Vom Beten

[29] Du sagst, du magst nicht beten, denn es sei

Doch alles vorbestimmt. – Wie? Ist dein Gott

Denn schon gestorben, seine heil'ge Vorsicht

Ein bloßes Uhrwerk, das an Fäden schnurrt,

Der tote Nachlaß eines großen Künstlers?

Ist er nicht heut noch da und webt und schafft

Am nimmer fert'gen Werk? Gibt dieser Duft

Von jungen Rosen, der durchs Fenster quillt,

Nicht holde Bürgschaft seiner Gegenwart,

Und daß er lebt und liebt? Und wenn er lebt,

Wie hätt' er Macht nicht, auch dein Herzensflehn,[29]

In seines Rates Schluß mit aufzunehmen,

So wie der Dunstkreis deinen Hauch empfängt,

Und dann Erhörung über dich zu regnen?

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 29-30.
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