Der Ritter vom Rheine

[56] Ich weiß einen Helden von seltener Art,

So stark und so zart, so stark und so zart;

Das ist die Blume der Ritterschaft,

Das ist der erste an Milde und Kraft,

So weit auf des Vaterlands Gauen

Die Sterne vom Himmel schauen.


Er kam zur Welt auf sonnigem Stein

Hoch über dem Rhein, hoch über dem Rhein;

Und wie er geboren, da jauchzt' überall

Im Lande Trompeten- und Paukenschall,

Da wehten von Burgen und Hügeln

Die Fahnen mit lustigen Flügeln.


In goldener Rüstung geht der Gesell,

Das funkelt so hell, das funkelt so hell!

Und ob ihm auch mancher zum Kampf sich gestellt,

Weiß keinen, den er nicht endlich gefällt;

Es sanken Fürsten und Pfaffen

Vor seinen feurigen Waffen.


Doch wo es ein Fest zu verherrlichen gilt,

Wie ist er so mild, wie ist er so mild!

Er naht, und die Augen der Gäste erglühn,

Und der Sänger greift in die Harfe kühn,

Und selbst die Mädchen im Kreise,

Sie küssen ihn heimlicherweise.[56]


O komm, du Blume der Ritterschaft,

Voll Milde und Kraft, voll Milde und Kraft!

Tritt ein in unsern vertraulichen Rund

Und wecke den träumenden Dichtermund

Und führ' uns beim Klange der Lieder

Die Freude vom Himmel hernieder!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 56-57.
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