6. Deutsch

[240] Mag auch heiß das Scheiden brennen,

Treuer Mut hat Trost und Licht;

Mag auch Hand von Hand sich trennen,

Liebe läßt von Liebe nicht.

Keine Ferne darf uns kränken,

Denn uns hält ein treu Gedenken.


Ist kein Wasser so ohn' Ende,

Noch so schmal ein Felsensteg,

Daß nicht rechte Sehnsucht fände

Drüberhin den sichern Weg.

Keine Ferne darf uns kränken,

Denn uns hält ein treu Gedenken.


Über Berg' und tiefe Tale,

Mit den Wolken, mit dem Wind,

Täglich, stündlich tausend Male

Grüß' ich dich, geliebtes Kind.

Keine Ferne darf uns kränken,

Denn uns hält ein treu Gedenken.


Und die Wind' und Wolken tragen

Her zu mir die Liebe dein,

Die Gedanken, die da sagen:

Ich bin dein und du bist mein!

Keine Ferne darf uns kränken,

Denn uns hält ein treu Gedenken.


Überall, wohin ich schreite,

Spür' ich, wie unsichtbarlich

Dein Gebet mir zieht zur Seite

Und die Flügel schlägt um mich.

Keine Ferne darf uns kränken,

Denn uns hält ein treu Gedenken.


Und so bin ich froh und stille,

Muß ich noch so ferne gehn;[241]

Jeder Schritt - ist's Gottes Wille -

Ist ein Schritt zum Wiedersehn.

Keine Ferne darf uns kränken,

Denn uns hält ein treu Gedenken.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 240-242.
Lizenz:
Kategorien: