Viertes Kapitel

Der Erbprinz

[128] Von dieser langen Liebes- und Leidensgeschichte wußte ich natürlich kein Sterbenswort, als ich mich stolz und wohlgemut in die goldene Karosse schwang, um vor das Angesicht der hohen Repräsentantin meiner Familie, der Witwe eines durchlauchtigen Herrn, geführt zu werden. Vor mir auf hohem Throne ragte Muhme Justines Flügelhaube neben der Allongenperücke des uralten Rosselenkers. Der riesige Heiduck klammerte sich an die ellenlangen Goldquasten über dem Trittbrett hinter mir, und dahin rollte das stolze Gefährt auf der einsamen Straße von Reckenburg.

Sie führte in gleichmäßiger Ebene durch dichten Nadelwald, dann und wann das Stromufer berührend. Ich war in einem Frucht- und Laubholztale aufgewachsen, zwischen dessen felsigen Abfällen ein kleiner Fluß sich anmutig wand, und die weniger romantische Region, in welcher ich mich seit zwei Tagen bewegte, hatte mich weidlich gelangweilt. Jetzt aber, in der goldenen Kutsche, heimelte sie mich an wie die interessanteste auf dem Erdenrund; der ruhige, breite Wasserspiegel imponierte mir, und ich schlürfte mit Behagen den würzigen Tannenduft, den ich bisher durchaus nicht gespürt hatte. Es war ja Reckenburgscher Stammgrund, dem das Arom entströmte!

Nach einer Stunde etwa näherten wir uns der Lichtung, die für den neuen Herrensitz geschlagen worden war. Die Hütten des Dorfes blieben zum Glück vom Walde verhüllt, denn ihre Armseligkeit würde mein stolzes Wohlgefühl um einige Grade abgekühlt haben. Es temperierte sich bereits, als wir, nahe dem Eingangsgitter, auf eine[128] Gruppe zerlumpter, verkümmerter Gestalten stießen, die zu mir gleich einem Meerwunder in die Höhe starrten. Ich hielt sie für Bettler, die ich von jeher als Faulenzer verachtet und mit Widerwillen gemieden hatte. Muhme Justine belehrte mich indessen anderen Tags, daß es die Bauern und Fröner des Dorfes gewesen seien, welche das seit einem Menschenalter nicht mehr geschaute »Böse Ding« der goldenen Kutsche herbeigelockt hatte.

Der Riese sprang vom Trittbrett, das wappenprangende Tor zu öffnen und alsobald wieder zu verschließen. Vor meinen Augen dehnte sich die breite Avenue inmitten des sauber gehegten, reichgefüllten Gartens. Im Hintergrunde ragte das Schloß, dessen rötliche Bekleidung die untergehende Sonne mit einem Goldschimmer übergoß. Die weißen Marmorsimse, die hohen Spiegelfenster, die mit Statuen und Vasen gezierte Terrasse, auf deren Rampe wir anhielten, die Säulen des großen Portals, alles das verfehlte seine Wirkung nicht. Ich begriff während dieser Auffahrt die Gleichgültigkeit der Eignerin dieses fürstlichen Besitztums gegen ihre bescheidene Sippe in der Baderei. Aus welchem Begreifen indessen nicht gefolgert werden soll, daß ich etwa gedrückt oder eingeschüchtert meiner vom Glücke reichlicher gesegneten Verwandtin entgegenging. Auch ich war eine Reckenburg, und niemals, denn als geladener Gast, würde ich diese stolze Schwelle betreten haben.

Von meinem Heiducken geleitet, bestieg ich die breite Marmortreppe. Jede Tür, die ich passierte, wurde sorgfältig wie hinter einer Gefangenen verriegelt. Ich trat in das lange Vestibül, auf welches die Zimmerflucht mündete. Die goldgerahmten Trumeaus zwischen den Fensternischen, die mythologischen Reliefs und Fresken an der[129] gegenüberliegenden Wand – Ihr geht mit einem gnädigen Lächeln an diesen Kunstgebilden vorüber, hochweise Zöglinge eines anderen Geschmacks, die Einfalt von damals aber, glaubt nur, daß sie Augen machte!

Am Ende des Ganges stand, wachehaltend, der Heiduck du jour, meinem bisherigen Begleitsmann ähnlich wie ein Zwillingsbruder. Schweigend wie jener – alles schwieg, alles war grabesstill in dem Zauberpalast – öffnete er die letzte Tür. Ich betrat ein Vorzimmer, das den einzigen Eingang zu dem vielberufenen Turmbau bildete (der »östlichen Rotonde«, wie es damals hieß). Zur Rechten des Vorzimmers lag der Speisesaal. Diese drei Piecen, »das Appartement Ihrer Hochgräflichen Gnaden«, waren die einzigen, welche jemals in dem weitläufigen Frontbau bewohnt worden waren. Sämtliche Wirtschaftsräume befanden sich im westlichen Flügel.

