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[101] Du willst in meiner Seele lesen

Und still mein bestes Teil empfahn;

So schau' mein unvergänglich Wesen

Im Spiegel meiner Lieder an.

Ich bin die Weise, die dich rühret,

Ich bin das Wort, das zu dir spricht,

Der Hauch, den deine Seele spüret,

Ich bin's – und dennoch bin ich's nicht.


Denn sieh, noch oft mit heißem Ringen

Durch Schuld und Trübsal irrt mein Gang,

Doch drüber zieht auf reinen Schwingen

Die ew'ge Sehnsucht als Gesang.

So stürmt der Bach in dunkeln Wogen

Zum Abgrund, drein er sich begräbt,

Indes der siebenfarb'ge Bogen

Verklärend überm Sturze schwebt.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 101.
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