Verlorene Liebe

[69] Und fragst du mich mit vorwurfsvollem Blick:

Warum so trübe? Welch ein Mißgeschick

Vermag der Seele Frieden dir zu stören? -

Wohlan! Es sei! Die nächt'ge Stund' ist gut,

Im Becher glüht der Traube dunkles Blut -

Von meiner Jugendliebe sollst du hören.


Ich war ein Knab', wie andre Knaben sind,

Halb trotzig-heißer Jüngling, halb noch Kind,

Zu scheu, des Lebens Rätsel zu entsiegeln;

Mein junges Herz war voll und sehnsuchtsschwer,

Es wußte kaum, weshalb - es glich dem Meer,

Das still des Mondes harrt, ihn abzuspiegeln.


Da fand ich sie, das blonde Kind der Flur,

Und zwiegeschaffen fühlten wir uns nur,

Uns neu zu einen wie in Edens Räumen;

Blau war ihr Auge wie die Sommernacht;

Und diese Lippen! - Wem sie nur gelacht,

Der mußt' hinfort von heißen Küssen träumen.


Wohl blüht' uns damals eine schöne Zeit,

Als wir in dunkler Waldeseinsamkeit

Das Reh belauschten und der Knospen Schwellen,

Als wir im Kahne - Dämmrung rings umher -

Uns wiegten auf dem abendstillen Meer,

Vom Spätrot nur gesehn und von den Wellen;[69]


Als wir auf mondbeleuchtetem Balkon

Zweistimmig sangen zu der Laute Ton,

Als wir uns heimlich flüsternd dann umfingen,

Und Aug' in Auge seligen Erguß

Herniedertaute, und im ersten Kuß

Die Seelen brennend aneinanderhingen.


O wär' ich bei des ersten Kusses Tausch

Damals gestorben in beglücktem Rausch,

Aus weichen Armen in die Gruft getrieben!

Ich wäre jetzt kein Greis mit braunem Haar,

Frisch außen, innen Leiche. - O fürwahr,

Es stirbt als Knabe, wen die Götter lieben.


Nun mußt' ich sie verlieren. An den Mann

Ist sie gebannt, den sie nicht lieben kann,

Dem ihre ersten Küsse nicht zu eigen.

Er führte lächelnd zum Altar sie fort;

Sie wurde bleich, der Priester sprach das Wort,

Ich aber stand dabei und mußte schweigen.


Und denk' ich dran, so kocht im Grimm mein Herz,

Und wie ein kaltes Eisen fährt der Schmerz

Mir durch die Brust, und jeder Trost versaget.

Darum bin ich so trüb, darum so wild.

Doch nun hinweg damit! - Das Glas gefüllt!

Beim Weine will ich schwärmen, bis es taget.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 69-70.
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