Geschichte und Gegenwart

[180] Du, die im Wirrsal dieser Tage

Sich zur Prophetin Gott ersah,

Wie hoch und ernst mit deiner Wage,

Geschichte, stehst du vor mir da!

Sibylle, der vom keuschen Munde

Das Zeugenwort der Dinge tönt,

Die mit jahrtausendalter Kunde

Des jüngsten Morgens Leid versöhnt.


Wohl hast du ewig unbestochen,

Von Zorn und Liebe nie entflammt,

Den Sterblichen ihr Recht gesprochen,

Doch schmückt dich heut ein höher Amt.

Mit kühner Hand im Zeitenbuche

Aufblätternd, was von Anfang war,

Machst du mit priesterlichem Spruche

Das Weltgeheimnis offenbar.


Denn tief im Schutt bis an die Brüste,

Das Haupt von Flugsand überschneit,

Lag schweigend, wie die Sphinx der Wüste,

Dein Rätselbild, Vergangenheit.

Das Auge, das an Stirn und Falten

Nur hier und dort ein Zeichen las,

Verlor, vom Nächsten festgehalten,

Des Ganzen ungeheures Maß.[180]


Doch nun allmählich aus den Tiefen,

Die nimmermüder Fleiß durchgräbt,

Sich überdeckt mit Hieroglyphen

Des Riesenleibes Umriß hebt;

Nun in untrüglicher Gestaltung

Der Sprache Fußspur vielverzweigt

Uns der Geschlechter frühe Spaltung

Und ihren frühsten Bund uns zeigt:


Nun rollt vor dem betroffnen Blicke

In festgegliedertem Verlauf

Die Kette sich der Weltgeschicke

Wie ein vollendet Kunstwerk auf;

Nun sehn wir reifend durch die Zeiten,

Das Antlitz wandelnd Zug um Zug,

Des Gottes Offenbarung schreiten,

Die jeder gab, was sie ertrug.


Wohl lastet über weiten Räumen

Unsichrer Dämmrung trüber Flor,

Doch wächst in Bildern dort und Träumen

Die Sehnsucht nach dem Licht empor;

Wohl stürzt, was Macht und Kunst erschufen,

Wie für die Ewigkeit bestimmt;

Doch alle Trümmer werden Stufen,

Darauf die Menschheit weiter klimmt.


Und wie wir so aus Nacht zum Glanze

Den Wandel der Geschlechter sehn,

Erkennen wir – den Blick aufs Ganze –

Die Stätte da wir selber stehn;

Wir spüren, froh des hohen Waltens,

Das jeder Zeit ihr Ziel verliehn,

Den heil'gen Fortgang des Entfaltens

Im Tag auch, der uns heut erschien.


Und ob sich rings Gewitter türmen

In West und Ost um unsern Pfad,

Uns schwant, daß auch in diesen Stürmen

Ein gottgesandter Frühling naht;[181]

Und aus der Kräfte dunklem Gären

Umwittert uns geheimnisvoll

Der Hauch, der, was erstarb, verzehren,

Und, was da lebt, verjüngen soll.


Da schwillt, was immer uns betroffen,

Das Herz von mut'ger Werdelust,

Da füllt ein unvergänglich Hoffen

Zukünft'gen Heiles uns die Brust.

Zum Kern des Lebens wird der Glaube,

Von dem das Kleid der Formel fällt,

Und wir verehren tief im Staube

Den Gott im Tempelbau der Welt.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 180-182.
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