Der Leibwächter hatte mit dem goldenen Knopf seines Stockes dreimal laut an die Turmtür geklopft und sich auf seinen Posten zurückgezogen. Ich war allein und nicht ängstlich, nur neugierig, was weiter über mich verfügt werden würde. Ich legte ab, setzte mich in die tiefe Fensternische und schaute über den Garten hinweg in die düsteren Föhrenwipfel, zwischen welchen das Abendrot verglomm. Inmitten der wunderlichen Baum- und Steinfaxen zu meinen Füßen stiegen und schwebten die Oktobernebel phantastisch auf und nieder; es war der erste und ich glaube auch letzte Märchenschauer meines Lebens, der mich im Dämmerlicht dieses dunkel boisierten, totenstillen Wartezimmers überrieselte.

Eine halbe Stunde mochte auf diese Weise vergangen sein, ich war des Antichambrierens und der romantischen[130] Schauer herzlich müde geworden; da hörte ich das Zurückschieben eines Riegels, das Dröhnen eines Krückstocks, endlich ein pfeifendes Keuchen auf der Schwelle des Turmgemachs. Meine hohe Gastfreundin war eingetreten.

Die Eltern, wenn sie überhaupt um die landläufigen Vorstellungen über ihre einzige Verwandtin Näheres gewußt, hatten mir dieselben wohlweislich vorenthalten. Meine Instruktion lautete einfach: einer hochbetagten, daher wunderlichen, möglicherweise stolzen und ein wenig ökonomischen Würdenträgerin mit Ehrerbietung zu begegnen.

Da überlief mich denn nun freilich eine Gänsehaut bei dem Anblick, der sich nach und nach mir gegenüber als eine Menschengestalt entwickelte. O du weiser Prediger des Vergänglichen, ja was ist der Mensch in seiner Herrlichkeit! Eberhardine von Reckenburg, einst an dem schönheitskundigsten Hofe von Deutschland als Schönheitsgöttin gefeiert, und heute wie ein Sprenkel zusammengekrümmt, mühsam am Krückstocke keuchend, bebend vor innerlichem Frost, wie ein Laub im Novembersturm, das kaum noch handgroße Gesicht in tausend kleine Fältchen eingeschrumpft, gleich einem vergilbten Pergament aus der Klosterzeit!

Und dennoch! Alles, was jemals unter der anmutsvollen Hülle gelebt hatte, das lebte noch heute unter der runzligen Haut, und die schwarzen Augen funkelten noch heute so mutig, scharf und klug, so heimlich passioniert, wie sie in den Tagen des starken August gefunkelt haben mögen. Ein einziger Blitz dieser durchdringenden Augen, und der heimlichste Winkel, die verborgenste Falte in des armen Patenkindes Seele waren bloßgelegt, insofern nämlich Winkel und Falten in besagter Seele bloßzulegen gewesen wären.[131]

Die kleine, unheimliche Gestalt war schwarz gekleidet vom Kopf bis zur Zehe, nach einer Fasson, die wir auf Maskenbällen einen Domino nennen. Über einem schleppenden Untergewande hing ein kurzer, faltiger Mantel, unter dem Kinn mit einer dichten Krause geschlossen. Über der Witwenhaube thronte ein runder Hut mit wallendem Federschmuck. Ich habe die Gräfin späterhin, selbst in den vertraulichsten Situationen, niemals ohne ihren »spanischen« Hut und Mantel, wie auch niemals ohne Handschuhe gesehen und ihre Mode praktisch gefunden. Sie war warm und bequem und verlieh ihr in ihren eigenen Augen eine Würde, die Schlafrock und Kapuze gestört haben würden. Beim ersten Eindruck aber, im Dämmerlicht des geisterstillen Palastes, wird man mir ein gelindes Gruseln nicht übelnehmen.

Indessen war ich nicht dauernd auf apprehensive Stimmungen angelegt; bevor die Gräfin sich in ihrem Lehnstuhle verschnauft, hatte ich meine natürliche Fassung wiedergewonnen. Ich schritt herzhaft auf sie zu, und Handkuß wie Reverenz gelangen in dem korrekten Stile, der einer Reckenburgerin fürstlichem Ansehen gegenüber als Vorschrift galt.

Die Gräfin hatte, nach einsamer und etwas harthöriger Leute Art, die Gewohnheit angenommen, Eindrücke oder Einfälle vor sich selber laut werden zu lassen, und dankte ich diesen unbewußten Plaudereien in der Folge manche Enthüllung, die sie mir bewußt nicht gemacht haben würde. Bei ihren heutigen Glossen aber war es ihr jedenfalls mehr als gleichgültig, ob ich sie auffing oder nicht.

