auf jedermann so reizend. Allezeit ein Kind sein macht läppisch, allezeit überlegt sein unausstehlich. Bei alledem ist ihr Grundwesen die Freude, und diesem natürlichen Freudensinn müssen Sie auch bei dem gegenwärtigen Anlaß Rechnung tragen,[517] Dezimus. Ihr gegenseitiges Verhältnis ist ja nicht auf eine sich über stürzende Leidenschaft angelegt, so wie etwa mein Max eine ›große‹ Liebe versteht. Wie oft mögt ihr beide euch in aller Seelenruhe euer Verhältnis als Mann und Frau ausgemalt haben, kaum viel anders als das von Bruder und Schwester. Aber die Hochzeit hat die Kleine sich jederzeit als ein besonderes Fest gedacht, in ihrem beschränkten Kreise sie niemals anders als hohes Fest gefeiert. Die Hochzeit ist im Frauenleben der trennende goldene Schnitt, der leuchten soll weithinaus in ein nur allzuoft graues, trübseliges Einerlei. Was bedeutet der Braut nicht schon das frohe Schaffen der Aussteuer? die Wahl des Hochzeitskleides, der Gedanke an Schleier und Kranz, in dem auch die Häßlichste einen Schönheitstriumph feiert! Nehmen Sie ihr aber auch noch Sang und Klang des Polterabends und Hochzeitsschmauses, und aus dem goldenen Schnitt wird ein bleierner oder bestenfalls einer, der sich von dem abgebleichten Metall der Altargefäße nicht unterscheidet. Ja, wer weiß, hat sich Ihr bewegliches Bräutchen nicht gar auf eine Hochzeitsreise gespitzt! Es geht nicht, Freund, so ohne Zier und Lust; ein Sterbebett im Hintergrunde und eines im Spiegel vorgehalten, die Kinderstube, in der die Wiege gestanden hat, nunmehr die Hochzeitskammer. Papa Blümel würde freilich diese unklassische Auffassung vom goldenen Schnitte nicht gelten lassen. Sie müssen ihn hinzuhalten suchen; ich will Ihnen treulich darin beistehen. Ich kenne aus alter wie neuer Erfahrung die Zähigkeit eines Greisenlebens. Lassen Sie nur erst die Frühlingssonne scheinen und im Garten die Blumenkinder sprießen, dann wallen auch im Herzen die stockenden Säfte wieder auf, der umnebelte Hochzeitsstern wird golden blinken, und die Kranzjungfern Lydia und[518] Sidi werden mit Peter Kurzen und Held Martin den lustigen Brautreigen führen.«
Hatte das kluge Mädchen recht? War es wirklich nur das? Und konnte es dem Liebenden ein Trost sein, wenn es wirklich nur verkümmerte Freude war, welche den starken Trieb des Weibes also im Banne hielt? Nein, ach nein! Er ahnete es ja nicht erst seit heute, daß es ein anderes war; ein größeres oder geringeres; die Wirkung des unerklärlichen Rosenwandels. Mochte Lydia den Ernst der Stimmung zu hoch anschlagen, Sidonie schlug ihn zu niedrig an. Hier klaffte eine Lücke, und welches Geheimnis auch auf ihrem Grunde brütete, die Stunde drängte, er durfte sein Auge nicht länger vor dem schneidenden Lichtstrahl verschließen.
Stundenlang nach der Trennung von Sidonien war er im dicken Nebel, der Himmel und Fluß umhüllte, den Uferpfad hin und wieder geschritten, Zweifel und Fragen auf und ab wälzend wie den Stein des Äoliden: »daß der Schweiß seinen Gliedern entfloß, von schrecklicher Mühe gefoltert.« Mitten in der Nacht kehrte er heim. Der Vater war längst zur Ruhe gegangen, und eben das hatte er gewollt. Er hätte heute kein Wort mehr aus seinem Munde, den Blick seiner Augen nicht ertragen. Aber im Wohnzimmer brannte noch die Lampe, und schon auf der Treppe kam Rose ihm entgegen, mit dem Finger auf dem Munde und einem Wink, bei ihr einzutreten. Sie sah so blaß aus wie jüngst auf dem Krankenlager; ein Zug fast von Trotz dehnte die Lippen, die sich sonst so anmutig kräuselten, als ob sie in einem gewaltsamen Entschluß die Zähne aufeinanderpresse. Über den Augen jedoch lag ein feuchter Flor; sie hatte geweint.
»Ich habe dich erwartet, Dezimus,« sagte sie ruhig,[519] indem sie auf einen Stuhl dem ihren gegenüber deutete, »weil ich dir heute noch etwas sagen muß. Es wird dir wehe tun; aber irremachen wollen darfst du mich nicht, denn ändern kann ich es nicht, wahrhaftig nicht.«
Sie sann ein Weilchen, den Blick am Boden, dann fuhr sie fort:
»Dezimus, wir müssen dem Vater den Willen tun. Er ist so schwach, und wir wissen jetzt, wie rasch ein Leben endet. Er muß im Glauben an unser Glück die Augen schließen oder ganz allmählich an eine andere Auffassung gewöhnt werden. Darum verkünde nur das Aufgebot. Drei Wochen sind eine lange Frist. Es wird sich bis dahin ein Aufschub ersinnen lassen. Im äußersten Falle werde ich wieder krank. Mir ist schon jetzt, als würde ich es ohne Lüge. Es rückt dann die Fastenzeit heran, in der er nicht leicht eine Ehe schließen würde; es kommt der Frühling, der ihn kräftigen wird, – wenn nicht – nun, du verstehst dies ›wenn nicht‹. Wir ersparen ihm die Wahrheit, oder er könnte sie ertragen; die Wahrheit, Dezimus, daß, seit ich deine Braut geworden bin, ich weiß, daß ich deine Frau nicht werden kann.«
»Hast du mich denn nicht mehr lieb, Rose?« fragte er; nein, er hauchte es, oder vielleicht dachte er die Frage auch nur; aber Rose hatte sie verstanden. Sie mochte die Tiefe seiner Bewegung nicht geahnt, den Grad seiner Wärme nach dem der ihren bemessen haben. Möglich, daß sie bis dahin auch mehr das, was sie selber aufgab, als die Entsagung, die sie forderte, in Betracht gezogen hatte. Nun, da sie seine Erschütterung inneward, sagte sie mit herzlicherem Klang als zuvor:
»Ich habe dich noch lieb, Dezimus, mehr denn jemals lieb, ja im Grunde liebe ich dich erst jetzt; denn erst jetzt[520] weiß ich, was du wert bist, und daß es keine bessere Liebe gibt als die deine zu mir. Sieh, seitdem ich mich auf mich selbst besinne, dachte ich nicht anders, als daß wir von Natur zueinander gehörten; ich freute mich auf die Zukunft, die der Vergangenheit glich, und fühlte mich als deine Verlobte, lange bevor ich es war. Denn in der Stunde, da ich es ward, fühlte ich nur den eisigen Tod, und dann fühlte ich tagelang nichts, gar nichts, bis du mir mit deinem Blute das Leben wiedergegeben hattest und ich nun plötzlich wußte, wie ich dich liebte, wie tief ich dich liebte, – aber nicht als dein verlobtes Weib. Es war eine Blutesliebe geworden, eine Geschwisterliebe, und nicht wahr, guter Dezimus, du würdest mir das Leben erkauft haben, auch wenn du wußtest, welchen Preis du dafür zu zahlen hattest?«
Er sagte nicht ja, obgleich er es hätte sagen dürfen. Nach einer Pause fragte er so leise wie vorhin: »Liebst du einen anderen, Rose?«
Das schelmische Lächeln ihrer früheren Tage flog über ihre Lippen. »Einen anderen?« versetzte sie. »Närrischer Dezem, ei, wen denn wohl? Peter Kurzen oder Held Martin? Schäme dich doch, Dezimus, du beleidigst dich und mich mit derlei Rivalen! Und dennoch,« setzte sie nach einer nachdenklichen Pause hinzu, »und dennoch könnte ich am Ende mit jedem von ihnen leichter fertig werden als mit dir. Denn über sie lachte ich mich hinweg; aber mit dir ist es mir heiliger Ernst; dir könnte ich nichts Halbes geben, heute mindestens nicht mehr geben.«
Sie hielt betroffen inne, da sie ihn mit einem Tränenstrom kämpfen sah; dann aber, immer wärmer und wärmer werdend, fuhr sie mit der ihr eignenden hol den Beweglichkeit fort:[521]
»Ich werde nie einen Menschen, wie du bist, wiederfinden. Ich habe dich lieber als alle anderen Menschen, als meine Schwestern alle zusammengenommen. Nur meinen Vater habe ich ebenso lieb wie dich; aber wie lange werde ich meinen lieben Vater noch haben? Dezimus, ich blicke zu dir auf wie – zu meinem Schutzengel würde ich sagen, wenn ich die fromme Lydia und nicht Rose Blümel wäre, die an Schutzengel nicht glaubt, nur an gute Menschen wie du. Sieh, Dezimus, ich wüßte mir nichts Schöneres auszudenken, als mein Leben lang um dich zu sein, hier in der Pfarre oder anderwärts, wo es dir gefiele, als dein Kind, als deine Schwester, deine Freundin, deine Versorgerin, als – ach, lächele doch nur ein einziges Mal, Dezimus – als deine demütige Magd, nur nicht als deine Frau. Erst seit dein Blut in meinen Adern fließt – oder wäre es, daß der Tod mich reif gemacht? –, erst seit ich deine Braut bin, weiß ich, was es heißt, eines Mannes Weib zu sein, und ich weiß auch, was es heißt, eine Sünde begehen wider den Heiligen Geist. Ich würde den Himmel auf Erden an deinem Herzen haben, und wenn ich dich von mir weise und habe auch meinen Vater nicht mehr, ach, dann bin ich ja das allerverlassenste arme Kind auf der ganzen Welt. Und dennoch, etwas, etwas Heimliches, das ich nicht nennen kann – es muß doch wohl mit dem Dämon, an den des Vaters alte Heiden geglaubt, seine Richtigkeit haben, Dezimus! –, ja, ein Dämon sträubt sich und bäumt sich gegen meinen Willen wie gegen einen Frevel an der Natur. Du weinst, Dezimus? Ach, weine doch nicht! Ich bin ja deine Tränen gar nicht wert. Nein, so traurig darfst du mich nicht ansehn, Dezimus. Hast du mich denn wirklich so sehr lieb? Das habe ich mir ja gar nicht gedacht. Du bildest es dir am Ende nur ein. Du[522] wirst eine andere finden, die besser ist als ich; die wirst du heiraten und glücklich werden und mir es noch einmal danken, daß ich dich nicht so geliebt habe, wie sie dich liebt. Oder höre, Dezimus, wer weiß, ob es bei mir nicht ein Nervenspuk ist, den die Krankheit zurückgelassen hat, oder das Todesgesicht? Die selige Mutter hat mich ja immer einen Querkopf gescholten! dein Blut in meinen Adern kann versickern. Der Mensch wird alle paar Jahr ein neuer, sagt Peter Kurze. Ich glaube es freilich nicht; aber es kann ja sein; du mußt nur Geduld mit mir haben, Dezimus. Ich kann dich ja wieder lieb haben lernen wie sonst, wo ich so gern deine Frau geworden wäre, so lieb, wie ich dich lieb haben möchte. Aber wahrlich, wahrlich, Dezimus, niemals mit einer bessern Liebe als in dieser Stunde, wo ich ohne Neid und Groll eine Stimme im Innersten sagen höre: Es ist sein alter Johannissegen, der ihn vor dir und vor sich selbst bewahrt.«
Dezimus reichte ihr stumm die Hand und schlich in die Kammer, wo der Vater schlief. Und da hat er in dieser Nacht wohl einen guten Kampf gekämpft, aber keinem Menschen ist es eingefallen, ihn ob seines Sieges als Helden zu preisen. Und ob ihm sein schweigendes Bräutigamsopfer eines Tages heimgezahlt werden wird? – Ach, was fragt ein Mensch nach dem Glück, das er gewinnen kann, in dem Augenblicke, wo er das, was er besaß, verlor? Dezimus hatte seine Rose niemals schöner gesehen, sie niemals so heiß geliebt wie in dieser Nacht.
