Liebesleben

[131] Märchen dämmern herauf,

Reizende Märchen.


Kennst du die Sage?

Durchs Blau der Mondnacht

Wolkenvorüber

Rauscht der Greif.

Schwebend trägt er

Die Sultanskinder,

Trägt sie gebettet

Unter den mächtigen Schwingen

Über das Meer,

Ferne, ferne hinaus

Zu seligen Inseln.


Neide, Geliebte,

Neide sie nicht,

Die Sultanskinder!

Trägt nicht uns beide

Auf Greifenflügeln

Hoch hinauf

Der Geist der Dichtung?

Unten versinken

In silberner Dämmrung

Land und Meer,

Schwinden im Nebel

Schranken und Sorgen,

Wir aber ruhen

Unter dem weichgefiederten Fittich

Sicher gebettet,

Aug' in Auge,

Arm in Arm,

Einsam selig.


Märchen leben wir,

Reizende Märchen.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 131-132.
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