An König Wilhelm

[240] Lübeck, den 13. September 1868.


Mit festlich tiefem Frühgeläute

Begrüßt dich bei des Morgens Strahl,

Begrüßt, o Herr, in Ehrfurcht heute

Dich unsre Stadt zum erstenmal;

Dem hohen Schirmvogt ihr Willkommen

Neidlosen Jubels bringt sie dar,

Die selbst in Zeiten längst verglommen

Des alten Nordbunds Fürstin war.


Das Banner, das in jenen Tagen

Den Schwestern all am Ostseestrand

Sie kühngemut vorangetragen,

Hoch flattert's nun in deiner Hand,

In deiner Hand, die auserkoren

Vom Herrn der Herrn, dem sie vertraut,

Das Heiligtum, das wir verloren,

Das deutsche Reich uns wieder baut.


Schon ragt bis zu des Maines Borden

Das Werk, darob dein Adler wacht,

Versammelnd alle Stämm' im Norden,

Die Riesenfeste deutscher Macht;

Und wie auch wir das Banner pflanzen,

Das dreifach prangt in Farbenglut,

Durchströmt uns im Gefühl des Ganzen

Verjüngte Kraft, erneuter Mut.[240]


Im engen Bett schlich unser Leben

Vereinzelt wie der Bach im Sand;

Da hast du uns, was not, gegeben,

Den Glauben an ein Vaterland.

Das schöne Recht, uns selbst zu achten,

Das uns des Auslands Hohn verschlang,

Hast du im Donner deiner Schlachten

Uns heimgekauft, o habe Dank!


Nun weht von Türmen, flaggt von Masten

Das deutsche Zeichen allgeehrt;

Von ihm geschirmt nun bringt die Lasten

Der Schiffer froh zum Heimatsherd.

Nun mag am harmlos rüst'gen Werke

Der Kunstfleiß schaffen unverzagt,

Denn Friedensbürgschaft ist die Stärke,

Daran kein Feind zu rühren wagt.


Drum Heil mit dir und deinem Throne!

Und flicht als grünes Eichenblatt

In deine Gold- und Lorbeerkrone

Den Segensgruß der alten Stadt.

Und sei's als letzter Wunsch gesprochen,

Daß noch dereinst dein Aug' es sieht,

Wie übers Reich ununterbrochen

Vom Fels zum Meer dein Adler zieht.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 240-241.
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