Das Mädchen vom Don

[310] Mein Freund Gregor, mit dem ich manchen Tag

Verschwärmt einst zu Athen, wo damals er,

Der nordischen Gesandtschaft zugesellt,

Bei müß'ger Zeit mit mir die Alten las,

Besuchte letzten Herbst, da südwärts schon

Die Schwalben wanderten, mich unverhofft

Im stillgewordnen Bad am Ostseestrand.

Ein sehnlich Ruhbedürfnis hatt' auch ihn

Dorthin geführt, und bei verwandter Stimmung

Und gleichem Freimut fiel es uns nicht schwer,

Das alte Bündnis zu erneun. Wir sahn

Beim ersten Gruß, daß fünfundzwanzig Jahr'

Uns nicht verwandelt hatten, nur gereift,

Und bald in trautem Austausch, wie vordem,

Verplauderten wir wieder Tag für Tag

Des Abends Neige, nun der Gegenwart

Streitfragen prüfend, nun ins Zauberland

Erinnrungsreicher Jugendtage schwärmend.[310]

In solcher Stunde – während überm Meer

Der Vollmond aufstieg und die Brandung fern

Herübergrollte – lenkt' er das Gespräch

Einst auf ein Mädchen, das er zu Athen

Gekannt, und das auch mir begegnet war,

Wiewohl nur flüchtig. Doch es zählt ihr Bild

Zu jenen, deren Reiz man schwer vergißt,

Sah man sie einmal nur. Nicht ungerührt

Vernahm ich drum ihr wechselvoll Geschick,

Und wie's der Freund erzählt, erzähl' ich's nach.


Sie war die Nicht' im Hause. Früh verwaist

Und arm an Gut nur, wuchs sie bei den reichen

Verwandten auf, des Oheims Liebling zwar,

Allein der stolzen Bas' im Aug' ein Dorn;

Denn sie war schön gleich ihr, fremdart'ger nur

In ihrem Reiz, der an die Märchenwelt

Hochasiens mahnte. Schlug die Wimpern sie

Des mandelförm'gen Auges plötzlich auf,

So war's wie Blitz; man dacht' an Turandot.

Zum Rätsel wölbten sich die feinen Braun,

Und wenn sie's losband, floß ihr blauschwarz Haar

Bis zu den Knöcheln. Gerne sah's der Ohm

Und hieß sein artig Nixlein sie vom Don;

Doch wenn er gütig war und sie mit Schmuck

Behängt' und prächt'gen Stoffen, peinigte

Die Base sie mit Launen, ließ von ihr,

War die leibeigne Zofe nicht zur Hand,

Das Haar sich strählen und den Ballstaat rüsten

Und schmollt' und schalt um jeden kleinen Fehl.

So wuchs sie auf geliebkost und gequält,

Prinzeß in der Gesellschaft, Aschenbrödel

Am eignen Herd. Doch trug sie Glanz und Druck

Mit gleicher Spannkraft, wie zur Frühlingszeit

Die herbe Knospe Sonn' und Regenguß

Erträgt und fortschwillt. Niemals fand ich sie

Verstimmt noch müde; nur verschloß sie sich,

Wie sie vom Kind zur Jungfrau leis erwuchs,[311]

Gemach in Schweigen, flüchtig Lächeln ward

Ihr silberhelles Lachen, feuchtern Glanz

Gewann ihr Aug', und wenn sie, spät noch wach,

Am Flügel träumte, wühlten ihre Hände,

Anstatt in muntern Weisen wie vordem,

In Chopins dunkeln Zaubermelodien.


So stand's, als ich nach Mittag einst im Herbst,

Da Bas' und Oheim auf Besuch zur Stadt,

Von unserm Sommerlandsitz am Kephiß –

Mit ihr hinausritt. Auf den Feldern rings

Lag silbernes Gespinst, das Purpurlaub

Der Rebenhänge brannt' im Sonnenschein,

Und vom Gebirg' her durch die Pinien zog

Der Wellenschlag der himmlisch reinen Luft.