»Grobschlächtig, aber frisches Blut!« sagte sie nach einem musternden Blick, mit dem Kopfe nickend. »Eine Weiße![132] Wir Schwarzen von jeher feiner und schön. – Leidliche Turnüre. – Wo hast du tanzen gelernt?« fragte sie darauf, zu mir gewendet.

»Bei meinem Vater, gnädige Gräfin,« antwortete ich.

Glosse der Gräfin: »Sächsischer Kadett. Gute Schule!«

Zweite Frage: »Verstehst du Französisch?«

»Meine Mutter hat immer Französisch mit mir gesprochen, gnädige Gräfin«

»Rezitiere ein paar Sätze. Gleichgültig, was.«

Mir fiel just nichts anderes ein als meine letzte Gedächtnisübung; eine Fabel, den Segen schildernd, der den Nachkommen aus der Arbeit der Greise erwächst. Unbekümmert um das A propos oder Mal à propos dieser Wahl, deklamierte ich meinen octogénaire plantant frisch von der Leber weg von A bis Z.

»Ingénuité absolue!« glossierte denn auch die Gräfin mit einer Lippenbewegung, die wohl ein Lächeln bedeuten sollte. »L'accent passablement pur!« setzte sie darauf, den Kopf neigend, hinzu. »Die Mutter als Fräulein viel in Dresden zu Hof. Verständige Erziehung! – Wir werden Französisch miteinander reden, Eberhardine!«

»Wie Sie befehlen, gnädige Gräfin.«

»Du magst mich Tante nennen,« sagte die Gräfin.

Während ich, zum Dank für diese Huld, ma tante zum zweitenmal die Hand küßte, meldete der diensttuende Heiduck: »Madame la comtesse est servie!«

»Ein zweites Kuvert für meine Nichte, Jacques!« befahl die Gräfin.

Eberhard und Adelheid, o weise Erziehungsauguren! Ohne den sauren Schweiß deiner Tanzabende, mein braver Vater, ohne deine Sprachmühen, kluge Mutter, würde die[133] letzte Reckenburgerin Gott weiß in welchem Winkel des Stammsitzes ihrer Ahnen eine Abspeisung gefunden haben, und wie höchlich durfte sie nun mit ihrem Entree zufrieden sein!

So folgte ich denn um die Stunde, wo wir daheim unser Vesper zu verzehren pflegten, meiner neuen Tante zum Souper in den Speisesaal. Seine Ausstattung entsprach dem Prunke des übrigen Schlosses. Es brannte ein silberner Kandelaber, dessen braungelbe Wachskerzen die fast fünfzigjährigen Vorräte anzeigten. Das Tafelservice, wenn auch ein wenig verbraucht, bekundete den gediegenen Ursprung; dem geringsten Stücke war gleichsam der Stempel des Hauses: das Doppelwappen mit der obligaten Grafenkrone, eingeprägt. Allerdings perlte in den venezianischen Gläsern nur reiner Reckenburger Born, und das japanische Porzellan besah nichts Edleres als rote Reckenburger Grütze. Als Nachkost wurde auf silberner Platte der alten Dame eine Schale ihres Eicheltrankes, der jungen ein Apfel präsentiert. Keine Sorge indessen, Kinder! Ich hatte während der Reise aus dem heimischen Proviantkober wacker vorgelegt und bin auch späterhin auf Reckenburg allezeit satt geworden, trotz meines damals wie heute noch kräftigen Appetits. Wenn aber, was der Himmel verhüte! der Eurige im Alter einmal schwach werden sollte, so kann ich Euch mit gutem Grund Grützbrei und Eicheltrank als brave Erhaltungsmittel empfehlen.

In Parenthese sei mir an dieser Stelle noch eine zweite Bemerkung gestattet: Wenn kein Mitglied des gräflichen Haus- und Hofstaates jemals freiwillig seinen Dienst verlassen hat, wenn derselbe stets pünktlich und schweigsam im Sinne der Herrschaft verrichtet ward und gleich[134] dieser die Mehrzahl ein Uralter bei demselben erreichte, so ziehe ich unserer Spinnstubenromantik von einer Verhexung der Zunge und Eingeweide die nüchterne Auslegung vor, daß besagtem Personal durch Kost wie Lohn auskömmlich Magen und Mund gestopft worden sei.

Das Souper war schweigsam verzehrt worden und in wenigen Minuten abgetan. Während ich der Gräfin in das Vorzimmer folgte, bemerkte ich, wie der Riese Jacques in gewissenhafter Eile die Kerzen des Kandelabers löschte. Die Gräfin entließ mich mit den Worten: »Morgen mittag auf Wiedersehen. Vertreibe dir die Zeit, wie du kannst. Das Vorzimmer steht dir offen und ist immer geheizt.«

Ich küßte die dargebotene Hand und ging knicksend nach der Tür.

