König Dichter

[32] Der Dichter steht mit dem Zauberstab

Auf wolkigem Bergesthrone

Und schaut auf Land und Meer hinab

Und blickt in jede Zone.[32]


Für seine Lieder nah und fern

Sucht er den Schmuck, den besten;

Mit ihren Schätzen dienen ihm gern

Der Osten und der Westen.


An goldnen Quellen läßt er kühn

Arabiens Palmen rauschen,

Läßt unter duft'gem Lindengrün

Die deutschen Veilchen lauschen.


Er winkt, da öffnet die Ros' in Glut

Des Kelches Heiligtume,

Und schimmernd grüßt aus blauer Flut

Den Mond die Lotosblume.


Er steigt hinab in den schwarzen Schacht,

Taucht in des Ozeans Wellen

Und sucht der roten Rubinen Pracht

Und bricht die Perlen, die hellen.


Er gibt dem Schwane Wort und Klang,

Er heißt die Nachtigall flöten,

Und prächtig weben in seinem Gesang

Sich Morgen- und Abendröten.


Er läßt das weite, unendliche Meer

In seine Lieder wogen,

Ja, Sonne, Mond und Sternenheer

Ruft er vom Himmelsbogen.


Und alles fügt sich ihm sogleich,

Will ihn als König grüßen;

Er aber legt sein ganzes Reich

Dem schönsten Kind zu Füßen.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 32-33.
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