Der Morgen kam, der Vater erwachte. Dem armen Dezimus wurde es plötzlich wieder schwarz vor den Augen. Denn in dem Kampfe, den er auszukämpfen hatte, da schien die Proklamation, welche ihm für den Sonntag aufgegeben[523] worden war, freilich nur ein geringfügiges Hindernis. Wenn aber einer eine schwere Last bergan zu tragen hat, da hemmen die Steinbrocken, die auf seinem Wege verstreut liegen, den strauchelnden Schritt mehr als der jache Felsenvorsprung, der sich in weitem Bogen umgehen läßt. Tag und Nacht rang Dezimus mit dem Entschluß, dem Vater die Wahrheit zu bekennen. Aber der Greis war in diesen Tagen so sterbensmatt; hätte eine starke Erregung gewagt werden dürfen? oder welche schonende Täuschung wäre zu ergrübeln gewesen?
So legte Dezimus sich denn am Sonnabend nieder mit dem Vorsatz, morgen nach der Predigt zu verkünden: »Es sind entschlossen in den heiligen Ehebund zu treten« und so weiter und darauf des Himmels Segen zu seiner Verbindung mit Rose Blümel zu erflehen. Fest jedoch stand es in ihm, nach dieser bewußten, groben Unwahrheit mit dem priesterlichen Amte abzuschließen, sobald er die müden Greisenaugen zugedrückt haben würde.
Einer Nacht ohne Schlaf folgte gegen Morgen ein Halbschlummer ruhelos wie jene. Die häßlichen Zweifel des Wachens verkehrten sich in Schwindelängste des Traums. »Von der Kanzel fallen« nennt der Volksmund das kirchliche Aufgebot. Bräutigam und Braut stehen auf einem hohen Gerüst. Er sieht sie straucheln, sinken, will sie halten, taumelt und stürzt mit einem gellen Schrei ihr nach in die Tiefe. Über dem Schrei wachte er auf. Der Greis stand an seinem Bette.
»Du sollst nicht lügen, mein Sohn,« sagte er ruhig, und das kirchliche Aufgebot wurde nicht verkündet.
Wochen vergingen ohne in die Augen springende Veränderung; der Vater schien seinen Plan vergessen zu haben,[524] und wer hätte ihn daran erinnern sollen! In der Gemeinde hatte sich die Sage verbreitet, der Pastor habe, da er sich merklich kräftiger fühle, die Trauung verschoben, bis er sie zum Frühling in seiner Kirche zu vollziehen imstande sei. Möglich, daß Rose des beflissenen Adlatus Einbläserin gewesen ist; vermutlicher indessen Fräulein Sidonie.
In der Pfarre wurde die Weltbetrachtung fortgesetzt; Sidonie spielte ihre Fugen. Dezimus dankte es Lydia, daß sie, ihre Sangesscheu vor fremden Ohren überwindend, jetzt regelmäßig an seiner Statt den Vater durch ein Beethovensches Gellertlied oder eines von seinem alten Bach erquickte. Nie hatte er einen reineren, edleren Alt gehört. Ohne daß ein aufklärendes Wort gefallen wäre, verstanden beide Freundinnen den Grund von des Bräutigams traurigen Augen. Sidonie, wenig von der heimlichen Lösung überrascht und sie noch weniger beklagend, dachte: »Er muß durch!« suchte ihn mit Ernst und Scherz zu zerstreuen, brachte ihm gute Bücher, Karten, kleine optische Instrumente, machte ihm Freude, wo sie konnte. Mehr aber, wahrhaft wohl, tat ihm Lydia, die, ahnungslos von seiner Erfahrung betroffen und in seine Seele betrübt, ihn mit einer leisen, schwesterlichen Güte umspann und in deren Blicken geschrieben stand: »Ich weiß, was Sehnsucht heißt, mein Freund.« Zu ihrem von Tage zu Tage wachsenden Verständnis seiner wissenschaftlichen Interessen gesellte sich nun noch ein herzliches Mitleid, wie seinerseits der gewohnten hohen Verehrung sich eine dankbare Rührung verband, um ihre gegenseitige Freundschaft zu einer vollständigen zu machen. Oftmals aber schmerzte es ihn, daß von all dieser Güte er allein der Empfangende war, und um die arme Rose, die ihre Brautkrone doch so tapfer der Wahrhaftigkeit geopfert hatte[525] – die Billigkeit dieser Einsicht hatte die Kränkung dem Verschmähten, Gott sei Dank, nicht geraubt –, um sie kümmerte sich keiner als er allein.
Freilich sah Rose nicht danach aus, als ob ihr eine Zukunft verschüttet worden wäre. Ein neuer, seltsamer Geist schien in ihr aufgewacht. Oder wäre es der ihres Einst gewesen, der mit dem »reifenden Todesgesichte« um ein heimlich Werdendes rang? Wallende Unruhe wechselte mit grübelndem Versinken; manchmal war es, als fühle sie sich selbst ängstlich den Puls, manchmal, als dränge es sie, sich einem Menschen an die Brust zu werfen. Die ernste Lydia nannte ihren Zustand Gewissensbangen, die kluge Sidi dagegen einfach Langeweile ob Fugen und Weltbetrachtung. »Das Rosenkind weiß, was es will, wenn es am wenigsten es zu wissen scheint,« war heute wiederum ihr Satz.
Ob die kluge Sidi sich aber heute nicht wiederum täuschte? Ob das Rosenkind wirklich wußte, nach was es verlangte? Und was verlangte es denn? Sich freuen, gefallen, geliebt werden wie einst? Oder was mehr? War die »querköpfige Laune« verflogen? das Blut des Bruders in ihren Adern versickert? Bereute sie den heimlichen Bruch? Hatte die »beste Liebe« der natürlichen Liebe wieder Raum gegeben? Dezimus, wenn er ihren lächelnden Blicken begegnete, wenn sie ihm herzlich die Hand reichte, die er freiwillig nicht mehr zu berühren wagte, der arme, törichte Dezimus hoffte wieder nach armer, törichter Liebhaber Art.
In diese lauernde Stimmung drang nun aber, sonderbar belebend, ein Hauch von dem prickelnden Atem der Zeit, und wie Sidonie es gewesen war, welche die Weltbetrachtung gegen die Todesbetrachtung auf die Tagesordnung gebracht hatte, so war sie es jetzt wieder, welche[526] für die Streitfragen der Herzen in denen der Politik einen Ableiter fand. So zurückgezogen sie gegenwärtig lebte, sie hatte bis vor kurzem in einem regen Verkehr gestanden, stand noch mehrfältig und zumal mit ihrem Stiefvater Zacharias in einem Briefwechsel, der sich nicht mit Intimitäten befaßte; sie hielt die bedeutendsten Zeitblätter und Publikationen auch des Auslandes, und was der Hauptfaktor war, bei starker Erhaltsamkeit der Gesinnung besaß sie einen scharfen Sinn für das Schürende und Treibende im Einzelleben wie im allgemeinen. Allerorten witterte sie Gärung und glimmende Glut, zumeist aber dort, wo das Herz schlug, in dem das ihre pulste.
Für den Augenblick zwar wußte sie Max fern. Der Brief, in welchem sie ihn zu dem Herrenleben in Bielitz einlud, hatte sich mit einem gekreuzt, in welchem er ihr einen Winteraufenthalt in Andalusien meldete. Lange freilich würde es ihn, dem holdesten Himmel zum Trotz, unter maurischen Schönheitsresten nicht dulden; seine Zone war die der Aktualität. Die Schwester war indessen schon froh genug, ihn fern zu wissen in einer Gegenwart, wo sie nun einmal, mochte es ein Nebelbild sein, bedrohliche Dämpfe dem Krater entsteigen sah.
Die Stoffe, die sie am Tage gesammelt hatte, die trug sie am Abend nun hinauf in die stille Pfarre, und der sie am gierigsten verschlang, der sie einsog wie einen belebenden Wein, das war der friedliche, sterbensmatte Greis. Er konnte den Moment kaum erwarten, in welchem seine kundige, junge Freundin das Zimmer betrat; er lauschte, fragte, las in kräftigeren Stunden mit der regsten Neubegier; und wie ein erfahrener Landmann, wenn er in weitem Abstand Blitze züngeln sieht, am Zuge der Wolken und Wechsel der Winde, am Fluge der Vögel und manchem[527] anderen tierischen Instinkt sorglich die Niederschläge berechnet, die seine Heimatsflur erquicken oder bedrohen können, so spähete und spannte der alte Freiheitskämpfer von 1813 nach der elektrischen Spannung, welche, sich entladend, in seinem Preußenlande eine Saat, die er selbst mit ausgestreut hatte und deren Reife er nicht mehr erleben sollte, je nachdem befruchten oder vernichten würde.
Patriotische Erinnerungen und Erwartungen ließen, so schien es, ihn den Zwiespalt zweier junger Herzen vergessen.
Noch war es indessen ja nur die Schwüle vor dem Orkan, welche der Empfängliche spürte; noch ahnete keiner, an welcher Stelle und in welcher Weise der atmosphärische Strom sich entladen werde. Als Sidonie jedoch eines Abends die Neuigkeit von dem Ableben des alten Dänenkönigs brachte, als sie mit apodiktischer Beweisführung dartat, daß sein Nachfolger die strittige Nationalitätenfrage zugunsten des Gesamtstaates lösen werde, ja von seinem Standpunkte aus lösen müsse, da steigerte sich in dem Greise das bängliche Vorgefühl zu einem prophetischen Gesicht. Er sah den Funken in seinem Volke niederschießen, nicht wie schon manchmal als einen kalten Schlag; und wie entfernt und beschränkt auch immer der Herd, große Geschicke sah er sich auf ihm entzünden. Sidonie lächelte über den aufgeregten alten Herrn. Mochte er recht haben! Der Kampf um einen Fetzen deutschen Landes, um eine Handvoll »deutscher Sklaven« war keiner, für welchen ihr Max weder zum Rebellen noch eventuell zum Patrioten ward. Die zündende Idee vertrat ihm auch an dieser Stelle Deutschlands Feind.
In dem Sohne dagegen zitterte des Vaters Erregung nach. Schon während seiner Universitätszeit hatte »der[528] Schmerzensschrei« der Herzogtümer wie in den Herzen der Kommilitonen so auch in dem seinen einen starken Widerhall gefunden. Er hatte dem alten, redlichen Vater Jahn endlosen Beifall klatschen helfen, als dieser bei Gelegenheit eines Sängerfestes in der Umgegend die deutsche Jugend im Binnenlande aufrief, sich zu scharen unter dem Banner der durch einen schmachwürdigen Königsbrief bedrohten deutschen Brüder diesseit und jenseit des Eiderflusses, und als darauf in tausendstimmigem Chorus »Schleswig-Holstein meerumschlungen« gesungen wurde, da erscholl der Baß des Hünen der Studentenschaft so donnermäßig wie vor der Zeit noch nie und nach der Zeit nicht wieder. Er, der Hüne, hatte sogar es ganz plausibel gefunden, als Vater Jahn darauf öffentlich seine Mißbilligung aussprach, daß jenes herrliche deutsche Lied in Klang gesetzt worden sei zu eitlem Prahl; auf die Weise »Flieg, Käfer, flieg!« müsse das heiligste Anliegen seines Volkes schon dem Kinde an der Mutterbrust durch die Ohren in das Gemüt dringen und ihm das Eingeweide umwenden.