»Du bedarfst keiner Toilettenhilfe, nicht wahr?« rief die alte Dame mir noch nach. Ich verneinte. »Halte dich vor Schlafengehen nicht auf, verriegle die Tür und lösche das Licht alsobald.«

Damit tastete sie sich nach ihrer Klause, deren inneren Türriegel ich noch klirren hörte. Dann geleitete mich Monsieur Jacques, nachdem er auch das Vorzimmer verschlossen hatte, den Korridor entlang bis zu Reckenburgs »neuem Turm«, die »westliche Rotonde« jener Zeit. Er stand durch eine Wendeltreppe mit den Wirtschaftsräumen in Verbindung, und das mir geöffnete Zimmer war das einzige im Frontbau, das ursprünglich zu einem Domestikenraum eingerichtet schien. Denn die Wände waren nur getüncht, der Fußboden roh gedielt, ein Ofen fehlte, und es enthielt als Ausstaffierung nichts als einen Tisch, einen Stuhl, einen Kleiderschrank, das notdürftigste Waschgerät und ein Bett, welches keineswegs Daunen und seidene[135] Polster schwellten. Gegen meine heimische Dachkammer war der Abstich nicht allzu groß: aber freilich an das lachende Mädchenstübchen der kleinen Dorl durfte ich nicht denken.

Ich war an strengen Gehorsam gewöhnt; habe auch jederzeit, wo ich nicht befehlen durfte, gern gehorcht. Ich warf also meine Kleider ab, löschte das Talglicht, das mein Führer zurückgelassen hatte, und schlief, ohne durch eine Spuk- oder auch nur Traumgestalt behelligt zu werden, meine sieben Stunden so ungestört, wie ich sie mein Lebtag immer geschlafen habe und noch heute schlafe.

Wer aber mit den Hühnern zu Bett geht, muß mit den Hühnern erwachen. Noch bei Sternenschein war ich munter und bei Tagesgrauen in den Kleidern. Was sollte ich vornehmen? Auf meine Bitte öffnete der Leibwächter im Vestibül mir die Tür der Seitentreppe und ich stieg hinunter in den Garten. Bald schweifte ich darüber hinaus in Wald und Flur und sah zum erstenmal unter freiem Himmel die Sonne aufgehen, klar und glanzvoll wie ein Gottesauge.

Methodisches Spazierengehen war weder ein Bedürfnis noch eine Modesache meiner Zeit, und würde mir heute noch eine gar leidige Erholung dünken. Aber so ungebunden schweifen durch Land und Volk, beobachten die stille Arbeit der Natur, wenn auch die letzte vor der winterlichen Rast, die umbildende der Menschen, Kraft und Widerstand hier wie dort – und das alles auf einem altüberkommenen, heimatlichen Grunde –, es war ein großer Sinn, der mir an diesem ersten Morgen in der Flur von Reckenburg aufgegangen ist, ein ursprünglicher, starker Sinn, der mich lebenslang beglücken sollte.[136]

Da gewahrte ich denn zum erstenmal die Bewirtschaftung in einem bedeutenden Dominium; sah, wie das Holz gefällt und die Flößen nach dem Strome geschleift wurden, sah Kohlen brennen und Torf stechen, die letzten Reste des Grummets, die Spätfrüchte der Felder einheimsen. Ich sah die Äcker für die Wintersaat neu bestellen, die der Stallhaft entlassenen Herden Wiesen und Brachen abweiden, sah des Wildes freies, fröhliches Treiben im umhegten Revier.

Ich unterhielt mich mit Hirten, Arbeitern und Aufsehern über einschlägiges Gebiet; schloß mit dem alten, verständigen Oberförster Waldkameradschaft und machte mich auch den übrigen Beamten bekannt. Das frische, junge Blut, welches den Namen Reckenburg trug und so urplötzlich mit seiner Neugier aus dem schweigsamen Schlosse in die Außenwelt drang, wurde mit freundlichem Vertrauen aufgenommen: und freilich nicht am ersten Tage, aber mit der Zeit schwand auch den armen Dörflern die Furcht, daß diese lebenskräftige Jugend unter dem Grabeshauche des gefeiten Schlosses versteinern werde.

