Märchen

[129] Schön Manar trat aus dem wilden Wald,

Sie trat in den prächtigsten Garten;

Da blühten die Rosen rot und weiß,

Und lustig sprangen die Wasser.


Und über den Rosen und Wassern stieg

Ein Schloß mit schimmernden Kuppeln,

Zwei Flügelpferde standen am Tor

Aus grünem Erz gegossen.


Schön Manar schritt in das Schloß hinein,

Empor die schweigenden Treppen;

Zwölf Harfen hingen im Pfeilergang,

Die Spinnen woben darüber.


Und als sie trat in den ersten Saal,

Da stand eine Tafel gerüstet

Und funkelnder Wein in lichtem Kristall,

Doch niemand kam, sich zu letzen.


Und als sie trat in das zweite Gemach,

Da lag auf seidenen Kissen

Das schönste Weib in goldnem Gelock,

Doch schlief sie bleiernen Schlummer.[129]


Und als sie trat in den dritten Saal,

Da saß bei verhangenen Fenstern

Im dämmernden Raum auf güldenem Stuhl

Ein schattenhafter König.


Sein Antlitz war nicht jung noch alt,

Sein Haar war unbeschoren;

Auf seinen blassen Zügen lag

Ein unergründliches Elend.


Schön Manar sprach voll Mitleid: »Herr,

O brüte nicht hier so düster!

Die Welt ist draußen voll Sonnenschein

Und voll von Rosen der Garten.


»Was gehst du nicht, am funkelnden Wein

Dein trauriges Herz zu erquicken?

Was weckst du die schlafende Jungfrau nicht

Mit Küssen zu Lust und Liebe?«


Der König hub zu ihr empor

Die gramerloschenen Augen;

Er schüttelte trüb das Haupt, doch kam

Kein Wort von seinen Lippen.


Er schlug den Purpurmantel zurück

Von seiner linken Seite,

Da war sie nicht Fleisch, da war sie nicht Bein,

Da war sie schwarzer Marmor – –

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 129-130.
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