Entzückt aufatmend lachte sie mich an

Und hob den Zaum und gab dem Roß die Gerte,

Und sausend flogen wir dahin am Wald

Und übers Blachfeld, wo der Heidegrund,

Elastisch, Flügel unsern Rennern lieh,

Dem alten Kloster zu, das halb zerstört,

Von Schwalben nur bewohnt und wilden Tauben,

Im wald'gen Kessel lag. Zum Reden gab

Der hast'ge Ritt nicht Zeit, doch trunken hing

Mein Blick am Bild der schönen Reiterin,

Wie sie in ihres Stamms entfesselter

Nomadenlust den biegsam schlanken Leib

Im Sattel wiegt' und jauchzt' und wilder stets,

Den Schleier hoch im Wind, vorauf mir flog,

Bis wir die Schlucht erreicht. Doch als ich dort

Absaß und langsam nun hinab am Zaum

Ihr türkisch Grauroß führte durchs Geröll,

Da hub sie plötzlich an: »Nicht wahr, Gregor?

Ihr meint es gut mit mir, ich darf Euch traun,

Und schweigen könnt Ihr auch?« –

»Gewiß.« –

»Ich bin

So gar allein. Der Ohm ist sechzig bald[312]

Und mit Geschäften ewig überhäuft,

Die Bas' ein Gletscher. Schwestern hab' ich nicht,

Auch keinen Freund, Gregor, wenn Ihr's nicht seid,

Und jemand muß ich's sagen, wenn ich nicht

Ersticken soll an meinem Glück.« –

»Marie!

Um Gott, Ihr liebt? Denn so spricht Liebe nur.«

Sie schlug die seidnen Wimpern langsam auf

Und nickte nur und glühte. Vor uns lag

Des Klosters Pforte jetzt, umrankt mit Wein,

Von riesigen Platanen überwölbt.

»Helft mir vom Pferde,« sprach sie, »dort im Grün

Sag' ich Euch mehr.« Und bald auf mächt'gem Block,

Den Jahr um Jahr mit goldnem Samt gepolstert,

Mir gegenüber saß sie, Gert' und Hut

Im Schoß nachlässig, und indes umher

Die Rosse grasten und des Taubers Gurren

Vom Wipfel scholl, erzählte sie:

»Ich kannt' ihn

Aus meiner Kindheit her, da ich am Don

Noch bei der Mutter wohnt' auf unserm Gut.

Er war des Priesters Sohn und mein Genoß

In Lehr' und Spiel, in allem mir voraus,

Doch freundlich stets zu mir, obwohl die Knaben

Im Dorf ihn fürchteten; denn er bezwang

Die Stärksten selbst. Im Winter, wenn der Schnee

Um Mittag knisternd blinkte, fuhr er mich

Im leichten Schlitten windschnell durch den Park

Und schnallt' auf festgefrornem Teich die Eisen

Mir an zum Lauf, und jauchzend saust' ich dann

An seiner Hand die blanke Fläch' entlang.

Zu Neujahr bracht' er Heil'genbilder mir,

Geweiht vom Bischof, und am Osterfest

Die schönsten Eier stets mit Kreuz und Lamm.

Doch wenn's in Wald und Garten Frühling ward,

Und grün die Steppe wie ein wellig Meer

Sich dehnte, ging die rechte Lust erst an;

Wir haschten Falter, sonnten uns im Gras[313]

Und sahn im Blau die wilden Schwäne ziehn.

Verzauberte Prinzessen nannt' er sie,

Und wundervolle Märchen wußt' er dann

Mir zu erzählen, daß ich atemlos

Ihm lauscht' und satt nicht ward. Auch half er mir

Im Garten bei den Blumen gern und pflanzte

Ins Mohnbeet kunstreich meinen Namenszug,

Ein blühend M in Purpurrot und Blau.

Und wenn ins Feld wir schweiften, lehrt' er mich

Des Finken Lockruf und den Drosselschlag

Und zeigte mir der Wachtel Nest im Korn.

Sein Mantel ward im Forst mein Sitz, sein Arm

Trug durchs beschilfte Ried mich, daß ich nicht

Die feinen Stiefel netzte, kurz, er wußte

Mir stets zu dienen, ohne daß ich bat.

Und fiel mir etwas schwer, so sprach er nur

Mit klarer Knabenstimme: ›Laß doch mich!‹

Und was ich wünschte, war im Nu getan.

Ich aber nahm das alles hin, als könnt' es

Nicht anders sein und dankt' ihm kaum dafür.


Da starb die Mutter, sieben Jahre sind's,

Und unter Tränen zog ich fort und kam

Hieher zum Oheim. Doch, wie Kinder sind,

Vom Reiz des Neuen leicht zerstreut und ganz

Erfüllt vom Gegenwärt'gen, lebt' ich bald

Im kleinen Glück und Leid des Tages wieder,

Und blaß im Nebel hinter mir verschwamm,

Was früher war. Der Mutter Bild allein

Blieb hell in mir. An Boris dacht' ich kaum;

Nur manchmal träumt' ich noch von ihm, doch kam's

Nicht oft und wie ein Wetterleuchten bloß,

Das aufzuckt und verschwindet ohne Spur.

Da hört' ich plötzlich, vor'gen Winter war's

Um Faschingszeit, er dien' im Heere jetzt

Und sei als Stabskurier mit eil'ger Botschaft

Hieher entsandt. Ich freute, wie ein Kind,

Mich auf das Wiedersehn, doch hatte dran[314]

Die Neugier mit der Freundschaft gleichen Teil,

Vielleicht im stillen auch die Lust, mich ihm

Im vollen Schmuck zu zeigen, die er nur,

Ein unreif Ding, in ländlich schlichter Tracht

Bisher gesehn; was weiß ich's heut? – Genug,

Er kam, wir hatten Ball, und er war da.


Ich hätt' ihn kaum erkannt, so schlank und hoch,

So männlich stand er da im schimmernden

Ulanenkleid, gebräunt vom Sonnenstrahl

Des Kaukasus; doch harrt' ich lang umsonst.

Er schien mich nicht zu sehn, und als er endlich

Herantrat, zaudernd, war's, als läg' auf ihm

Ein fremder Zwang, der, wie er steif mich grüßte,

Auch mich befing. Wir sprachen dies und das

Von heut und gestern, wie's Gesellschaftsbrauch,

Und suchten selbst zu scherzen, doch wir fanden

Den alten Ton nicht mehr. Auch als er drauf

Zum Tanz mich führte, blieb er stumm und herb;

In sich versunken, statt mir ins Gesicht

Zu blicken, starrt' er in den Glanz der Kerzen,

Und wenn vom Strome der Musik gewiegt

Im raschen Takt wir durch die Reihen flogen,

Eiskalt in meiner fühlt' ich seine Hand.

Fast war ich froh, als Geig' und Flöte schwieg

Und mich die Bas' entsandte, frische Sträußer

Beim Gärtner zu bestellen. Draußen erst

Besann ich mich, daß er mit keinem Wort

Der alten, frohen Zeit am Don gedacht,

Und grollt' auf ihn, und fremdzutun gleich ihm

Entschlossen war ich, als ich wiederkam.


Da, wie ich rasch empor die Treppe sprang,

Riß mir das Band am Schuh. Ich schlüpfte sacht

Ins Seitenzimmer, dort den Fehl zu bessern,

Doch eingeschnürt in Seiden, wie ich war,

Behängt mit Schmuck und Spitzen, müht' ich mich

Vergebens ab, und hülflos brach ich fast

In Tränen aus. Da schreckt' ein leicht Geräusch[315]

Mich jählings auf, und – er war neben mir.

›Marie Paulowna‹, sprach er, ›laßt doch mich!‹

Und eh' ich's weigern konnte, kniet' er schon

Und hatt' es rasch beschickt. Ich stand verwirrt,

Umsonst ein scherzend Wort des Danks noch suchend,

Da fühlt' ich plötzlich, daß ein heißer Kuß

Den Fuß mir sengte; wie ein Feuerstrom

Schoß mir's ans Herz, und zürnend wollt' ich fliehn;

Doch konnt' ich's nicht; denn als er sprachlos jetzt,

Bleich vor Erregung, nur mit stummem Flehn

Das Auge zu mir aufschlug, las ich drin

Das glühendste Geständnis, wie's kein Wort

Je fassen mag, und überwältigend

Durch meine Blindheit brach's wie Sonnenlicht.