Reichere Ernte hatte ich keine Stunde in Christlieb Taubes Schulstube gehalten, heimischer mich keine Stunde in der alten Baderei gefühlt, als bei dieser ersten Wanderung durch die Reckenburger Flur, und wie ich gegen Mittag nach dem Schlosse zurückkehrte, da war es gleich wieder eine gute Botschaft, mit welcher Muhme Justine mir entgegentrat. Hochgräfliche Gnaden waren in der Nacht von einem bösen Gebreste heimgesucht worden, und da die Gliedmaßen Hochdero Kammerfrau sich für die vorschriftsmäßigen Manipulationen zu steif und zitterig erwiesen, waren die der kunstfertigen Reiseduenna zu Hilfe[137] gezogen worden. Meister Fabers Schülerin hatte denn auch im Setzen von Schröpfköpfen und anderweitigen weniger schicklich auszusprechenden Ableitungen zum erstenmal in einem Grafenschlosse eine glänzende Probe abgelegt und hohe Patientin – schneller denn je von ihrer Bedrängnis erlöst – der Helferin den Antrag gestellt, gegen standesmäßiges Salär den Winter auf Reckenburg zuzubringen. – Die treue Seele opferte ohne Bedenken diesem zweifelhaften Anerbieten ihre sichere heimische Kundschaft. Ihre Augen funkelten. Sie fühlte sich als Mittelsperson, um ihre stolzesten Traumgesichte zu verwirklichen. »Denn unter solcherlei Prozeduren kommt ein Mensch zur Räson und wird weich wie Wachs.«

So sollte es mir denn auch an einem gemütlichen Austausch nicht fehlen, und noch ein anderer wesentlicher Vorteil stellte sich bald genug heraus. Das der wichtigen Leibwärterin im Seitenbau angewiesene Zimmer grenzte an das meine; es wurde erleuchtet und geheizt; ich konnte mich in demselben, nach Absperrung der gräflichen Zone, noch ein paar Stunden ad libitum beschäftigen und brauchte nicht mehr mit den Hühnern zu Bett zu gehen.

Das Menü des Diners beschränkte sich keineswegs auf die abendliche Grütze. Heute zum Beispiel gab es, nach einer trefflichen Brühe, ein Hühnchen, das bis auf einen geringen Brustbissen auf meinen Anteil fiel. Zum Nachtisch Äpfel, für die Gräfin gebraten, für mich roh. Es wurde auch Wein aufgestellt. Die alte Dame vertrug aber keine Spirituosen, und von der jungen setzte man voraus, daß sie sie nicht vertrug. Die Flaschen wurden daher unentkorkt abgetragen, um am anderen Tage unentkorkt wieder aufgetragen zu werden, und es ist immerhin möglich,[138] daß es die nämlichen gewesen sind, welche auf der ersten und letzten gräflichen Tafel ihre Rolle spielten.

Auch die Zeit des Mahles wurde nicht so knapp gemessen wie die beim Souper; vielleicht weil es keine Wachskerzen zu löschen galt. Wir saßen wohl noch ein Stündchen uns beim Eichelkaffee gegenüber; und ich machte mit der Schilderung meines Flurganges einen guten Effekt.

»Du hast scharfe Reckenburger Augen,« sagte die Gräfin. »Halte sie offen und berichte mir ehrlich, was du bemerkst.«

Mit diesen Worten war das Amt meiner Zukunft eingeleitet: scharf zusehen und ehrlich Bericht erstatten; dazu im Verlauf die mündliche Vermittelung der Anordnungen und Ausführungen zwischen Turm und Flur, das ist der Inhalt meiner langen landwirtschaftlichen Lehrzeit auf Reckenburg.

»Indessen«, so fuhr die Gräfin nach einer Pause fort, »die Zeit für das Freie wird kürzer; und manche häusliche Stunde möchte dir einsam vorkommen, Eberhardine. Tröste dich damit, daß die Heimat dir mindestens nichts Schicklicheres geboten haben würde. Für die Saison in Dresden sind deine Eltern zu arm, und die geselligen Allüren einer kleinen Stadt würden dich nur verstimmen. Besser einsam sein, als falsch placiert. Im übrigen möchte ich dir selber unter jener bescheidenen Sozietät einen Sukzeß nicht verbürgen, und welchen Genuß gewährt die Gesellschaft mit Ausnahme des Sukzeß? – Liest du gern, Eberhardine?«

Ich bekannte, daß ich noch gar nichts gelesen, mir die Freiheit zum Lesen aber längst gewünscht habe.

»So benutze die Schloßbibliothek,« versetzte die Gräfin. »Sie enthält das Lesenswerte bis um die Mitte des Jahrhunderts.[139] Ich selbst habe nicht den Sinn mehr für Lektüre, auch nicht die Zeit. Schone die Einbände und stelle die Bücher regelmäßig wieder an ihren Platz. Die Ordnung darf nicht gestört werden. Der Katalog macht die Auswahl leicht. Stößt du auf Romane: dir schaden sie nicht. Au contraire! Verlangst du Neueres oder Deutsches, so wende dich an den Prediger. Persönlich kenne ich ihn nicht, nach seinen Eingaben jedoch scheint er – ein wenig Phantast – aber ein instruierter Mann. Suche ihn auf, halte dich an ihn. In dir ist kein Boden für philanthropische Phantasmen; zur Betrachtung haben sie immerhin ihren Wert.«

So war es denn auch noch ein zweiter Lebensborn, der sich in Reckenburg für mich erschloß, wenn mir auch nicht die natürliche Befriedigung des ersten aus ihm entgegenquoll.

