Meiden

[155] Es schleicht ein zehrend Feuer

Durch mein Gebein;

Mein Schatt' ist mir nicht treuer

Wie diese Pein.

Ich höre die Stunden ziehen

Trüben Gesichts;

Sie kommen, weilen, fliehen -

Und ändern nichts.


Der Sommer kommt gegangen,

Mir ist's wie Traum;

Am Busch Wildröslein hangen,

Ich acht' es kaum.

Es schlagen die Nachtigallen

In Wald und Plan,

Laß schallen, laß verhallen!

Was geht's mich an?


Ich fühle nur das eine

In meinem Sinn:

Daß ich von dir, du reine,

Geschieden bin.

Mein Schatt' ist mir nicht treuer

Wie diese Pein;

Und zehrend schleicht das Feuer

Durch mein Gebein.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 155.
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