O schöne Zeit

[135] O schöne Zeit, da mich noch jede Stunde

Zu einer frisch erschloßnen Blüte rief,

Da jeder Tag, ein goldner Freudenbrief,

Sich vor mir auftat mit beglückter Kunde;


Da, wie die Ros' in dunklem Alpengrunde,

Ihr liebes Bild mir blüht' im Herzen tief,

Und ich mit ihrem Namen sanft entschlief,

Als würd' er zum Gebet in meinem Munde!


Du bist dahin, und doch, du bist noch mein:

Es fließt das Lied von deinen Nachtigallen

Ein Frühlingsgruß in meinen Herbst herein.


Allabendlich, wenn Stadt und Flur verhallen,

Kehrt die Erinnrung tröstend bei mir ein,

Mit mir im Traume durch die Nacht zu wallen.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 135.
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