Nun wußt' ich plötzlich, daß er mich geliebt

Von Jugend auf, daß all sein Frost vorhin

Ein Kampf nur war, die tiefe Glut zu bergen,

Und daß nun ein glückselig Ungefähr

Zusammen uns geführt auf immerdar.

Ein Wonnetaumel fiel mich an, ein Rausch,

Und lachend, jauchzend, weinend, wie ein Kind,

Lag ich an seiner Brust, bis die Musik

Uns enden hieß, die zur Mazurka rief.

Wie anders schwebt' ich jetzt an seinem Arm

Durchs Lichtermeer des Saals, das Herz geschwellt

Vom seligsten Triumph! Wie anders strömt'

Ihm jetzt das Wort, und was das Wort nicht sprach,

Das sprach der Blick, der warme Druck der Hand.

Ein Glück nur, daß die Base, dicht umdrängt

Vom Kreis des Hofes, mein nicht achtete.

Sie hätte sonst mein strahlend Glück gesehn

Und rasch vernichtet. Ach – Ihr kennt sie ja,

Die keinen Willen duldet neben ihrem,

Und kennt den Zwang, dem ich mich fügen muß.


Drei Tage blieb er, und wir sahn uns viel,

Im Saal vor aller Welt und insgeheim

Im Garten, wo die Veilchen dufteten,[316]

Wenn tief im Blau des Halbmonds Sichel schwamm.

In solcher Frühlingsnacht auch, Lieb' und Treu'

Auf ewig uns gelobend, schieden wir

In bittern Schmerzen. Aber größer war

Das Glück, das er zurück mir ließ. Und heut –

Das ist's, Gregor, was mich nicht schweigen ließ –

Heut schreibt er mir, daß er am Kaukasus

Beim Lagersturm die erste Schanze nahm.

Zwei Jahre noch, so wird er Oberst sein

Und holt mich heim. Was sind zwei Jahre denn,

Wenn man so jung noch ist, Gregor, wie ich,

Und liebt!«

Sie schwieg, und wie sie jetzt den Blick

Glückstrahlend zu mir aufschlug, Stirn und Haar

Vom letzten Abendgoldlicht überströmt,

Das durch die Zweige brach, erschien sie mir

Verklärt fast, wie das Bild der Hoffnung selbst.

Mit treuem Handschlag dankt' ich ihr und hub

Sie ehrerbietig dann aufs Grauroß wieder,

Die nun als Braut vor meiner Seele stand.

Und durch die Felder, drauf im Dämmerschein

Noch sommerlich wie leiser Geigenton

Das Nachtlied der Zikaden schwebte, ritten

Wir beide still und voll Gedanken heim.


Am nächsten Morgen war der Ohm zurück,

Und alles ging im alten Gleis. Marie

Blieb still und heiter nach wie vor. Wir sahn

Uns kaum allein, und nur ein Blick bisweilen,

Ein rasch geflüstert Wort gemahnte mich

An ihr Geheimnis. So verging der Herbst.

Man zog zur Stadt, und bald darauf entführte

Ein wicht'ger Auftrag mich nach Petersburg,

Der Wochen lang mich dort gefesselt hielt.


Erst gegen Weihnacht kam ich heim. Ich fand,

Als ich sofort mich vorzustellen ging,

Das Haus im Festschmuck, Pforten und Gesims

Bekränzt mit Wintergrün, die Dienerschaft[317]

Im reichen goldbetreßten Galakleid,

Das Vorgemach voll Weihrauchduft. »Was gibt's?«

Frug ich den Pförtner –

»Je, so wißt Ihr's nicht?

Marie Paulowna hält Verlobung heut.« –


»Marie Paulowna, sagst du?« –

»Ja, wer sonst!

Die Nichte unsres Herrn –«

»Verlobt mit wem?

Sag' an!« –

»Ei nun, sie darf zufrieden sein.

Der alte Staatsrat führt sie heim, Ihr wißt,

Der reiche Hinkfuß aus der Krim, der stets

Vierspännig fährt. An dreizehntausend Seelen

Bringt er ihr zu. Beliebt nur einzutreten!