Feuerfangen wie Stroh und wie Strohfeuer verflackern ist aber nicht eines Glücklichen Art. Dezimus hatte nach jenem beweglichen Sängerfeste oftmals über die Bruderschaft an der Eider nachgedacht, und wenige Streitfragen der Zeit waren ihm so verständlich geworden wie diese. Zwar schätzte er auch die Inseldänen als deutsche Brüder, aber doch nur als Halbbrüder, und da vollbürtige Geschwister den halbbürtigen im Erbe, auch der Liebe, vorangehen, jene halbbürtigen sich überdies wie recht feindliche Stiefbrüder gebärdeten, fühlte er aus dem Herzen der vollbürtigen heraus ein gutes Recht gekränkt. Als er nun aber bei seinem kürzlichen Inselaufenthalt einen Teil dieser[529] rechten Brüder kennen lernte und so kernhafte, tüchtige Menschenbrüder unter ihnen, als er anschaulich in dem Küstenstreifen, um den es sich handelte, die Pforte in das Weltweite erkannte, deren kein zum Leben berufener Staat entraten kann, da brannte ihn die Schmach, die ein kleines einiges Volk seinem großen uneinigen Volke anzutun wagte, und er ermaß die Gefahr für einen dem letzteren unentbehrlichen Besitz. Mußte dieser Besitz, mußten Recht und Ehre in blutigem Streit erobert werden, diesen Streit hätte er ausfechten helfen mögen; in seiner gegenwärtigen Stimmung aber mehr denn je. Oft, ach, wie oft, sehnte er sich aus seiner Schwüle heraus nach einer erfrischenden Tat!
Wie es denn nun aber in Fragen um das Allgemeine oftmals ein Persönliches ist, welches den Anteil schärft, ja sogar ihm eine veränderte Richtung gibt, so war es an jenem Abend der Gedanke an Philipp, der sorgenvoll aus Lydias Seele in die ihres Freundes zog. War er es doch, welcher den Jüngling in den Umkreis des glimmenden Herdes geführt hatte; die Verantwortung für sein Schicksal fiel auf ihn. Er spürte, wie das Hartensteinsche Blut in dem Jüngsten des Geschlechtes aufschäumte, wie es ihn hinriß zu Torheit und Übermut; er sah ihn ergriffen, verzehrt von den Flammen. Und so spukte der tote Dänenkönig in dem friedlichen binnenländischen Pfarrhause gleich einem drohenden Gespenst.
Zum Glück spuken Gespenster jedoch nicht über Nacht, wenigstens nicht in einem Pfarrhause wie dem Blümelschen. Am anderen Tage fühlte ein jeder, daß er mit seinen Befürchtungen weit über das Ziel hinausgeschossen habe und daß nicht mit Feuer und Schwert erledigt zu werden brauche, was mit Feder und Tinte zu erledigen ist. Der[530] alte Dänenkönig war tot, was wußte die kleine Sidi von den Staatsgedanken des neuen?
Um so friedfertiger, als man gestern kriegerisch gestimmt gewesen, vertiefte man sich heute statt in die Politik der Neuen Rheinischen Zeitung in die Physik des greisen Humboldt; und da war es denn eine Anspielung von ihm, welche, um der gründlichen Lydia genugzutun, den Vorleser zu der Verdeutlichung des optischen Grundsatzes, daß jeder Mensch seinen eigenen Regenbogen sehe, veranlaßte. Das führte Vater Blümel nun hinwiederum recht behaglich in sein Lieblingsgebiet, die Gesetze der sichtbaren Natur auf die der unsichtbaren zu übertragen. Sidonie, die während dergleichen »Transfigurationen« nicht immer streng bei der Sache war, summte vor sich hin: »Zart Gebild wie Regenbogen wird auf dunklem Grund gezogen«, Rose aber sog den Duft einer Hyazinthe ein, lächelnd mit halboffenem Munde, so als ob auch ihr ein heiteres Gebilde sich auf dunklem Grunde male, und als ob auf ihren Lippen der Ruf schwebe, »sieh, die liebe Sonne ist wieder durchgebrochen!«
Dezimus gedachte des Tages, wo ihm der Vater das Wunder der bunten Himmelsbrücke als eine Tat der göttlichen Versöhnung erklärt hatte und er, hinauslaufend, um noch eine Spur aus der himmlischen Werkstatt zu entdecken, sein weißes Fräulein wie einen Engel der Verheißung stehen sah. Und bei diesem Erinnern überkam ihn so völlig wie noch nie das Bewußtsein dessen, was er diesem herrlichen Wesen schuldig geworden war; nicht bloß durch die Wirkung, welche es auf ihn geübt, sondern mehr noch durch die, welche ihm gestattet worden war, dagegen auszuüben. Und das ist ja wohl das Höchste, was ein Mensch dem anderen danken kann. Seine Blicke hingen an dem[531] edlen Gebilde, das auch ihm sich auf dunklem Grunde erhob; er sah, wie sie die Brücke der Versöhnung, die aus dem eigensten Gemüte heraus in den Himmel führt, dem Greise gedankenvoll nachbaute, wie sie verständnisvoll mit einem innigen Blicke ihm die Hand drückte. Dann aber sah er sie, erbleichend, plötzlich auf ihrem Stuhle zurücksinken: die Tür ihr gegenüber war leise geöffnet worden, und in ihrem Rahmen stand, wie von der unerwartetsten Erscheinung gebannt, die Blicke auf sie geheftet, ein schlanker, bleicher Mann, die unerwartetste Erscheinung auch für sie. »Max!« jubelte Sidonie auf, indem sie sich in seine Arme stürzte, »Max!«
Ja, Max! Länger als vier Jahre waren es, daß er den Groll des Titaniden in diesem Raume ausgeströmt; länger als vier Jahre, daß er mit neuen Titanengelüsten gegen den alten Himmel gestürmt, Menschen nach seinem Bilde gedichtet und – wohl mehr denn der ursprüngliche Prometheus – genossen und sich gefreut als geweint und gelitten hatte. Die Büchse der Pandora hatte sich auch über seinem Haupte ergossen; die Jünglingsblüte, das Erbe eines kampfgestählten Geschlechts, war auf dem Antlitz des Mannes verwelkt; die bleiche Farbe, das erweiterte Auge, die gedehnten Züge sprachen von der Müde, die der Überreizung folgt, und dennoch, ja darum erst recht, war er der schönste Mann, welchen alle in dieser Minute auf ihn gerichteten Blicke jemals geschaut hatten oder schauen würden, und darum erst recht war er, wie man es so nennt, ein interessanter Mann.
Menschen aus einem Gusse wie Lydia, oder nach seiner Art auch Held Dezimus, werden schwerlich, sogar von schmeichelnden Biographen, als interessante Leute aufgeführt werden. In Max von Hartensteins Anlage und[532] Schicksal, ja bis auf den äußerlichen Habitus hinab, lag jedoch wie selten in einem jenes zwiefältige oder zwiespaltige Etwas, das als Zauber der Interessantheit wirkt. Er war nach Geblüt und Neigung Edelmann und nach Gesinnung Demokrat; er fühlte sich einen Dichter und lebte wie ein Kind der Welt; er wußte sich und stellte sich dar als den Erben einer Million und darbte wohl manchmal um das tägliche Brot; er betrat den heimischen Boden als ein Fremdling und den Kreis der Gleichgestellten nahezu mit dem Stigma des Ausgewiesenen, aber mit den Ansprüchen und dem Gebaren des Herrn; er trug noch das strenge Trauerkleid um seine Mutter, aber von einem Schnitt, wie im weiten Umkreis seines künftigen Dominiums noch kein Kleiderschnitt gesehen worden war. Und wie trug er das Kleid! Wie ließen dem blondlockigen Germanen mit dem tiefblauen, treuherzigen Hartensteinschen Blick und Ton die flüssigen Allüren, die spielenden Aperçüs eines Eingewohnten von Paris; wie verstand er, wenn er wollte, und heute wollte er es, jedem zu sagen, was ihm zu hören gefiel, wie kaum merklich zu schmeicheln, wäre es auch nur mit einem Augenaufschlag, einer Bewegung der Hand. Und doch war er zum Komödienspiel zu gründlich Stimmungsmensch und zur Koketterie zu selbstbewußt und stolz.
Er war seiner Überraschung alsobald Herr geworden und grüßte nun rund im Kreise mit vollkommener Unbefangenheit. Nachdem er sich vor Vater Blümel ehrerbietig wie vor einem Patriarchen verbeugt, zog er die Hand, die Lydia ihm schweigend gereicht hatte, ebenso schweigend an seine Lippen und hielt sie ein paar Sekunden an denselben fest. Etwas anders nüanciert, nicht ganz so ernsthaft oder vielleicht ritterlich war die Berührung der rosigen Fingerspitzen ihrer Nachbarin, der erste Handkuß, mit[533] welchem irgendein Mensch das Pfarrröschen ehrte; selber ihr alter Dezem war in den Tagen seiner Rosenwonne auf solche Galanterie nicht verfallen; und wer in aller Welt hatte vor diesem aristokratischen Demokraten das Pfarrröschen jemals »gnädiges Fräulein« tituliert, wer sich so ausdrucksvoll gewundert, wie bis zum Nichtwiedererkennen in den Jahren der Trennung eine freundliche Gönnerin größer und schöner – das letzte Epitheton wurde nur mit den Augen gelächelt – geworden sei? Auch der Herr Kandidat würde mit dem biderben Handschlag, den er erntete, wohl zufrieden gewesen sein, wenn die nachfolgende Gratulation zu seinem Verlobungsglück ihm nur nicht wie ein Stich durch die Brust gefahren wäre. Endlich aber die kleine Sidi, die ließ der prächtige Mensch gar nicht aus dem Arm, nicht von seiner Hand. Er streichelte ihre blassen Wangen, ihren schlichten Scheitel, blickte und nickte ihr zu wie eine Mutter ihrem kranken Kind, und alles das so einfach, als ob das Gehörige auch immer das Natürliche wäre.
Er erzählte darauf, daß er in die Heimat gekommen sei, um unter den Auspizien seiner Schwester ein tüchtiger Landwirt zu werden, daß er sich auf ihre Überraschung gefreut und, als er sie nicht in ihrer Werkstatt, den armen alten Großvater aber bereits schlummernd gefunden, er der Lockung nicht habe widerstehen können, sie im Kreise der Freunde aufzusuchen.