In der Bibliothek fand ich – außer genealogischen und heraldischen Sammlungen, die ich unberührt ließ, und Italienern, die ich nicht verstand – zwar lediglich Franzosen, aber das, was eine große Nation in ihrer größten Epoche hervorgebracht hat, würde schon hingereicht haben, eine junge, durstige Seele für lange Zeit zu stillen. Und dazu trat nun noch von vornherein der Pfarrer mit seinen geliebten jungen Deutschen. Am Sonntagmorgen hörte ich ihn predigen, und am Nachmittag klopfte ich an seine Tür.

Ich war ein Kind an Lebenserfahrung und aus einem härteren Stoffe geformt als er. Gleichwohl brachte ich schon aus dieser ersten Begegnung in Amt und Haus das bedrückende Vorgefühl einer verfehlten Existenz. Je länger ich ihn aber im Dienste einer leiblich und geistig verwilderten Gemeinde kennen lernte, den milden, sinnvollen[140] Menschen und Christen, dessen Grundneigung auf ein edles Maß und harmonische Bildungen gestellt war, unverstanden, ungeliebt, die liebenswerteste und liebevollste Natur, um so lebhafter fühlte ich in seiner Nähe buchstäblich ein körperliches Weh, und so viel ich persönlich an ihm verlor, ich fand keine Ruhe, bis ich ihn an einen Platz gestellt wußte, wo seine Lehre und sein Vorbild in empfänglicheren Gemütern zünden durften.

Und nun zählt zu des Priesters verhallendem Wort die jammervoll leere Hand des Menschenfreundes. Einer, der nur geben, immer geben, unberechnet hätte geben mögen, und der sich mit einer bettelarmen Gemeinde um magere Zinshähne und karge Beichtgroschen streiten mußte, wenn er nur das Dürftigste zu geben haben wollte. Zählt dazu endlich den Mangel eines häuslichen Herdes: die geliebte Gattin tot, den einzigen Sohn ferne auf eigenen, rauhen Wegen. Wahrlich, der Mann hätte versiechen müssen wie in der Wüste ein Quell, wenn nicht in unserer jungaufstrebenden Literatur sich eine Welt für seine freudige Beschaulichkeit eröffnet hätte. Mit dem Blicke des Humanisten und des Menschenfreundes folgte er auch den wildwuchernden Trieben jener Zeit, und sein Herz schlug in höchster Beseligung, wenn er etwas dauernd Edles für sein der veredelnden Schönheit so bedürftiges Volk entdeckt hatte; am reinsten aber strahlte seine Freude, sobald er sie, seis auch nur einen schwachen Widerstrahl, erwecken sah.

Er empfing daher das anklopfende Kind wie einen Sendling Gottes, denn bis zu einem gewissen Grade fand er in ihm Aufmerksamkeit und Verständnis für seine Welt. Jeden Nachmittag von diesem ersten ab kehrte ich in seiner Klause ein; jeden Abend führte er mich zurück bis an die[141] Schwelle jener anderen Klause, in welcher eine Eremitin entgegengesetzten Schlags ihre Weisheit vernehmen ließ, und seine Hoffnung wurde nicht müde, wenn auch die Lehren des alten Weltkindes eindringlicher als die des platonischen Jüngers in beider Zögling hafteten.

So war ich denn in doppelter Weise in die hohe Schule der Reckenburg eingeführt, und wenige Studiosi werden sich rühmen dürfen, so selten ein unkluges oder verbrauchtes Wort von ihren Meistern gehört zu haben. Am lautesten und erweckendsten aber sprach mir die Dritte in dem bildenden Bunde: die Natur? – nein, mit dem stolzen Namen nenne ich sie nicht, aber meine von Tage zu Tage inniger vertraute, altväterliche Flur. In ihr wußte ich mich auszufinden, in ihr kannte ich Weg und Steg, sie wurde die Welt, in der auch ich eines Tages zur Eremitin werden sollte. Die ursprüngliche Neigung trieb mich nicht in den Gesellschafts- und nicht in den Büchersaal, sie trieb mich in einen Winkel heimischer Erde, in dem ich mir eine Werkstatt gründen durfte.

