Abendlied

[23] Abermahl ein Theil vom Jahre,

Abermahl ein Tag vollbracht;

Abermahl ein Bret zu Baare

Und ein Schritt zur Gruft gemacht,

Also nähert sich die Zeit

Nach und nach der Ewigkeit,

Also müßen wir auf Erden

Zu dem Tode reifer werden.


Herr und Schöpfer aller Dinge,

Der du mir den Tag verliehn,

Höre, was ich thränend singe,

Las mich würdig niederknien:

Nimm das Abendopfer hin,

Das ich heute schuldig bin;

Denn es sind nicht schlechte Sünden,

Welche mich darzu verbinden.


Treuer Vater, deine Güte

Heißet überschwenglich groß,

Drum erquicke mein Gemüthe,

Sprich mich ledig, frey und los.

Gieb der Buße stets Gehör,

Denn dein Knecht verspricht nunmehr,

Dein Geseze, deinen Willen

Nach Vermögen zu erfüllen.


Das Verdienst der vielen Wunden,

Die mein Heiland scharf gefühlt,

Hat in seinen Todesstunden

Deine Zornglut abgekühlt.

Schweig, wenn dieses Lösegeld

Meiner Schuld die Waage hält,

Und beschicke mich im Schlafe

Durch kein Aufboth deiner Strafe.
[24]

Las mich an der Brust erwarmen,

Die am Creuze nackend hing;

Wiege mich in deßen Armen,

Der den Schächer noch umfing;

Stelle mir der Engel Chor

Als die beste Schildwacht vor!

Satan möchte sonst ein Schröcken

In der Finsternüß erwecken.


Schüze den, der meiner Liebe

An das Herz gebunden ist,

Daß kein Fall sein Ohr betrübe,

Das vielleicht den Seiger mißt.

Stärck ihm den betrübten Geist,

Wenn er bittre Salsen speist,

Und las noch in diesem Leben

Uns einander wiedergeben.


Trag das Alter meiner Eltern

Auf den Flügeln deiner Hut,

Tritt vor sie die Schwachheitskeltern;

Mehre derer Hab und Gut,

Die mir jemahls Guts gethan;

Nimm dich meiner Freundschaft an

Und verzeih den Lästerzungen,

Über die ich oft gesprungen.


Seegne die gerechten Wafen

Deiner werthen Christenheit,

Uns den Frieden herzuschafen,

Den der Feind zu stehlen dräut;

Halt den Schatten rechter Hand

Über unser Vaterland,

Daß die drey berühmten Plagen

Weder Vieh noch Völcker schlagen.


Gute Nacht, ihr eitlen Sorgen;

Ich begehre meiner Ruh.[25]

Jesus schließet bis auf morgen

Auge, Thür und Kammer zu.

Sanftes Lager, sey gegrüßt,

Weil du deßen Vorbild bist,

Das ich dermahleinst im Grabe

Sicher zu gewarthen habe.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 2, Leipzig 1931, S. 23-26.
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