Welche wohlgelungene Überraschung nicht bloß für die Eine, der sie galt! diese Eine aber strahlte wie eine Selige; kaum daß sie die Augen von ihrem Liebling verwendete, heute in Wahrheit ihrem Bertrand de Born! Denn auch des Greises Puls schlug in einem lebhafteren Takt, und der betrübte Kandidat des Predigtamts sah seinen Jovisstern[534] leuchten wie in der Schülerzeit; die aber, welche als seine Braut von dem Gaste beglückwünscht worden war, die noch vor einer Stunde so träumerisch prüfend zu dem brüderlichen Verlobten hinübergeschielt hatte, die funkelte und sprühte jetzt wie ein gestreicheltes Kätzchen, tändelte zierlich mit dem Teegeschirr und hatte – wo nahm sie es nur auf einmal her? – für jedes heiter neckende Wort ein heiter neckendes Gegenwort. Das frische Blut, das aus einem fremden Herzen dem ihren eingeimpft worden, war nach langem Stauen in Fluß gekommen, das kindliche Gesicht bis unter die üppigen Locken mit seinem Purpur übergießend. Die verschämte Mädchenblüte hatte sich wiederum zur Zentifolienknospe umgewandelt, die unter dem ersten Sonnenstrahl die Hülle sprengen wird.
Nur Lydia schien von dem allseitigen Zauber unberückt, sie, die doch zweifellos die einzige war, welche der Zauberer des Berückens wert geachtet, und ebenso zweifellos die einzige, für welche ein jeder im Kreise die Bezauberung am natürlichsten gefunden haben würde. Ihr greiser Freund lauschte mit einem Ausdruck froher Hoffnung zu ihr hinüber; ihr junger Freund mit einem der scheuen Furcht, über deren Beweggrund er sich keine Rechenschaft hätte geben können; sie aber war wieder das unnahbare Klosterfräulein geworden; wie das Röschen plötzlich zur Rose aufzubrechen schien, so hatte sie den geöffneten Lilienkelch zusammengezogen. Sie blickte ernst vor sich hin, sprach nur, wenn sie eine Antwort zu geben hatte, und als die Stunde des gewöhnlichen Aufbruchs gekommen war, erhob sie sich vor den anderen, um heimzukehren. Dezimus wollte sie begleiten; Sidonie aber sagte lachend:
»Für heute, Freund, sind Sie Ihres Ritterdienstes quitt. Unser Weg führt ja am Schlosse vorüber. Verzögern Sie[535] Papa Blümel, der über Gebühr aufgeregt worden ist, den Abendsegen nicht.«
Lydia legte ruhig ihren Arm in den, welchen Max ihr bot; Sidonie hing sich in den anderen. Rose flatterte wie ein Schmetterling ihnen bis an die Haustür voran und kehrte nicht wieder in das Wohnzimmer zurück; Dezimus hatte das Nachsehen, ein schmählich ausgestochener Held. Er sang dem Vater das Abendlied, schloß keine Wimper in der Nacht und fühlte am Morgen sich doch, als erwache er aus einem wüsten Traum. Wie gestern die kriegerische Wallung, war heute die zauberische Blendung gescheucht. Aber die Augen taten ihm weh und das Herz wie kaum je.
Rose hatte an diesem Tage zu schaffen wie die Maus in sieben Wochen. War das aber ein Wunder? Rose war ja an die Stelle der Hausfrau gerückt und es Mutter Hanna gleichzutun sicherlich nichts Kleines. Die alte Lene mußte frische Teekringel backen, obgleich der Vorrat noch nicht aufgezehrt war; ei nun, er mochte etwas abschmeckend geworden sein; dem Bräutigam fehlte dafür nur das würdigende Organ; ihm mundete früherhin alles und jetzt leider nichts. Reine Gardinen wurden aufgesteckt. Zuverlässig waren die alten bestäubter gewesen, als sie dem Bräutigam vorgekommen, Sterngucker haben für Mullwolken selten den richtigen Blick; wem aber hätte es auffallen dürfen, daß blühende Hyazinthen und Tazetten mit Myrten und Geranien zu zierlichen Gruppen geordnet wurden? Hatte das liebe Röschen ihre Umgebungen nicht allezeit gern geputzt? Die Lust zum Putzen war ihr nur in den Schattenmonden eingeschlummert. Aber sieh doch! hat sie sich selbst heute zum ersten Male nicht wieder geputzt? Gott behüte; sie trägt ja ihr tägliches Trauerkleid, und wenn die schwarze Krause den schlanken Hals etwas[536] weniger knapp umschließt, die natürlichen schwarzen Löckchen etwas zierlicher sich ringeln, so ist das zufälliges Geraten oder, wenn ja ein bißchen Kunst mit unterlief, das allererfreulichste Zeichen. Sich hübsch machen, heißt bei einem siechenden Kinde genesen sein und bei einem gesunden doch wahrhaftig nicht etwa eine Sünde!
Lydia stellte zu gewohnter Stunde sich ein.
»Aber wo bleibt denn Sidi?« fragte Rose und spähete aus dem Fenster, wenngleich es so rabendunkel war, daß weder auf dem Talwege noch irgendeinem anderen ein lebendes Wesen hätte erspäht werden können; und nach einer Viertelstunde fragte und spähete sie von neuem, obschon der Mond noch immer nicht aufgegangen war. Sidonie kam nicht; das geistliche Konzert unterblieb; Rose erklärte sich für heiser, dem Kandidaten war die Kehle zugeschnürt. Auch der Kosmos wurde heute nicht aufgeklappt, da Lydia es angemessen fand, der Freundin nicht zuvorzueilen, und auch kein anderer ein lebhaftes Verlangen nach einem Horizont, der über den beider Werben hinausreichte, zu tragen schien. Dagegen sang Lydia, ehe sie sich entfernte, zum ersten Male das Novalislied, das sie ihrem Vater jeden Abend vor dem Schlafengehen gesungen hatte:
»Wenn alle untreu werden, so bleib ich dir doch treu.«
Als Dezimus sie nach dem Schlosse zurückführte, fragte sie ihn, welchen Eindruck Max auf ihn gemacht habe, und er bekannte ihr aufrichtig den Zauber, den diese außergewöhnliche Persönlichkeit mehr denn je auf ihn und die Seinen ausgeübt. Sie erwiderte im Augenblick nichts; aber er dankte ihr schon die Frage; es war das erstemal, daß sie den Namen des einst so tiefgeliebten Mannes vor ihm oder irgendeinem anderen ausgesprochen hatte. Liebte sie[537] ihn noch, oder liebte sie ihn wieder? Nach einer langen Stille sagte sie:
»Es ist etwas Seltsames um solch ein Wiedersehen. Man merkt an ihm erst das Wirken der Zeit. Mir ist, als ob eine Binde von meinen Augen gefallen wäre.«
Sie ahnete wohl nicht, daß sie mit diesen Worten dem Freunde ein Rätsel aufgegeben hatte. Denn die Zeit versöhnt, und die Zeit verlöscht.
Rose war heute ausnahmsweise noch nicht in ihr Stübchen gegangen. Sie stand wieder am Fenster und schaute in das Tal hinab, das jetzt vom Mond beleuchtet ward. »Wie langweilig diese Lydia ist,« sagte sie mit krauser Stirn, ein Gähnen unterdrückend. »Hätte Sidonie nicht ein bißchen Leben in die langen Winterabende gebracht, sie wären nicht zum Aushalten gewesen.«
Als sie Dezimus zur guten Nacht die Hand reichte, fragte sie:
»Glaubst du, Dezimus, daß Lydia den Baron noch liebt?«
Das war ja eben die Frage, die ihm so mächtig in Kopf und Herzen herumging; aufrichtig aber, wie er nun einmal war, auch wenn er mit seiner Aufrichtigkeit sich selbst ein Leides tat, antwortete er, daß er das allerdings nicht wissen könne, aber ihre Liebe zu ihm ebenso natürlich finden würde wie die seine zu ihr.
»Er – sie? Ach warum nicht gar!« rief Rose unmutig. »Es ist Torheit, was man von alter Liebe sagt. Was im Herzen gestorben ist, wacht nicht wieder auf. Und wie viele mag er in der Zwischenzeit angebetet haben! Sie ist ja auch viel zu alt für ihn.«
»Sie ist zwei Jahr jünger als er.«
»Aber steif wie eine Großmutter.«
Das liebe Röschen war keineswegs, wie die kluge Sidi[538] behauptete, ihrer Stimmungen allezeit Herr, sonst würde sie die heutige fein für sich behalten haben; denn wehe tun wollte sie ihrem armen Dezem gewißlich nicht.
Am nächsten Sonntag, dem, an welchem das dritte Aufgebot und nach ihm die Trauung stattgefunden haben würde, war Max mit seiner Schwester in der Kirche. Er hatte seinen Platz dem Herrenstuhl gegenüber gewählt, wo er von Lydia bemerkt werden mußte, sobald sie den Blick der Kanzel zuwendete. Sie wendete, nach ihrer Gewohnheit, während der Predigt ihn kaum von der Kanzel ab, der Prediger hätte aber nicht die leiseste weltliche Störung ihrer Andacht wahrnehmen können. Wenn die alte Liebe wieder aufgewacht war, mußte der heilige Ort den gebührenden Bann ausüben.
Unter der Kirchpforte stieß das Geschwisterpaar mit dem nominellen Brautpaar zusammen und geleitete es zu einer Staatsvisite in die Pfarre.
Der Herr Baron wunderte sich, daß er das gnädige Fräulein nicht in der Kirche bemerkt habe, worauf das gnädige Fräulein mit einem allerliebsten Schelmenblinzeln erwiderte, der Herr Baron habe eben mit dem Rücken gegen den Pfarrstuhl gelehnt gestanden. Das hätte der Herr Baron sich nun für künftige Kirchbesuche gesagt sein lassen können. Leider hatte es jedoch bei diesem ersten Besuche sein Bewenden. Es wäre der Werbenschen Erbgruft nur ein Erinnerungszoll dargebracht worden, äußerte der Herr Baron.
Überhaupt drückte in dem Baron der Umschlag aus einer interessant gemütlichen in eine interessant ironische Stimmung sich deutlich aus. Er beglückwünschte Pastor Blümel über das Wunder der Toleranz, das sein Beispiel in der Gemeinde gewirkt habe. Wie müsse dem standfesten Onkel Propst im Chore der himmlischen Heerscharen zumute[539] sein, wenn er seine Tochter mit so seelenruhiger Andacht einem unionistischen Gottesdienste beiwohnen sähe? Schreite die Freisinnigkeit in gleicher Progression fort, könne die einstmalige Seelenfreundin des Professor Hildebrand es noch zur Adeptin von Papa Zacharias bringen.
Pastor Blümel erwiderte ruhig, daß er diese Befürchtung nicht hege, und lenkte das Gespräch auf ein Gebiet, wo er seinen Gast mehr als in dem eines gläubigen Herzens zu Hause halten durfte: auf das der Politik; indessen auch auf dieses nur so weit, als es die vaterländische Grenze nicht berührte. Er bat um eine nähere Erklärung der Reformbankette, die in den Zeitblättern ja nahezu als eine Existenzfrage des französischen Staates behandelt würden, war aber nach erhaltener Aufklärung merklich enttäuscht, da er hinter dem ungestümen Verlangen, ein Mahl zu halten und beliebige Toaste auszubringen, eine karbonaristische Verschwörung oder andere dergleichen Heimlichkeit, welche die Regierung ausgewittert, vermutet hatte. Worauf denn Herr von Hartenstein lächelnd erwiderte, es sei in Frankreich nichts Neues, mit Explosivstoffen in der Form von Knallbonbons eine Feuersbrunst zu entzünden. Im teuren Vaterlande walte die entgegengesetzte Manier ob. Wenn die Mine bis zum Platzen vollgeladen sei, leite man sie in Äderchen und Kanälchen ab, und der erste beste Landregen spüle sie in den Strom der Zeit.