Die Feier ist vorüber, und Ihr kommt

Zum Glückwunsch eben recht.«

Ich starrt' ihn an

Als wie vom Blitz betäubt, doch faßt' ich mich

Und schritt hinauf. Im Saale brannten schon

Die hohen Kerzen, und es wogte rings

Ein Schwarm von Gästen summend durcheinander.

Da trat die Wirtin lächelnd auf mich zu:

»Willkommen hier, Gregor! Ich weiß, Ihr nehmt

An unserm Glücke teil. Nun darf Marie

Der Sorgen ledig in die Zukunft sehn.

Der Staatsrat ist ein Ehrenmann; er warb

Bei mir zuerst, mit Freuden sagt' ich Ja,

Und herzlich dankt sie mir's, das teure Kind.

Nur kam es fast zu rasch und hat sie mehr,

Als nötig war, erregt. So spürt sie heut'

Ein wenig Kopfweh, das sie zaghaft macht,

Doch morgen wird sie blühn wie eine Rose.«

So plauderte die Dame, daß ich nicht

Zu Worte kam und nur mit stummem Gruß

Zurücktrat ins Gewühl. Da streifte mich

Mein alter Freund Euchar. »Welch freudlos Fest[318]

Kommst du zu feiern«, raunt' er mir ins Ohr,

»Die arme Braut! Wie hat sie sich gesträubt

Vor diesem Unglücksbund! Man sagt sogar,

Sie wollt' entfliehn, allein ihr Fluchtversuch

Mißlang, und wehrlos endlich, mattgequält,

Ergab sie sich in alles.« –

Zaudernd sucht' ich

Marien jetzt und fand sie. Angehaucht

Von Marmorblässe, regungslos, die Wimpern

Gesenkt, daß man die Spur der Tränen nicht

Gewahre, stand sie da, den Kranz im Haar,

Im weißen Brautkleid Iphigenien ähnlich,

Da zum Altar sie schritt. Und neben ihr,

Sein höflichst Lächeln um den welken Mund,

Zum Jüngling aufgestutzt, der lahme Greis,

Gewandt mit stets bereitem Flüsterwort

Ihr Schweigen deckend und den üblichen

Glückwunschtribut als Leu des Tags empfangend.

Ich trat heran. Sie reichte zitternd mir

Die kalte, ringgeschmückte Hand und sah

Mich wie um Mitleid flehend an, indes

Ihr Bräut'gam mich mit einer lauen Flut

Gewählter Phrasen überschüttete

Und mir sein Glück und seine Güter pries.

Erschüttert eilt' ich fort.

Am andern Tag

Hieß es, Marie sei krank, ein hitzig Fieber

Hab' über Nacht sie plötzlich heimgesucht,

Sie red' im Irrsinn, und der Arzt des Hauses

Befürchte für ihr Leben. Wochenlang

Lag sie darnieder so. Ich hätt' ihr fast

Den Tod gewünscht; doch ihre Jugendkraft

Bezwang die Wut des Übels. Sie genas,

Und – alles blieb beim alten.

Als die Hochzeit

Gefeiert wurde, war ich fern bereits,

Vom schönen Süden nach Paris versetzt,

Und lange Jahre blieb ich ohne Kunde[319]

Von allem, was Mariens Los betraf.

Da sprach ein Maler, der aus Moskau kam,

Nicht ahnend, daß sie einst mich Freund genannt,

Mir wiederum von ihr. Sie leb', erzählt' er,

Wie eine Fürstin dort, noch immer schön,

Hoch angesehn als Schützerin der Kunst

Und viel umfreit als kinderlose Witwe,

Doch jedes Zeichen wärmrer Huldigung

Stolz von sich weisend. Nur ein General,

Einst der Tscherkessen Geißel, dürfe sich

Des Vorzugs rühmen, ihr vertraut zu sein,

Ein schweigsam ernster Kriegsmann, vor der Zeit

Im Feld ergraut und unvermählt gleich ihr.

Ob er sich Boris nannt', erfuhr ich nie.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 310-320.
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