Trinklied der Alten

[227] O wohl trüb ist die Zeit, wo der frostige Gast,

Wo mit knöchernem Arme das Alter uns faßt,

Und die feurige Lust, die noch jüngst uns beseelt,

Wie ein Märchen uns deucht, das am Herd man erzählt.

Doch der Wein bringet wieder,

Was zu rasch uns entfloh,

Bringt Erinnrung und Lieder -

Altes Herz, altes Herz, und was glühest du so!


Grün waren die Lauben, und sonnig die Stund',

Da mein Mädchen ich küßt' auf den frischroten Mund,

Da nicht Süßres ich wußt' als ihr Auge so blau -

Ach, der Herbst kommt zum Wald, und die Locke wird grau.

Doch der Wein bringet wieder,

Was zu rasch uns entfloh,

Bringt Jugend und Lieder -

Altes Herz, altes Herz, und was glühest du so!


Keine Träne, Herzbruder! Wir schaun von den Höhn

Nach der sinkenden Sonn', und verglüht sie nicht schön?

Heil uns, daß uns ward, was der Frühling nur gibt!

Diesen Becher der Liebe, die einst wir geliebt!

Denn der Wein bringet wieder,

Was zu rasch uns entfloh,

Bringt Lieb' uns und Lieder -

Altes Herz, altes Herz, und was glühest du so!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 227.
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