O Jugendzeit

[71] O Jugendzeit, du grüner Wald,

Darin der Liebe Röslein blüht,

Wie ist dein Rauschen mir verhallt,

Verhallt im Ohr und im Gemüt![71]

Voll Liebeslust der frische Mut,

Der helle Blick, der kecke Sinn,

Das rasche, rote Dichterblut,

O sprich, o sprich, wo sind sie hin?


Es kamen Zeiten schwer wie Blei,

Der Zweifel schlich in diese Brust,

Der Traum der Neigung flog vorbei,

Und blasser wurden Licht und Lust;

Und wenn ich in die Zukunft schau,

Das ist nicht mehr das alte Gold;

Ich seh' ein trübes Nebelgrau,

Wie's herbstlich um die Berge rollt.


Und doch getrost! Die Blütenzeit,

Verweht hat sie des Windes Flucht,

Doch reift in tiefer Einsamkeit

Und unter Schmerzen reift die Frucht.

Die Sehnsucht laß ich nimmer los;

Sie wächst in kranker Brust und schwillt,

Wie in der dunkeln Muschel Schoß

Empor die lichte Perle quillt.


Drum klag' ich nicht, drum zag' ich nicht,

Sie halt' ich fest in Not und Pein,

Und wenn mein Herz im Kampfe bricht,

So muß die Sehnsucht Flügel sein.

Da schwingt sie kühn sich auf mit mir,

Daß hell wie Liedesgruß es schallt,

Und schwebt und trägt mich heim zu dir,

O Jugendzeit, du grüner Wald!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 71-72.
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