Indessen machte ich Fortschritte, und meine kluge Tante war nicht spröde, dieselben zu verwerten. Bald sah ich mich von der akademischen Lernfreiheit in Kontor und Schreibstube abgelenkt. Ich sagte bereits, daß ich gleich in den ersten Tagen zum Dolmetscher ihrer mündlichen Befehle berufen ward. Die knappe, präzise Art, mit welcher Meldung und Gegenmeldung ausgerichtet wurden, nicht minder die Schwäche, welche häufig genug die Feder aus der Hand der unermüdlichen Greisin sinken ließ, erweckten den Versuch auch im schriftlichen Gebiet. Bald vollzog ich unter ihrem Diktat die Anweisungen und Antworten an Beamte, Gerichtshalter, Behörden und so weiter;[142] mit rascher, deutlicher Handschrift wurde in wenigen Minuten expediert, womit die zitternden Finger sich tagelang abgequält hätten, und nach wenigen glücklich gelösten Stilproben sah ich mich zum selbständigen Sekretär der Reckenburg aufgerückt.

Noch aber lag das Heiligtum des geheimnisvollen Kassabuchs unenthüllt auch vor meinen Blicken, und just für dieses Alpha und Omega ihres Tageslaufs bedurfte die glückliche Sammlerin am dringendsten eines zuverlässigen Disponenten, so daß am Ende auch aus dieser Not eine Tugend gemacht werden mußte.

Ich will Euch, meine Freunde, nicht des breiteren mit meiner Reckenburger Lehrzeit beschäftigen, zumal ich in meiner Darstellung weit über die Gegenwart hinausgegriffen habe. Alles in allem: Ich wurde im Laufe der Jahre die rechte Hand der Gräfin in ihrem weitläufigen Geschäftsverkehr, sie erzog sich in mir einen Verwalter. Täglich arbeitete ich einige Stunden unter ihren Augen in dem verrufenen Turmgemach, und so geschah es, daß nach innen wie außen ich, und ich allein, den Wert eines Besitztums kennen lernte, welches eines Tages anzutreten ich weder ein Recht noch eine Aussicht hatte.

Denn so fest ich mit der Zeit in das Vertrauen der Greisin hineinwuchs, darüber konnte ich mich nicht täuschen, daß nur ihr Verstand, nicht das Gemüt sich der Verwandtin zuneigte, die sie immer näher an sich zog. Sie half ihr arbeiten, weiter nichts. Nur eines Menschen Schicksal kümmerte sie noch auf Erden, nur im Hinblick auf einen Menschen ruhte die rastlose Seele aus.

Ich aber mit dem natürlich spröden Herzen, wie hätte ich mich einem Wesen anschließen sollen, das mir so[143] wenig entgegentrug? Ich schätzte die Gräfin nach einem anderen Maßstabe, als die Welt es tat; ich bildete mich in wesentlichen Punkten an ihrer Erfahrung, aber selber eine dankbare Empfindung ward nicht herausgefordert, denn ich leistete ihr mehr als sie gewährte, und ich leistete es ohne Eigennutz. Geliebt habe ich die einzige Verwandtin so wenig, wie sie mich. Zwischen dem alten Idealisten im Pfarrhause und der alten Realistin im Turm entwickelte sich die Jungfrau als ein herzensarmes Ding, so, ja mehr noch, wie vordem das Kind in der Schulstube Christlieb Taubes neben der kleinen, reizenden Dorl.

Als die vorausbestimmte Zeit meiner Heimreise heranrückte, machte die Gräfin mir und den Eltern den Vorschlag meiner Rückkehr im nächsten Winter. Sie sprach ihn aus in weniger herablassender Form als die der ersten Einladung, aber doch nur als eine Gunst, keineswegs als einen Wunsch. »Wie du einmal bist,« sagte sie, »ist es gut für dich, der kleinstädtischen Beschränkung deines Vaterhauses zeitweise entrückt zu werden und dich in einer größeren Lebensordnung bewegen zu lernen.«