Nun, Konstantin Blümel wußte von einer vaterländischen Mine, und er hatte sie selbst mit laden helfen, die gar wuchtig einen Koloß über den Ozean geschleudert hatte! Doch verlautbarte er diese Erinnerung nicht, sondern erkundigte sich nach dem Befinden des Herrn Amtmann Mehlborn. Der Pulsschlag seines Entzückens hatte sich während dieser Sonntagsvisite indessen bedeutend ermäßigt.[540]
Am anderen Tage fand Rose es dringlichst angemessen, daß der amtliche Stellvertreter des Vaters diese Visite erwidere, fühlte sich selbst auch hinlänglich zu einem Spaziergang bei so prachtvollem Winterwetter gekräftigt, begleitete den väterlichen Stellvertreter demnach ein Endchen und bekam bei Wege ein unwiderstehliches Gelüste, zu sehen, wie Freundin Sidi sich in der alten Bärenhöhle ihr Nest eingerichtet habe.
Ei nun, fürwahr traulich genug. Zunächst gab es gar keine Höhle mehr, sondern ein sauberes Wohngelaß und in dem Gelaß keinen brummenden Bären, sondern einen gemütlichen alten Herrn, der ganz fidel hinter seinem Spitzgläschen sang: »Gestern abend war Vetter Michel da«, und dann seine Augen zutat und schlief. Die Augen seiner Hüterin aber, die klugen Sidiaugen, die hatten noch nie in einer reineren Freude gestrahlt. Zum ersten Male hatte sie einen Menschen, vor dem sie ihre reichen Gaben unter keinem anderen Zwang als dem der natürlichsten Liebe entfalten durfte, den sie hegen und pflegen durfte, den sie zu halten hoffte für das Leben. Denn auch er war glücklich neben ihr und durch sie.
Wer liebte nicht das Neue? wer bedürfte seiner nicht? Wer aber hätte jemals mehr unter seinem Banne gestanden als der Dichter Hartenstein? Er lebte und webte im Wechsel. Der Wechsel war sein Element, sein tägliches Brot. Der erwünschteste Zustand hätte ihn auf die Dauer bedrückt, der unerwünschteste Umschlag ihn momentan aufgeschnellt. Paris mit seiner unerschöpflichen Mannigfaltigkeit war ihm daher der gedeihlichste Boden und die Ebbe und Flut seiner äußeren Mittel, die ihn zwischen den verschiedenartigsten Existenzen auf und nieder trieb, für[541] seine Schaffenskraft das vielleicht notwendige Ferment. Allezeit im Salon, würde er aufgehört haben ein Dichter zu sein; allezeit in der Mansarde, wäre er es wahrscheinlich niemals geworden. Auch die Einsamkeit wurde dann und wann zu einem ersehnten Wechsel. Auf Alpengipfeln, am Meeresstrand, oder wie diesen Herbst unter einem südenprächtigen Himmel, ganz allein, da dehnte sich die Brust, schwellte sich die Künstlerseele – drei, vier Wochen lang, dann aber zog es ihn wieder in das Gewühl wie in ein Heim.
Dieser Aufenthalt mitten im Winter, in nüchterner Landschaft, auf Papa Mehlborns emsigem Wirtschaftshof hätte daher, so scheint es, der widerwärtigste sein müssen, den er erwählen konnte. Aber es war etwas Neues; er nannte ihn ein Idyll. Die Erwartung des großväterlichen Ablebens, das, gegen ihren Glauben, seine Schwester ihm als bevorstehend dargestellt hatte, eine brüderliche Wallung, vielleicht eine momentane Geldklemme hatten ihn hergetrieben; nun hielt das Wohlgefühl zärtlicher Fürsorge, mit welchem zum ersten Male seit seiner Kindheit ein Mensch ihn umspann, ihn fest; die materielle Fülle, das Ansehn der Seßhaftigkeit machten sich geltend, hohe Kulturbestrebungen, im nächsten Zusammenhange mit seinen bisherigen literarischen Tendenzen, tauchten auf. Möglich, daß auch die Wiedereroberung seiner frühesten, einzigen wahrhaft Schönen, auf welche unerwartet sein erster Blick gefallen war, ihn lockte, daß nebenbei das deutsche Pfarrtöchterchen ihm zu einem kleinen Roman allerliebst genug dünkte. Einem Dichter ist Frauengunst ja der Kastalische Quell, und hat denn nicht der alte Meister, welchem der junge bescheidentlich nachstrebte, die angenehme Empfindung einer gleichzeitigen Doppelliebe zu rühmen gewußt?[542]
So war er denn allen Ernstes gewillt, in dem stattlichen Grafenschlosse von Bielitz, dessen Erbe zu werden er jeden Tag erwarten durfte, sich häuslich einzurichten und a priori den Herrn in ihm zu spielen. An dem nervus rerum gebrach es nicht; Sidonie war vollständig Meisterin der Lage, der alte bärbeißige Mehlborn ein stillvergnügter Knabe geworden, seitdem seine junge Pflegemutter ihm die Milch des Alters nicht ausgehen ließ. Er nippte, zippte und nahm seinen Herrgott für einen frommen Mann. Wiederholt hatte Dezimus seinem guten Kameraden diese Behandlungsweise vorgehalten: »Sie schläfern Ihr altes Kind mit Mohnsäftchen ein und erziehen es zum Idioten,« hatte er gesagt, sie aber lachend erwidert:
»Zum Idealisten erziehe ich es, und die guten Genien der Jugend wecke ich auf. Hätte ich mein Papachen bei seinem Dünnbier belassen, fühlte es sich blind und elend, wäre mißtrauisch und mißvergnügt, keifte am Tage mit widerborstigen Frönern und grauelte sich nachts vor Raubmördern und dem Gespenst des schwarzen Todes. Nun ich ihm stündlich ein Gläschen von dieser braven Liebfrauenmilch einschenke – selbstverständlich unter der Etikette ›Werbensches Gewächs‹ –, glaubt er, liebt, hofft, vertraut, sieht mit Augen seine Felder sprießen, an seines Sidonchens problematischem Schulterstück zwei goldene Engelsfittiche leuchten und schlummert von vierundzwanzig Stunden netto zwanzig wie der Gerechte in Abrahams Schoß. Wer ein Achtziger werden will, kann sich nichts Besseres wünschen.«
Indem Sidonie auf diese Weise Genien der Jugend, die in Papa Mehlborn bis dahin geschlummert hatten, zum Leben erweckte, war sie indessen vorsichtig und auch gutmütig genug, die Dämonen des Alters, die von Kindesbeinen[543] an in ihm rege gewesen waren und selten gründlich einzuschläfern sind, nicht heraufzubeschwören. Die vielwerte Eisentruhe blieb unverrückt unter Papachens Bett, ihr Schlüssel tags in Papachens Rocktasche, nachts unter seinem Pfühl. Sein Sidonchen hatte noch keinen Blick in die Truhe getan. Ihr genügten die Wirtschaftserträge, nach welchen Papachen wenig mehr fragte, und gewisse Stempelbogen, zu deren Kontrasignatur – unter der Rubrik Rechnungen, Quittungen und so weiter – sie sonder jeglichen Gewissensskrupel Papachen die Hand führte. Die großjährige Enkelin und Erbin des unzurechnungsfähigen Greises erfreute sich eines weittragenden Kredits, bedurfte desselben aber auch nach Ankunft ihres Bruders in täglich wachsendem Maße.
Er hatte Bedürfnisse der mannigfaltigsten Art, eine allezeit offene Hand, auch große philanthropische Projekte, für welche bis zum reellen Erbantritt wenigstens die Einleitungen getroffen wurden. Sidonie nahm alles auf ihre Kappe; ihres Bruders Kredit blieb unangetastet, sein Name stand unter keinem Wechsel; er war der Schöpfer, sie der Handlager. Da sollten die Lasten der »weißen Sklaven« nicht etwa abgelöst, sondern einfach aufgehoben werden, den freiwilligen Arbeitern Häuser gebaut, gegen welche die der Grabesstraße von Werben armselige Hütten waren, und dergleichen vieles. »Der Baum eines Volkes treibt von unten herauf,« sagte er, und wer hätte etwas dagegen sagen können? »Seine Wurzeln müssen gedüngt und begossen werden.« Wo Max von Hartenstein lebte, mußte menschenwürdig zu leben sein; war er ein Egoist, so war sein Egoismus großmütiger Natur. Ja, er trug sich allen Ernstes mit dem Entwurf eines Phalansteriums auf seinem einstigen Grund und Boden, nachdem er für die[544] Errichtung eines solchen in überseeischen Zonen seit seinen Pariser Tagen geschwärmt und schriftstellerisch gewirkt, sogar gedichtet hatte. In der Neuordnung des Eigentums sah er die große Frage der Zukunft und in der republikanischen Freiheit, der sozialen Gleichheit nur ihre Vorläufer.
Vorderhand mußte man sich freilich begnügen, das eigene Leben menschenwürdig auszugestalten. Die Einrichtung des Herrensitzes, Anschaffungen, Bestellungen, anzuknüpfende Verbindungen ließen es auch für die unermüdliche Intendantin zu regelmäßigen Pfarrbesuchen nicht mehr kommen. Um so erfreulicher waren die Überraschungen, wenigstens für Freundin Rose. Sidonie war beflissen, sie in ihre Nähe zu ziehen, sie zu sich einzuladen, sich auf ihren Fahrten in Stadt und Umgegend von ihr begleiten zu lassen, und der Vater gönnte seinem Liebling diese Erholung, bevor binnen kurzem sich wiederum ein Trauerschleier über ihren Jugendtag breiten würde. Auch das peinliche Zusammensein der dem Namen nach noch immer Verlobten erhielt dadurch eine für beide Teile wohltätige Unterbrechung.
Denn, ohne es auszusprechen, hatte der Vater von der ersten Stunde ab nicht nur die Lösung des Verhältnisses, das seine Kinder ein paar Monate hindurch gequält hatte, klar erkannt, sondern auch ehrend und verstehend deren Grund; und wenn er die Getrennten dennoch vereint in seiner Nähe hielt, so geschah es in der Hoffnung, daß sie sich stillschweigend wieder in jenes geschwisterliche Verhältnis zurückleben würden, das sie mehr als zwei Jahrzehnte beglückt hatte. Er achtete den Sohn für stark genug, diese schwere Probe zu bestehen, und gönnte ihm die Befriedigung, seinem väterlichen Wohltäter bis zu seiner letzten Stunde eine Stütze zu sein. Nach derselben mochte[545] er frei aus seinem Gemüte heraus die Entscheidung über seine Zukunft treffen. Sein Vögelchen ließ er für ein Weilchen fliegen!
Und da waren es für das Pfarrröschen wohl goldene Stunden, wenn es, in seidene Wagenpolster gedrückt oder im lustigen Schlitten, den der schöne, junge Baron hinter den beiden Damen lenkte, ein zierlicher Jockey zu Pferde vorantrabend, in der Gegend umherschwärmte, Stunden, wie sie das Pfarrröschen wohl für eine Märchenprinzeß geträumt, einen wirklichen Menschen sie aber noch niemals hatte durchkosten sehen. Es mochte der weltlustigen jungen Seele bedünken, als ob das Schicksal sie recht irrtümlich in den Schoß einer still in sich begnügten geistlichen Familie getragen habe.
Indem Sidonie die Freundin auf diese Weise ihrer heimischen Sphäre entfremdete, nahm sie den Bruch des Verlöbnisses als ein fait accompli und als des Bräutigams gutes Glück. Hätte sie sein Glück aber auch in Rosens Besitz gesehen, würde sie schwerlich angestanden haben, es auf diesen Bruch ankommen zu lassen, insofern das Wohlbefinden ihres Bruders auch nur auf Momente dadurch gefördert wurde. Es galt, ihn mit starken Reizen an die Heimat zu fesseln. Lydias Wiedergewinn würde der am stärksten wirkende gewesen sein. Aber die Kluge zweifelte nicht bloß an dem aus ihm erblühenden Segen, sondern einfach an seinem Gelingen, und so wurde die leicht zu gewinnende liebliche Rose, coûte que coûte, als Gegenreiz in den Vordergrund geschoben. Dieses von Grund aus gütige, recht und billig denkende Mädchen, das einst seine unglückliche Verwandtin »eine Jesuitin der Familienpflicht« gescholten hatte, es fand jetzt jedes Mittel gut und gerecht für einen Liebeszweck, dem sie sich blind wie einem[546] Schicksalszwang unterwarf. Ach, der Ärmste, den sie ein Johanniskind nannten! Hätte Freund Peter Kurze ihn gegen Ende des Winters gesehen, er würde ihn nicht, wie zu seinem Anfang, als Hahn im Korbe beneidet haben. Verlassen hatte ihn die Braut, verlassen sein Kamerad; ohne das Recht des Eingriffs und doch ohne die Freiheit zur Flucht sah er, in der beschämendsten Lage, ratlos und tatlos ein Verhängnis herantreiben, dem er sich mit seiner letzten Kraft hätte entgegenstemmen mögen, und er würde an sich selbst und an aller Menschenhoheit und Treue haben verzweifeln müssen, hätte nicht sein weißes Fräulein fest und ermutigend ihm zur Seite gestanden. Ja, Lydia war ihm geblieben, Lydia und Konstantin Blümel, der herrliche Greis, der sich noch niemals so väterlich ihm zugeneigt hatte wie jetzt, da es galt, die Wunden zu verbinden, die sein liebstes Kind ihm schlug; die Wunden, welche der Sohn um jeden Preis dem Auge des Vaters – ach nein, jedem Auge – hätte entziehen mögen.
Der alte Vater erkannte mit Reue seinen Irrtum, als er dem flügellahmen Vögelchen den Käfig öffnete. Er hatte seinem Liebling den kleinen Finger bewilligt, und der Liebling herzhaft beide Hände ergriffen. Der alte Vater, so todesgewiß er war, er hätte jetzt leben mögen, leben mit Jugendkräften, um den Flatterling wieder einzufangen, das betörte Kind zu überwachen, das strauchelnde zu leiten und es, würdig seiner selbst, nicht mehr, wie er eine kurze Zeit gehofft, dem Gatten am Herzen, aber dem Bruder an der Hand zurückzulassen.
Der Greis so wenig wie der Jüngling war erfahren in den Vorspiegelungen, unter welchen eine Leidenschaft sich unbewußt in die Herzen schmeichelt, und noch minder waren es beide in den bewußten Kunstgriffen, die jenem[547] natürlichen Ränkespiel in die Hand arbeiten. Aber sie sahen mit Blicken, welche die Liebe schärfte, die einfache Liebe, die sie verstanden. Und da konnte ihnen denn nicht entgehen, daß Max Rosen niemals beflissener entgegenkam, den Zauber seiner Persönlichkeit niemals verführerischer zur Geltung brachte, die Wichtigkeit seiner philanthropischen Pläne, die Vorzüge seiner gesellschaftlichen Stellung niemals geschickter hervorhob, als wenn er Rosen in Lydias Gegenwart sah. Nicht die leichte Eroberung, die schwere war sein Ziel, ohne Zweifel sein ernsthaftes Ziel, und seine gröbliche Täuschung nur die, daß er in tändelnder Laune auf Eigenschaften zu wirken hoffte, welche eine reine Seele nicht einmal begreift, eben darum aber – so widerspruchsvoll geht es in den Phantasien solcher Pseudoidealisten zu –, eben weil sie jede niedrige Regung ausschloß, ihm diese reine Seele zu der begehrenswertesten machte. Denn hätte Lydia das lockende Spiel verstanden und ihm nicht widerstanden, würde sie ihm der Mühe des Spiels noch wert erschienen sein?
Nicht mehr ungetrübt der Sohn, wohl aber der Vater hoffte noch, daß auch die sonst so scharfsichtige Rose dieses Ränkespiel durchschaue und daß sie mit unberührtem Herzen sich nur von der glänzenden Neuheit der Weltfreude blenden lasse. Indessen auch dieser dämonischen Blendung mußte gesteuert werden, und wenn den Bitten nur wiederum Bitten, der Mahnung Liebkosung, der Warnung ein Schelmenlächeln entgegengesetzt wurden, so blieb endlich nur das Gewicht der väterlichen Autorität, um die Wagschale in die Richte zu bringen.
Die jenseitigen Wiesen, über die im Herbst der Fluß getreten, waren zugefroren, auf weiter Strecke eine Eisbahn bildend, welche Max, ein gewandter Schlittschuhläufer,[548] wie als echter Hartenstein der gewandteste Reiter, Schütze und Fechter, täglich benutzte, – vielleicht weil sie aus den Fenstern des Schlosses überschaut werden konnte. Auch die Pfarrkinder waren vom Vater zu dieser Übung angehalten worden, und Rose hatte sie erst aufgegeben, als ihr Dezem auf die Universität zog und sie nun die Schlittschuh sich eigenhändig anschnallen und ohne jeglichen Zeugen ihre Kunststückchen hätte machen müssen. Jetzt aber wachte plötzlich die alte Lust in ihr wieder auf, und Tag für Tag wurden ein paar frohe Stunden auf dem glatten Spiegel vergaukelt. Da Freundin Sidoniens Gesundheit ihr nicht gestattete, als Eismutter am Ufer auf und ab zu spazieren, wurde Freund Dezimus um seinen Anstandsschutz ersucht, und er – ja, was bleibt denn solch einem Quasibräutigam übrig, wenn sein Quasibräutchen nach langer Siechenhaft das Bedürfnis kräftigender Luftbewegung fühlt? – was, als erst dem Bräutchen und dann sich selbst die Schlittschuhe anzuschnallen und bescheidentlich nebenher zu schleifen, wenn die beiden anderen Hand in Hand kunstvolle Kreise und Achten ziehen?
Eines Nachmittags kehrte er mit Rosen von solcher Leistung zurück; er schweigsam und mutlos wie alle Tage, aber auch sie nicht mit den purpurnen Wangen und freudeblitzenden Augen wie bisher; sie fröstelte und ließ das Köpfchen hängen. Der Baron war nicht auf dem Eise gewesen, weder er noch seine Schwester hatten den Tag über etwas von sich sehen oder hören lassen.
Der Vater war im Begriff, mit zitternder Hand die Adresse auf einen Brief zu schreiben; sie lautete an seine Tochter Erika, deren Mann vor kurzem als Bauinspektor in eine näher gelegene Stadt versetzt worden war. Der Greis sah auffällig bleich aus, doch klang seine Stimme[549] ruhig, als er den Sohn bat, den Brief, den er zu eiliger Bestellung empfohlen hatte, heute noch nach der Post zu tragen.
»Das trifft sich gut, Dezimus!« rief Rose plötzlich belebt. »Du gehst mit mir über das Gut und holst mich dort auf dem Rückwege wieder ab. Ich habe Sidonien ein Stickmuster versprochen, das ich ihr heute noch bringen möchte.«
Rasch wollte sie auf und davon; der Vater aber äußerte mit Entschiedenheit, daß es zu einem Besuch auf dem Gute zu spät am Tage sei. So legte sie denn Hut und Pelzpelerine ab, indem sie die Lippen ganz allerliebst zu einem Kinderschippchen verzog und sich knapp auf die Kante des Stuhls, nach welchem der Vater, dem seinen gegenüber, deutete, niederließ. Den Sohn, der sich entfernen wollte, bat er, so lange zu verziehen, bis er seiner Tochter eine Eröffnung gemacht haben werde.
»Du hast dir,« so hob er darauf zu Rosen gewendet an, »seit Jahren einen Besuch bei deiner Schwester gewünscht. Heute willfahre ich diesem Wunsche. Ich habe Erika geschrieben, daß sie dich am übernächsten Tage zu erwarten hat. Dezimus wird die Freundlichkeit haben, dich zu begleiten und bis zum Sonntag zurückgekehrt sein.«
Rose lachte anfänglich über den wunderlichen Einfall; als sie jedoch des Vaters unzerstörbaren Ernst erkannte, wurde sie blaß, streichelte ihm die Wangen und sagte mit ihren schmeichelndsten Tönen: »Wie kannst du nur daran denken, Väterchen, daß ich dich verlassen würde jetzt, wo du deiner kleinen Rose doch ein wenig mehr als in früherer Zeit bedürftig bist?«
»Ich fühle mich entschieden kräftiger als noch vor kurzem,« versetzte der Vater. »Und habe ich denn nicht[550] meinen Dezimus? Stieße mir aber während seiner Abwesenheit ein Rückfall zu, würde die gute Lydia mir gewiß nicht fehlen.«
»Aber welchen Grund kannst du haben, mich fortzuschicken und eine Fremde an meine Stelle zu setzen?« fragte Rose gereizt, wie neuerdings immer, wenn Lydias lobend erwähnt wurde.
»Da du den Grund nicht fühlst, würdest du ihn auch nicht verstehen,« antwortete der Vater so streng, wie er noch nie zu seinem Liebling geredet hatte. »So sage ich denn einfach: ich will!«
»Und wenn ich sage: ich will nicht?« rief Rose mit dem Ton der Schelmerei, aber einem Blick voll Trotz.
Konstantin Blümel war ein milder Vater und gegen sein jüngstes Kind zweifach mild. Aber solch ein dreister Widerspruch war noch aus keines Kindes Munde vor ihm laut geworden. Erst während dieser wenigen Silben wurde ihm völlig der Unsegen klar, der in seinem nächsten Herzen Wurzel geschlagen hatte. Mit den großen, tiefen Augen, welche die Macht seines Gemüts immer noch viel eindringlicher als seine guten Worte ausdrückten, blickte er schweigend in die ihren, bis sie sie schamrot niederschlug. Dann aber sagte er mit leise bebender Stimme:
»Widerrufe dieses Wort, mein Kind. Ich möchte dir die Bitternis ersparen, mit welcher du in naher Stunde dich erinnern würdest, dem letzten Liebeswillen deines Vaters getrotzt zu haben.«
Sie brach in einen Tränenstrom aus, glitt zu seinen Füßen nieder und schmiegte sich an seine Knie wie ein Kind. »Ich will ja, Vater,« schluchzte sie, »will alles, was du willst. Ach, was kann ich denn aber dafür, daß ich hier so glücklich bin?«[551]
Bei diesen Worten wurde hastig die Tür geöffnet. Sidonie wankte in das Zimmer, schattenbleich, die arme, gebrechliche Gestalt wie geknickt. Sie würde zu Boden gestürzt sein, wenn Dezimus sie nicht in seinen Armen aufgefangen hätte.
»In Frankreich – Revolution!« stammelte sie. »Max – fort – ohne Lebewohl!« –
Rosens Kopf war an des Vaters Brust gesunken. Er hielt ihn mit beiden Armen umschlungen. Seines Kindes Hand sollte ihm die Augen schließen.
