An den Genius

[255] Während einer Krankheit.


Du Genius, der von ew'gem Herd

Mein Wesen all gesetzt in Flammen,

O halte diesen Leib zusammen,

Bis ich ein Werk schuf deiner wert;

Dann mag in Erde, Luft und Wellen

Der Staub dem Staube sich gesellen,

Ein Tropfen, der zum Meere kehrt.


Du legtest tief in diese Brust

Die Sehnsucht, Gott und Welt zu schauen,

Dem Lied es selig zu vertrauen

Mit Wort und Klang, was mir bewußt;

O laß mich fahren nicht von hinnen,

Bis einmal ich mit reinen Sinnen

Gekostet der Erfüllung Lust.


Mir schläft im Herzen noch so viel;

O bin ich einer der Erkornen:

Erbarme dich des Ungebornen,

Gib Leben, Leben, bis ans Ziel!

Daß ich dort unten Ruhe finde,

Und Trostes voll der Kranz sich winde

Um mein verstummend Saitenspiel.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 255.
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