Morgenwanderung

[126] Wer recht in Freuden wandern will,

Der geh' der Sonn' entgegen;

Da ist der Wald so kirchenstill,

Kein Lüftchen mag sich regen;

Noch sind nicht die Lerchen wach,

Nur im hohen Gras der Bach

Singt leise den Morgensegen.[126]


Die ganze Welt ist wie ein Buch,

Darin uns aufgeschrieben

In bunten Zeilen manch ein Spruch,

Wie Gott uns treu geblieben;

Wald und Blumen nah und fern

Und der helle Morgenstern

Sind Zeugen von seinem Lieben.


Da zieht die Andacht wie ein Hauch

Durch alle Sinnen leise,

Da pocht ans Herz die Liebe auch

In ihrer stillen Weise,

Pocht und pocht, bis sich's erschließt,

Und die Lippe überfließt

Von lautem, jubelndem Preise.


Und plötzlich läßt die Nachtigall

Im Busch ihr Lied erklingen,

In Berg und Tal erwacht der Schall

Und will sich aufwärts schwingen,

Und der Morgenröte Schein

Stimmt in lichter Glut mit ein:

Laßt uns dem Herrn lobsingen.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 126-127.
Lizenz:
Kategorien: