Gesang des Priesters

[95] Der du einst in freier Liebe

Dich in unsern Staub gebannt,

Unsrer Brust verworrne Triebe,

Ach, und all ihr Leid erkannt;

Der du selbst in jenen Tagen

Schmecktest der Versuchung Pein,

Denen, die im Kampf erlagen,

Reiner, kannst du gnädig sein.


Ach, du weißt, in Sehnsucht schweifen

Tausend Geister weit und breit;

Doch, vom Schein betört, ergreifen

Für das Wesen sie das Kleid.

Was nur geistlich mag gelingen,

Was nur göttlich kann erstehn,

Wollen sie im Fleisch vollbringen –

Sollen sie verloren gehn?


Die da suchen ohne Steuer

Heimwehbang ein Ruhgestad',

Die ein irres Liebesfeuer

Hintreibt auf der Sinne Pfad,

Die im Dämmer tauber Schachten

Graben nach der Wahrheit Licht,

Alle, die nach Freiheit schmachten,

Meinen dich und wissen's nicht.


O, beim Worte, das die Rächer

Von der Sünderin verwies,

Bei der Milde, die dem Schächer

Noch am Kreuz das Heil verhieß,

Bei dem Glanz, der himmlisch blendend

Um Damaskus' Weg geflammt

Und, den Sinn des Eifrers wendend,

Ihn gesalbt zum Botenamt:[95]


Zeuch, o Herr, die durst'gen Seelen,

Die in dunkler Trostbegier

Im Vergänglichen sich quälen,

Zeuch sie liebend all zu dir!

Statt der Schale, dran sie kleben,

Laß sie schaun der Dinge Kern,

Steig in ihrem dunkeln Leben,

Steig empor als Morgenstern![96]

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 95-97.
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