Nach mehr als dreißigjähriger politischer Windstille über dem Vaterlande schossen mit Sturmesjagd nun Wochen dahin, in welchen jeder Tag, jede Stunde in erschütterte Herzen eine erschütternde Kunde trug. Der Orkan tobte bis in die bescheidenste Hütte. Reiche wankten, Throne und alte Ordnungen stürzten zusammen wie die Luftschlösser im Gesichtsfelde von Werben. Die Nöte des Einzelnen werden in solchen Zeiten geringschätzig übersehen; aber sie drücken nicht minder als in stillen Tagen, und nur die Freuden der stillen Tage sind schal geworden.
War es nun die wehende Frühlingsluft, die Freude über sein in äußerster Stunde ihm zurückgegebenes Kind, oder war es jener allerorten die Geister bis zum Überschwang reizende Gewitterstrom, der auch den mürben Greisenleib elektrisch belebte? Vater Blümel schüttelte wie durch ein Wunder Todesschwäche und Todesschwanen ab. Er hatte zum vorbestimmten Termin sein Entlassungsgesuch und das für des Sohnes Ordination eingereicht; nach dem Osterfest sollte diese statthaben. Er dachte aber allen Ernstes daran, die Kanzel wieder zu besteigen und[552] mit dem ewigen Wort gegen den Dämon der Empörung zu Felde zu ziehen. Der Sohn war ihm längst nicht feurig genug; er paktierte viel zu viel mit den Forderungen des Tages. Sagte der Jüngling: »Alles Recht muß erstritten werden, und die Freiheit ist das höchste Recht!« so sagte der Greis: »Jedes Recht muß mühsam erarbeitet werden; was im Taumel gezeugt wird, reift nicht zu dauernder Geburt. Die Freiheit muß erst als Pflicht erkannt worden sein, bevor sie als Recht gefordert werden darf.«
Es war ein theoretischer Streit; in der Praxis würden Vater und Sohn gar nicht weit auseinander gegangen sein.
Rose hielt sich tapfer. Ihre Wangen glühten und ihre Augen funkelten nicht mehr; aber nur ein Liebender hätte ihr anspüren können, daß mit dem Meteor, welches an ihrem Horizonte für kurze Wochen aufgestiegen, mehr als ein Freudenrausch verschwunden war. Sie sprach nie von Max, es sei denn mit Sidonien, die sie nach wie vor besuchte; aber sie ging sichtlich mit Überwindung; nur weil das Fernbleiben aufgefallen sein würde. Auch der Vater und Bruder oder Bräutigam schwiegen den gefährlichen Flüchtling geflissentlich tot; im Herzen des Bräutigams aber leibte und lebte er als sein einziger Feind, denn er hatte mit einem Glück, das ihm mehr wert war als sein eigenes, ein schnödes Spiel getrieben. Ja, er haßte sein einstiges Idol, und wenn er mit ihm nicht auch die haßte, welche jenes Spiel abgekartet, ohne Bedenken Freundin und Freund in dasselbe eingesetzt hatte, so geschah es um der großen Liebe willen, die sie zu dem Frevel getrieben, und weil sie litt, wie eine Mutter leidet um den verlorenen Sohn.
Das mutige Mädchen war ein zitterndes, händeringendes Weib geworden; auch körperlich krank. Lydia, welche das[553] Talgut überhaupt selten und seit Maxens Anwesenheit niemals betreten hatte, teilte jetzt ihre Zeit zwischen ihm und der Pfarre. Sie pflegte Sidonien, ermutigte sie, soweit ihr wahrhaftiger Sinn es zuließ, und erleichterte ihr die Sorge für den blinden, blöden alten Mann. Peter Kurze würde einen Luftsprung getan haben, hätte er gesehen, wie die »Energien« dieser Schwanenjungfrau sich in Taten umsetzten!
Eines Abends sagte sie zu Dezimus, der seinen treulosen Kameraden nicht wiedergesehen hatte, seitdem dieser so tief aus seinen Himmeln gestürzt worden war: »Versuchen Sie es doch einmal, Freund, Sidonien ein wenig aufzurichten. Sie sind ihr sympathischer als ich. Vielleicht gelingt es Ihnen, sie zur Annahme eines Arztes zu bewegen; wenngleich ihr Zustand mehr zu denen gehören mag, die Doktor Kurzen so unliebsam sind, weil sie sich nur mit Seelenohren aushorchen lassen.«
Als Dezimus am anderen Morgen Sidoniens Zimmer betrat, fand er sie in fiebernder Erregung, mit glühenden Wangen auf und nieder schreitend. Daß sie ihm Leides zugefügt, schien ihr gar nicht in den Sinn zu kommen. Nach kurzem Zaudern gestand sie ihm, sie habe ihren Bruder in der verwichenen Nacht gesehen, heimlich, flüchtig auf der Durchreise nach Berlin! Und der Schluß, den sie aus dieser heimlichen, eiligen Reise zog, hieß: auch hier, auch bei uns Revolution!
Dezimus wollte ihr diese Folgerung ausreden. Sie ließ in ihrer Unrast ihn aber gar nicht zu Worte kommen. Anhebend mit einem Versuch zum Spott, steigerten sich ihre Vorstellungen zu den grausamsten Wahngebilden.
»Da bin ich nun,« rief sie, »in den Ideen aller menschenmöglichen Freiheit und Neuheit herangewachsen, erst in[554] Rom bei der atheistischen Harfenmuhme, dann in der Schweiz bei der parlamentarischen Mutter, unter dem Konvivium der trikoloren und blutroten Fahnenschwenker aller Völkersorten; und ich sehe ja auch weit deutlicher als diese Maulhelden samt und sonders, was uns gebricht und was wir brauchen, um fertig zu werden. Und doch sitze ich hier und ringe mir die Hände wund um mein altes Preußen, so wie ich es als Vätererbe überkommen habe, und hassen, ja, schlechthin hassen möchte ich die, welche es in Trümmer schlagen wollen um eines Neubaus willen, der nicht mehr mein altes Preußen ist. Die Kopie eines größeren hüben, eines reicheren drüben, ein Mischmasch von Pfuscherstil, o, ich kenne die Schablonen! Und mitten unter diesen Zerstörern steht der Mensch, den ich liebe, mehr, tausendmal mehr als mich selbst. Mein Max ein Verschwörer, ein Rebell! Ein Hartenstein siegend auf der Barrikade oder – oder fallend auf dem Schafott!«
Sie kreischte die letzten Worte, die Augen stierten, als sähe sie ihres Bruders blutiges Haupt. »Und ich kann ihn nicht retten – nicht retten –«, flüsterte sie tonlos, von einem Schauder geschüttelt.
Lydia war während der letzten Reden leise eingetreten; entsetzt von dem Unheil, das sie sah und verkünden hörte, hatte ihr Fuß unter der Tür gestarrt. Das kranke, gebrechliche Geschöpf bemerkte sie und stürzte auf sie zu mit Blicken, in welchen das Rasen des Fiebers und der Todesangst funkelte.
»Du, du hättest ihn retten können,« rief sie unter konvulsivischem Schluchzen. »Denn dich hat er geliebt, dich allein. Du kannst es noch heute, denn er liebt dich noch heute. O, liebe ihn, Lydia, liebe ihn, und er ist gerettet.«
»Du bist krank, Sidonie,« entgegnete Lydia erschüttert.[555] »Du wähnst Gefahren, die nicht sind. Wenn aber wirklich eines anderen Liebe einen Menschen retten könnte vor sich selbst, müßte der, für welchen du zitterst, nicht durch deine große Liebe gerettet worden sein?«
Sidonie lachte auf in gellendem Hohn. »Ich, ich? eine verkrüppelte Schwester? Ja, wenn ich ein Weib wäre, ein schönes Weib, ein Schwan wie du, Lydia, wie du! Nur Leidenschaft siegt über Leidenschaft. Rufe ihn zu dir, sage ihm, ich liebe dich – –«
»Du phantasierst, Sidonie,« unterbrach sie Lydia plötzlich mit eisiger Ruhe, »du weißt – –«
»Ich weiß, du liebst ihn nicht, du liebst ihn nicht mehr. Aber sage es ihm nur. Halte ihn auf, halte ihn hin ein paar Tage, ein paar Wochen lang, bis der Krater ausgespieen, und er ist gerettet.«
Lydia wendete sich schweigend von ihr ab.
»Du hast ihn niemals geliebt!« schrie die Unglückliche, indem sie erschöpft zu Boden sank und in einen Tränenstrom ausbrach.
Lydia richtete sie empor, führte sie nach ihrem Ruhebett, setzte sich an ihre Seite und faßte nach ihrer Hand. Sidonie entzog sie ihr, um ihr Gesicht zu bedecken.
»Geht, geht!« rief sie nach einer Pause. »Laßt mich allein! Ihr beide wißt nicht, was Lieben ist. Geht, geht! haltets miteinander nach eurer Art!«
Sie wollten sich entfernen. Sidonie winkte sie zurück.
»Schicken Sie mir Rosen, Dezimus,« schluchzte sie. »Und du, Lydia, du kannst ja beten. Ach bete, bete, daß ein anderer barmherziger sei als du.«
Lydia neigte schweigend ihr Haupt bis zur Brust hinab, drückte dem armen Mädchen die Hand, und dann ließen sie es allein. Im Hofe stießen sie auf Doktor Brand, den[556] Lydia heimlich hatte herbeirufen lassen; nachdem sie ihm das Erforderliche mitgeteilt hatte, verließ sie mit Dezimus das Gut. Beide waren bis in den Herzgrund erschüttert. Nachdem sie eine lange Weile schweigend nebeneinander gegangen waren, hob Lydia an:
»Es waren Wahngebilde der Fieberangst! Aber wie vor einem Rätsel stehe ich vor einer Liebe, welche solche Angst gebiert, und ist es ein Mangel oder eine Gnade, daß ich diese Liebe nicht einmal begreife? Auch ich habe meinen Vater über alle andere geliebt, aber ich habe an ihn geglaubt wie an keinen anderen. Die elementarste Menschenliebe, die einer Mutter, sagt man, mache blind; diese Schwester aber sieht die Irrungen dessen, welchen sie liebt, schärfer, als ein Feind sie sehen könnte, und dennoch liebt sie ihn. Großen Sinnes, denkend und handelnd nach einem anderen Gesetz als er, ausgebeutet, versäumt, verlassen von ihm, frevelt sie um seinetwillen lachenden Mutes und stirbt vielleicht an der Qual dieses unüberwindlichen Zwangs. Hätte ich sie täuschen sollen, Dezimus, vielleicht vom Tode befreien durch ein erheucheltes Wort?«
»Nein,« so beantwortete sie sich die Frage selbst, bevor er sie gleichfalls mit Nein zu beantworten gewagt hatte. »Nein; ich halte sie höher als sie den, welchen sie liebt, und ich halte auch ihn noch zu hoch, um zu glauben, daß er durch eine Lüge gerettet werden könnte.«
Wieder ging sie eine Weile stillsinnend an seiner Seite, dann hob sie von neuem an, indem sie ruhig mit einem großen Blick zu ihm in die Höhe sah:
»Ja, Freund, ich habe diesen Mann geliebt so, wie seine Schwester verlangt, daß ich ihn heute zu lieben heucheln soll; geliebt weit über die Stunde hinaus, in der ich erkannt hatte, daß er nicht mein Leitstern durch das Leben[557] werden konnte und ich nicht der seine. Jahrelang hat der warme Puls sich gegen das kalte Erkennen empört, habe ich lieber an mir selber gezweifelt als an dem, der sich in einer Wallung vielleicht berechtigten Zorns von mir getrennt hatte. Die Ferne blendet, Dezimus. Denn als er mir plötzlich wieder gegenüberstand, war er ein anderer für mich geworden, der, – der er war. Ich wußte, daß ich an diesen Mann nimmer hätte glauben lernen und daß die Liebe ohne Glauben eine Täuschung ist. Wenn ich aber Ihnen, Freund, nach jenem unfreiwilligen halben Geständnis, dessen Zeuge Sie wurden, dieses ganze freiwillig mache, so geschieht es, weil ich Sie mit Erfahrungen ringen sehe, welche den meinigen gleichen. Mögen Sie es nun als einen Vorwurf nehmen oder als einen Trost: auch Ihnen ist eine Liebe ohne Glauben wider die Natur, und Ihr Puls wird eines Tages ruhig schlagen, wenn Ihr Herz sich vielleicht am höchsten hebt.«
Er drückte die Hand, die sie ihm reichte, mit stummem Dank an seine Brust; dann trennten sie sich. Und was hatte er aus jenem Bekenntnis so Ergreifendes herausgehört, daß kein Dankeslaut ihm voll genug erschien? Nichts als das eine Wort: »Ich liebe Max nicht mehr.« Aber solch ein Wort durchzuckt wie ein Sternenstrahl den Nebel!
