10.

[38] Ich bin die Rose auf der Au,

Die still in Düften leuchtet;

Doch du, o Liebe, bist der Tau,

Der nährend sie befeuchtet.


Ich bin der dunkle Edelstein,

Aus tiefem Schacht gewühlet:

Du aber bist der Sonnenschein,

Darin er Farben spielet.


Ich bin der Becher von Kristall,

Aus dem der König trinket;

Du bist des Weines süßer Schwall,

Der purpurn ihn durchblinket.


Ich bin die trübe Wolkenwand,

Am Himmel aufgezogen;

Doch du bist klar auf mich gespannt

Als bunter Regenbogen.[38]


Ich bin der Memnon stumm und tot,

Von Wüstennacht bedecket;

Du hast den Klang als Morgenrot

In meiner Brust erwecket.


Ich bin der Mensch, der vielbewegt

Durchirrt das Tal der Mängel;

Du aber bist's, die stark mich trägt,

Ein lichter Gottesengel.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 38-39.
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