Ostermorgen

[299] Die Lerche stieg am Ostermorgen

Empor ins klarste Luftgebiet

Und schmettert', hoch im Blau verborgen,

Ein freudig Auferstehungslied,

Und wie sie schmetterte, da klangen

Es tausend Stimmen nach im Feld:

Wach auf, das Alte ist vergangen,

Wach auf, du froh verjüngte Welt!


Wacht auf und rauscht durchs Tal, ihr Bronnen,

Und lobt den Herrn mit frohem Schall!

Wacht auf im Frühlingsglanz der Sonnen,

Ihr grünen Halm' und Läuber all![299]

Ihr Veilchen in den Waldesgründen,

Ihr Primeln weiß, ihr Blüten rot,

Ihr sollt es alle mit verkünden:

Die Lieb' ist stärker als der Tod.


Wacht auf, ihr trägen Menschenherzen,

Die ihr im Winterschlafe säumt,

In dumpfen Lüsten, dumpfen Schmerzen

Ein gottentfremdet Dasein träumt.

Die Kraft des Herrn weht durch die Lande

Wie Jugendhauch, o laßt sie ein!

Zerreißt wie Simson eure Bande,

Und wie der Adler sollt ihr sein.


Wacht auf, ihr Geister, deren Sehnen

Gebrochen an den Gräbern steht,

Ihr trüben Augen, die vor Tränen

Ihr nicht des Frühlings Blüten seht,

Ihr Grübler, die ihr fern verloren

Traumwandelnd irrt auf wüster Bahn,

Wacht auf! Die Welt ist neugeboren,

Hier ist ein Wunder, nehmt es an!


Ihr sollt euch all des Heiles freuen,

Das über euch ergossen ward!

Es ist ein inniges Erneuen

Im Bild des Frühlings offenbart.

Was dürr war, grünt im Wehn der Lüfte,

Jung wird das Alte fern und nah,

Der Odem Gottes sprengt die Grüfte –

Wacht auf! der Ostertag ist da.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 299-300.
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