Im übrigen fand er in seiner Herzensstimmung weder mit Lydias bräutlicher noch mit Sidoniens schwesterlicher Leidenschaft einen verwandten Zug. Wen das Leben zwischen Güte und Liebe so warm gebettet hat wie ihn, dem wird ein einzelner Mensch nicht zum zwingenden Idol; die Gefühle verteilen sich; und eine Neigung, die aus der Wiege herauswächst, berückt das Herz nicht mit der Passion für ein Zauberbild. Er hatte seine Rose geliebt so, wie sie eben war, und so wie er selbst eben war, hatte er geglaubt,[558] von ihr geliebt zu werden. Erwies sich dieser Glaube als ein Wahn, nun wohlan! Er war kein Max, welchem ein ungeteiltes Verlangen zum Sporn des Verlangens wird. Er forderte ein Herz für ein Herz, ein ganzes Leben für ein ganzes Leben, und wurde es ihm versagt, nun – so wußte er zu entsagen.
Sehrlöblich, Freund Dezimus, höchstvernünftig! Nur mit Verlaub: dein Biograph würde es heldenhafter gefunden haben, wenn du zu dieser löblichen Vernunft gelangt wärest schon vor der Stunde, wo dein weißes Fräulein dir die Eröffnung machte, es liebe seinen Einstgeliebten nicht mehr.
Als Dezimus in die Pfarre zurückkehrte, erwartete ihn der nachstehende Brief:
»Lieber Dezimus!
Ich habe Ihnen die Hand darauf gegeben, daß ich nichts ohne Ihre Einwilligung unternehmen will, und ein Wort ein Mann! Nun sehen Sie, die See läuft mir nicht davon, aber einen Krieg gibts nicht alle Tage, und weil die Leute hier alle sagen, es ginge los, darum bitte ich Sie: lassen Sie mich mit ins Feld wider den Dänenkönig. Unser Herr Pastor hat die Sache von der Kanzel herab einen guten Kampf genannt, nur daß er freilich nicht von Blutvergießen dabei gesprochen hat. Was aber ein guter Kampf ist, das ist auch wert, daß ein bißchen Blut darin vergossen wird. Nun sehen Sie, lieber Dezimus, ich verstehe von den alten Traktaten kein Sterbenswort, und was hat mir der neue Dänenkönig getan? Und unser preußischer König kriegt die Herzogtümer doch gewiß auch nicht. Ich denke aber so: der dumme Streich, den ich nun einmal gemacht habe, wird immer noch eher durch ein paar Tropfen Blut als durch ein Meer voll Salzwasser abgewaschen; und nachher kann ich mich mit Ehren vor allen[559] Menschen wieder sehen lassen als ein richtiger Hartenstein, und, wer weiß, am Ende verdiene ich mir noch einen Orden. Denn Courage habe ich, das können Sie mir glauben, Courage wie ein Löwe!
Ihr Bruder, der Amerikaner nämlich, will auch mit; das heißt, wenn er das Fieber bis dahin los wird, das ihn ganz erschrecklich schüttelt. Der arme Pechvogel! Zu Schiffe die Seekrankheit, zu Lande das Schüttelfieber, und im Felde am Ende das Kanonenfieber! Nein, nein! Er ist ja Ihr Bruder, Dezimus. Der Witz fuhr mir nur so heraus. Im Gegenteil, ich denke: im Feuer, da glückts ihm; und weil er ein alter, preußischer Dreijähriger ist, machen sie ihn gewiß bald zum Feldwebel und geben ihm die Litze. Der Steuermann, der würde wohl gar gleich Offizier. Für sein Leben gern möchte er auch mit. Aber seine Frau läßt ihn nicht. Sie denkt, er wird totgeschossen. Als ob das Wasser Balken hätte! In drei Wochen sticht er in See und holt aus der Havanna, glaube ich, eine Ladung Tabak, und wenn bis dahin kein Krieg wird, nimmt er mich mit. Viel lieber als in die Teerjacke möchte ich aber erst ein Weilchen in den bunten Rock.
Und darum, lieber Dezimus, bitte, sprechen Sie mit Lydia. Wenn die ja sagt, brauchen wir den Vormund gar nicht erst zu fragen. An meine Mama schreibe ich selbst. Daß die aber nichts dawider hat, weiß ich voraus. Umgekehrt wie Ihre Schwägerin Stina fürchtet sie die Haifische zehnmal mehr als die Kanonen. Also, mein guter, lieber Dezimus, ich verlasse mich wieder einmal ganz auf Sie und bin und bleibe zu Wasser und zu Lande, auf Leben und Tod
Ihr
dankbarer getreuer Philipp.«
[560]
Das gab nun wiederum eine neue Gedankenwende. Dezimus stimmte seinem jungen Freunde ohne Bedenken zu. Brannte ihm selbst doch der Boden unter den Füßen, und hätte er doch kaum einen Kampf gewußt, in dem er sich freudiger aus seiner heimischen Zwitterstellung befreit hätte. Der Vater dahingegen stimmte mit Lydia in dem Zweifel überein, ob der Kampf, falls er entbrannte, eine Revolution zu nennen sei oder, wie die Erhebung von 1813, die Verteidigung eines unveräußerlichen Rechts, und nicht an dem weltfremden Greise und Weibe war es, diese Frage zu entscheiden. Als aber ihr König im Namen Deutschlands sie entschieden hatte, da hat selbst die Mutter ohne Zagen dem Jüngling zugerufen: »Sühne dein Unrecht in einem Kampfe um das Recht!« Denn Soldatenblut ist ein Erbe auch von Mann auf Weib, und eine zärtliche Ottilie, die an einem Masernbette zittert, gürtet ihrem Sohne das Schwert wie die tapferste Römermutter.
Als dieser mütterliche Zuruf geschah, erdröhnte die stille Landschaft noch von dem Donnerschlage des achtzehnten März. Wenn es aber wahr ist, daß ein absterbender Baum, dessen Wurzeln mit Blut begossen werden, junge Triebe zu sprießen beginnt, so glich der Greis, welcher mit seiner Liebe diese Landschaft ein Menschenalter hindurch beschattet hatte, einem solchen Baum. Das Blut, das in der Märznacht geflossen war, hatte seine Wurzeln begossen. In seinem Vaterlande, in Preußen eine Empörung nicht nur versucht, – sondern gelungen!
Eine lange Weile lag er von dem Niedersturz wie zerschmettert: die Kinder hielten ihn für entseelt. Plötzlich jedoch richtete er sich empor, in Blicken, Worten, Schritten ein Jüngling. Dezimus, vor seinem Stuhl auf den Knien liegend, las in seinen Augen den Vorwurf: »Was zauderst[561] du, Träumer? Eile, wohin in dieser Stunde ein Mann gehört!«
Als nun aber der Sohn, nicht länger bedenklich, die Ordre vorwies, welche, gleichzeitig mit der Schreckensbotschaft eingetroffen, ihn als Reservisten zu seinem Regimente einberief, da hätte er wahrlich nicht daran denken dürfen, als stellvertretender, demnächst zu ordinierender Pfarrer gegen sie zu reklamieren! (Er dachte indessen an nichts weniger als an Reklamieren.) Der Vater aber, um ihm zu beweisen, wie entbehrlich fortan seine Aushülfe geworden sei, ordnete für den nächsten Morgen die kirchliche Andacht an, mit welcher der Freund der Blumen und des Sonnenscheins alljährlich Frühlingsanfang zu feiern pflegte. Bei dieser Gelegenheit wollte er sich – nunmehr er der Stellvertreter des Sohnes – seiner Gemeinde wieder vorstellen, und unmittelbar nach dem Gottesdienst sollte, ohne erweichenden Abschied, der Sohn aufbrechen unter die Fahne.
»Ein Windstoß hat die erlöschende Flamme wieder angefacht. Wenn du heimkehrst, mein Sohn, wird sie niedergebrannt sein. Sammeln die Flammen der Liebe sich denn aber nicht zu neuvereintem Leben auf dem ewigen Herd, von dem sie sich ergossen haben?«
Also sprach der Greis am Abend in der Kammer, in welcher er zum letzten Male mit dem Sohne schlafen sollte, legte ihm die Hände auf das Haupt und dann sich zur Ruhe. Bald schlummerte er friedlich wie ein Kind bis in den Morgen hinein.
»Und wie scheiden wir?« fragte Dezimus, als er vor dem Kirchgang Rosen zum Abschied die Hand reichte.
Sie kämpfte ihre Tränen nieder und antwortete lächelnd: »Nun, ich denke, du scheidest wie ein guter Bruder, der[562] seiner törichten kleinen Schwester das Leid, das sie ihm angetan hat, vergibt und ihr die Freiheit dankt, die sie ihm wiedergegeben.«
»Rose, hast du Max geliebt?«
»Geliebt?« rief sie und schüttelte trotzig das Köpfchen. »Lieben einen, der uns als Lockvogel für eine andere am Faden zappeln läßt? Nein, nein, nicht geliebt! Nur froh bin ich gewesen – um hohen Preis – aber ohne Reue!«
Der Vater trat bei diesen Worten ein. Er hatte zum erstenmal seit seiner friedlichen Amtsführung das Eiserne Kreuz an den Talar geheftet, und so, als Freiwilligen von 1813, führte der Reservist von 1848 ihn auf die Kanzel, die er nicht wieder zu betreten gemeint hatte. Dort oben aber hielt der Greis über den Paulusruf: »Wachet, stehet im Glauben, seid männlich und seid stark« jene wunderbare Frühlingspredigt von der Treue im Wandel und Gottes Odem im Sturme der Zeit, die eines großsinnigen Königs Herz erweckt haben würde, die jedoch auch in den Herzen seiner einfachen Hörer gezündet hat wie ein Prophetenwort und nicht vergessen worden ist bis zur Stunde der endlichen Erfüllung. Für den Sohn war es das letzte priesterliche Wort aus Vatermunde, und niemals wieder ist ein Priesterwort ihm so tief in die Seele gedrungen.
Zwischen den Gräbern der Mütter stand wie bei seinem ersten Scheiden aus der Heimat Lydia. Sie haben kein Wort gesprochen, aber Auge in Auge haben sie eine lange Weile die Hände ineinander gehalten. Die Treue im Wandel!
Als Dezimus sein Bataillon, das zu dem Korps in den Marken gezogen worden war, erreichte, hatte es eben den Befehl erhalten, in die Herzogtümer einzurücken.[563]
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