Abschied von Lindau

[79] Herbst 1854.


Valet muß ich dir geben,

Du alte Lindenstadt;

Schon glüht an deinen Reben

Wie Purpur Blatt um Blatt;

Schon stiebt es von den Wipfeln,

Und dunkler treibt der See,

Und auf der Berge Gipfeln

Erglänzt der erste Schnee.


Du bist mir hold gewesen;

So nimm des Gastes Dank,

Der hoffnungsvoll Genesen

Aus deinen Lüften trank,

Den nach verjährter Plage

Am grünen Flutenring

Durchsonnter Frühherbsttage

Beglückte Rast umfing.


Da lernt' ich fromm aufs neue

Die Stimmen all verstehn,

Die durch des Himmels Bläue

Im Zug des Windes gehn;

Was in den Wellen schauert,

Was in des Waldes Grund

Sehnsüchtig glänzt und trauert,

Noch einmal ward's mir kund.


Ich sah, wenn längst versunken

In Schwarz der Täler Grün,

Am Schneehorn purpurtrunken

Ein heiß Erinnern glühn;

Wo grimm durch Klippenbogen

Der Gießbach Bahn sich schuf,

Erscholl mir's aus den Wogen

Wie trotz'ger Jubelruf.


Und wie im segelhellen,

Besonnten Griechenschiff[80]

Mich einst auf blauen Wellen

Das Lied Homers ergriff,

Sprach hier in dunklen Zungen

Aus Felsgeklüft und Tann

Der Geist der Nibelungen

Geheimnisvoll mich an.


Versenkt in tiefes Lauschen

Oft saß ich bis zur Nacht;

Da kam's wie Adlersrauschen

Auf mich herab mit Macht;

Durch meinen Busen zückte

Verwandter Drang und Klang,

Und was mich hob und drückte,

Ward flutender Gesang.


O stillvertiefte Stunden,

Labsal der Sängerbrust,

Wohl seid ihr hingeschwunden

Rasch mit des Sommers Lust.

Doch wallt das Herz lebendig

Mir auf nach eurer Ruh',

Und frohgekräftigt wend' ich

Der Heimat heut mich zu.


Dort winkt mir nach der Muße

Manch liebgewordne Pflicht;

Es winkt mit hohem Gruße

Des Herrschers Angesicht,

Der, jedem Flügelschlage

Des deutschen Geistes hold,

Der Hoffnung künft'ger Tage

Ein licht Panier entrollt.


Die Kunst in Laub und Blume

Umwob des Vaters Thron;

Nun ringt mit solchem Ruhme

Gedankenvoll der Sohn.[81]

Den Ernst der Weisheitschule

Gesellt er jenem Flor

Und neigt vom Königstuhle

Dem deutschen Lied sein Ohr.


Wohl mag ich treu ihm danken,

Der für den Wanderstab

Mir frommen Wirkens Schranken,

Mir Herd und Heimat gab,

Und, weil er selbst tiefinnen

Die heil'ge Flamme nährt,

Mit fürstlich hohen Sinnen

Des Dichters Freiheit ehrt.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 79-82.
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