Orphisches Lied

[19] Höre mich Phoibos Apoll! Du, der auf bläuligem Bogen

Siegreich schreitet herauf an wölbichter Feste des Himmels,

Spendend die heilige Helle der Wolkenerzeugenden Erde,

Leuchtend Okeanos hin zur Tiefe des felsichten Bettes,

Höre mich Liebling des Zeus! Sieh gnädig auf deinen Geweihten![19]

Sei im Gesang mir gewärtig, und lasse der goldenen Leyer

Saiten mir klingen, wie dir, wenn mit siegender Lippe du singest

Pythons des schrecklichen Fall dem Chore melodischer Musen,

Oder im Liede besingst ferntreffende Pfeile des Bogens,

Also, o Phoibos Apoll! laß von begeistertem Munde

Strömen mir wogende Rythmen des sinnebeherrschenden Wohllauts,

Daß sich der Wald mit beseele, die Dryas des Baumes mir lausche,

Schlängelnde Ströme mir folgen, und reißende Thiere unschädlich

Schmeichelnd zu mir sich gesellen. Vor allem Erzeugter Kronions!

Gieb des Gesanges herrschende Kraft, die drunten gewaltig

Äis den König bewege des Landes am stygischem Strome.

Lehre vergessene Schmerzen mich wecken im Busen der Göttin

Die ein zu strenges Gebot dem düsteren Herrscher vermählet,

Daß sie erbarmend sich zeige dem Schwestergeschick der Geliebten,

Wieder ihr gönne zu schaun des Tages sonnige Klarheit,

Deines unsterblichen Haupts fern leuchtende Strahlen, o Phoibos!
[20]

Quelle:
Karoline von Günderrode: Gesammelte Werke. Band 1–3, Band 2, Berlin-Wilmersdorf 1920–1922, S. 19-21.
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