Schlaflosigkeit

[74] Wenn ich in den Knabenjahren

Abends hinsank auf mein Bette,

O wie war die Rast mir lieblich!

Schon nach wenig Atemzügen

Lösten sich von selbst die Wimpern,[74]

Und des Schlafes Wellen spülten

Um die Brust mir leicht und linde,

Und der Traum mit Elfenhänden

Nahm mir von der jungen Seele

Allen kleinen Harm des Tages.


Aber jetzt wie ward es anders!

Such' ich mitternachts mein Lager

Mit herabgebrannter Kerze,

Bleibt der süße Schlaf mir ferne;

Denn die Sehnsucht ruckt am Kissen,

Und es lasten die Gedanken

Auf mir wie ein böser Alpdruck,

Und mit Rabenflügeln schwirren

Um mein Haupt die schlimmen Sorgen.


Stundenlang mit heißem Auge

Starr' ich dann hinaus ins Dunkel,

Bis zuletzt die matte Seele

Sich verliert in dumpfen Träumen.


Ach, was gäb' ich drum, ihr Freunde,

Könnt' ich nur noch einmal wieder,

Einmal wie ein Jüngling weinen,

Einmal schlafen wie ein Knabe!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 74-75.
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