Über die Worte: Ich weis, dasz mein Erlöser lebt etc.

[233] Erhole dich, bedrängtes Herze,

Im Schooße der Gelaßenheit;

Verzagen hilft uns nicht vom Schmerze,

Der Unschuld Gram ergözt den Neid

Und macht durch ihren Thränenbach

Die Kraft zum Überwinden schwach.


Das Elend ist ja auf der Erden

So allgemein als Luft und Fall.

Sobald wir kaum zu Menschen werden,

So prophezeit der Jammerschall

Auch in der Wiege schon die Noth,

Die unserm ganzen Leben droht.


Man wandelt zwischen Furcht und Spöttern,

Man wird verschnidten und gedrückt

Und bey den grösten Unglückswettern

Auch gar von Freunden umgerückt,

Von Freunden, die des Glückes List

Mit angenehmen Blicken küst.


Der Geist ist willig, recht zu leben,

Und wäre gern der Mängel los;

Allein des Fleisches Widerstreben

Ist allemahl so starck und groß,

Daß auch der allerbeste Christ

Zum öftern Rath und Trost vermißt.


Was aber sollt ich weichlich klagen?

Ich weis, daß mein Erlöser lebt;

Er lebt, er zehlet meine Plagen,

Worin mich viel Gefahr begräbt,

Er lebt, er siegt und theilt den Raub

Und tritt, was mich verfolgt, in Staub.
[234]

Ach könt es doch ein jeder faßen,

Wie glücklich so ein Leiden heist,

Bey dem wir uns auf den verlaßen,

Der endlich unser Joch zerschmeist

Und deßen väterliche Zucht

Die Wohlfahrt unsrer Seele sucht.


Indem ich die Versichrung habe

Und völlig überzeuget bin,

So seh ich täglich nach dem Grabe

Mit Lust und Sehnsuchtsblicken hin

Und wüntsche bald mit heißem Flehn,

Durch deßen Nacht das Licht zu sehn,


Das Licht, in dem der Vater wohnet,

Dort, wo Verdruß und Angst und Weh

Der Auserwehlten ewig schonet,

Bey denen ich in Hofnung steh.

Mein Glaube kämpft, Gott spricht ein Wort,

Halt an, mein Geist, dein Sieg ist dort.


Fallt hin, ihr abgekränckten Glieder,

Und mengt euch unter Asch und Sand;

Ihr werdet mir gewislich wieder

Mit neuer Klarheit zugewand.

Verschleus, du abgetragnes Kleid,

Verwesung bringt Vollkommenheit.


Da werd ich in dem Gottheitsspiegel

Den Abgrund hoher Weißheit schaun,

Da wird mir auch des Lammes Siegel

Den schönsten Brautschmuck anvertraun,

Da werd ich wider alle stehn,

Die wider mich zu Schaden gehn.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 2, Leipzig 1931, S. 233-235.
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