Verlockender war die Einladung, welche an die wiederholentlich bewährte Leibpflegerin, »Madame Müllerin«, erging. Sie sollte zwar während des Sommers, der guten gräflichen Saison, mich in die Heimat zurückbegleiten, zum Herbst aber mit mir wiederkehren und sich dauernd in Reckenburg niederlassen. Ein fixes Gehalt für den Dienst im Schlosse wurde bewilligt, und zu freierer Bewegung in ihrer Kunst – den im Dorfe erledigten Posten einer Wehmutter eingeschlossen – das Waldhäuschen eingeräumt, das ursprünglich für den fürstlichen Hundewärter errichtet worden war, da aber der Fürst mit seiner Meute[144] ausgeblieben, nicht als unveränderliches Erhaltungsinventar betrachtet zu werden brauchte. Ein Gärtchen, ein Stück Ackerland, freier Holzbedarf boten nicht minder lockenden Vorteil, und so sehen wir denn im folgenden Herbst Muhme Justine zur Zufriedenheit eingerichtet und als Helferin bei jeglicher Leibesnot in Schloß und Umgegend hochgeehrt. Die Tränke, welche sie aus selbstgesammelten Kräutern zu brauen verstand, halfen gegen Fieber und Verschlag, und halfen sie einmal nicht, so hatte der liebe Himmel es eben anders beschert, und die des Doktors würden noch weniger geholfen haben. Mit den Apothekern der Umgegend wurde ein lebhaftes Drogengeschäft unterhalten; so fleißig die Hände sich rührten, sie langten kaum aus, den vielseitigen Ansprüchen zu genügen. Die Alte im Grafenschloß und die Alte im »Hundehaus« wetteiferten in jener Zeit in der Kunst des Aufsammelns und Sparens. Mir aber, dem Glückskinde, wenn mir aller Traumkunst zum Trotz die Millionen der reichen Tante entschlüpfen sollten, die Hunderte der armen Muhme würden mir nicht entgangen sein.

Als ich wenige Tage vor meiner Heimreise von meiner Morgenwanderung in das Schloß zurückkehrte – daß ich es eingestehe, beklommenen Herzens, weil ich die Saaten, die ich legen und sprießen sah, nicht auch reifen und ernten sehen sollte –, überraschte mich ein lebhaftes Treiben, ein ungewohntes Gebrodel wie von Braten und Backwerk in den Wirtschaftsräumen. Ein Stückfaß wurde aus dem Keller in die Gesindestube getragen, Frauen und Kinder der Beamten gingen beladen mit Weinflaschen und Kuchenkörben nach ihren Behausungen zurück; lange Tafeln für die Tagelöhner des Gutes standen gedeckt und reich besetzt.[145] Ich fragte nach der Ursache dieser verwunderlichen Gastlichkeit, und männiglich wurde mir geantwortet, daß heute der Festtag der Reckenburg gefeiert werde. Wessen Festtag? Der Kalender nannte keinen; der Einzugstag der Gräfin fiel in den hohen Sommer: ihr Wiegenfest wurde mit Stillschweigen übergangen, da sie es nicht liebte, an ihr Alter erinnert zu werden. Der gefeierte Gegenstand war ein Geheimnis, wie so vieles auf der Reckenburg.

Auch die herrschaftliche Tafel ward reich serviert, Wein nicht nur aufgesetzt, sondern auch getrunken. Beide Heiducken versahen den Dienst. Die Gräfin trug einen neuen Sammetmantel und eine stolze Straußenfeder auf ihrem spanischen Hut; ein schier verächtlicher Blick streifte mein tägliches Kleid – (noch immer von dem grasgrünen, unverwüstlichen Rasch). Als der Braten gereicht ward, ließ sie ihr Glas mit Champagner füllen, stieß mit mir an und sagte feierlich: »Auf sein Wohl!«

»Auf wessen Wohl?« fragte ich verwundert.

Ein zweiter, mehr als verächtlicher Blick wurde mir zugeschleudert. Was besagten meine Studien in der Bibliothek, wenn ich Stammbäume, genealogische Tabellen und Urkunden so wenig gewürdigt hatte, um über das wichtigste Datum der Reckenburg noch in Zweifel zu sein?

»Der 20. April, Prinz Augusts Geburtstag,« sagte sie scharf, nachdem sie ihr Glas auf einen Zug geleert hatte, und da sie aus meinen Mienen sehen mochte, daß sie das Rätsel mit einem neuen Rätsel gelöst, setzte sie hinzu: »Der Sohn meines hochseligen Gemahls und der Letzte seines durchlauchtigen Hauses. Gott erhalt ihn!«

Zum erstenmal hatte die Gräfin den Namen ihres Gemahls vor mir genannt, und zum erstenmal dämmerte[146] mir die Ahnung, welchen Erben sie sich erkoren, vielleicht schon ernannt haben mochte.

Als ich der Mutter später von dem Festtage der Reckenburg erzählte, sagte sie: »Ich habe niemals daran gezweifelt, daß die Gräfin nur zu des Prinzen Gunsten unsere Reckenburg so herrschaftlich erweitert hat«.

»Für den Mosjö Sausewind?« versetzte lachend der Vater; »nun, weiß Gott, saurer als seinem Herrn Papa wird sie ihm das Durchbringen nicht werden sehen!«

»Nicht bei ihren Lebzeiten und jedenfalls nur als Fideikommiß; das aber sei gewiß, Eberhard, die Gräfin läßt ihre Herrschaft nur in fürstlichen Händen.«[147]

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 1, Leipzig 1918, S. 128-148.
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