Abschied von Sankt Goar

[312] (In Freiligraths Album.)


Wie flog im Land des Rheines

So rasch die Sommerszeit!

Schon dunkelt blauen Scheines

Die Traube weit und breit;

Es färbt das Laub sich gelber,

Der Kranich zieht dahin;

Mit zieh' ich, weil ich selber

Ein Wandervogel bin.


Fahr wohl, von Walnußbäumen

Umrauscht, mein Sankt Goar!

Das war ein süßes Träumen

In deinem Schoß fürwahr.

Wie oft im Tal der Grindel

Ward mir die Lust Gesang,

Wenn die kristallne Spindel

Der Wasserfei erklang![312]


Fahr wohl, du Lei der Lore

An wilder Strudel Schwall!

Noch tönt in meinem Ohre

Gedämpft dein Klagehall;

Er rief mir tief im Sinne

Die düstre Sage wach

Vom Herzen, das die Minne

Mit ihrer Falschheit brach.


Ihr Türm' und Burgen droben,

Ich grüß' euch tausendmal;

Von eurem Grün umwoben

Wie schaut' ich gern zu Tal!

Ich sah mit trunknem Geiste

Die Sonne dort verglühn,

Und mein Gedanke kreiste

Wie euer Falk so kühn.


Fahrt wohl, ihr sonnigen Weiler,

Mein Bacharach so traut,

Wo um Sankt Werners Pfeiler

Voll Glanz der Himmel blaut;

Und Kaub voll rosiger Dirnen

Und Wesel grün von Wein;

Ich denk' an euern Firnen

Fürwahr noch weit vom Rhein.


Und du fahr wohl, mein Dichter,

Du Mann so jugendgrün,

Und mag dir immer lichter

Das Herz von Liedern blühn!

Wohl sänge dir Besseres gerne,

Der dieses sang und schrieb;

Doch sei's – und halt auch ferne

Wie hier am Rhein ihn lieb!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 312-313.
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