Die Sängerin

[372] Vor andern kalt zu scheinen

Hab' ich mich längst gewöhnt,

Doch halt' ich kaum das Weinen,

Wenn diese Stimme tönt.[372]


Die goldnen Weisen triefen

Ins Herz wie Vollmondschein

Und ziehn in alle Tiefen

Der Wehmut mich hinein.


Das sind gesungene Tränen;

Es klagt und flutet drin

Das ganze Leiden und Sehnen

Der kranken Sängerin.


Schon brennt auf ihrem blassen

Gesicht ein fliegend Rot;

Sie kann das Singen nicht lassen

Und weiß, es ist ihr Tod.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 372-373.
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