Sehnsucht

[85] Ich blick' in mein Herz, und ich blick' in die Welt,

Bis vom Auge die brennende Träne mir fällt;

Wohl leuchtet die Ferne mit goldenem Licht,

Doch hält mich der Nord, ich erreiche sie nicht.

O die Schranken so eng, und die Welt so weit,

Und so flüchtig die Zeit!


Ich weiß ein Land, wo aus sonnigem Grün,

Um versunkene Tempel die Trauben glühn,[85]

Wo die purpurne Woge das Ufer beschäumt,

Und von kommenden Sängern der Lorbeer träumt.

Fern lockt es und winkt dem verlangenden Sinn,

Und ich kann nicht hin!


O hätt' ich Flügel, durchs Blau der Luft

Wie wollt' ich baden im Sonnenduft!

Doch umsonst! Und Stund' auf Stunde entflieht -

Vertraure die Jugend, begrabe das Lied! -

O die Schranken so eng, und die Welt so weit,

Und so flüchtig die Zeit!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 85-86.
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