2.

[165] Im Walde lockt der wilde Tauber,

Am stillen See der Weißdorn blüht,

Da kommt der alte Frühlingszauber

Gewaltig über mein Gemüt.


Mir ist, als sollt' ich Flügel dehnen

Ins klarvertiefte Blau dahin;

Mein Auge schwillt von heißen Tränen,

Und doch in Freuden steht mein Sinn.


Geheimnisvolle Glut ergreift mich

Bei tiefer Nacht oft wunderbar,

Und wie mit süßer Ahnung streift mich

Im Traum ein flatternd Lockenhaar.


Und morgens dann in roter Frühe

Erwacht mein Herz so reich und froh,

Als wüßt' es, daß sein Glück schon blühe,

Und müßte nur noch raten, wo?

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 165.
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