Ein Brief

[363] Das waren goldbeschwingte Tage,

Die ich im sonnigen Waldrevier,

Der Welt entrückt und ihrer Plage,

Noch einmal jung, verschwärmt mit dir.


Nun kehrt in seine stillen Gleise

Zurück mein Leben allgemach,

Doch klingt in tiefster Brust mir leise

Das Echo meines Glückes nach.[363]


Zwar bannt die Pflicht mich streng in Schranken,

Und manchmal nur im Tageslauf

Taucht überm Strome der Gedanken

Mir wie ein Stern dein Bildnis auf.


Doch wenn getreu beim Abendneigen

Das Werk, das mich erfüllt, vollbracht,

Dann steuert, wieder ganz dein eigen,

Die Seele durch das Meer der Nacht.


Dann red' ich wach zu dir und walle

Vereint mit dir des Traumes Bahn,

Die trauten Stätten grüß' ich alle,

Die unsrer Liebe Werden sahn:


Den Buchengang, den uns der Morgen

In herbstlich goldnen Duft getaucht,

Als du von meiner Stirn die Sorgen

Mit liebem Wort hinweggehaucht;


Das Hüttlein in des Parkes Schatten

Von Ros' und wildem Wein umkränzt,

Auf dessen Schwelle du dem Matten

Den frischen Trunk so oft kredenzt;


Das graue Jagdschloß überm Weiher,

Wo wir entzückt ins Laubgewog

Hinabgelauscht, indes der Reiher

Durchs Spätrot seine Kreise zog.


Und wieder hör' ich froh erschrocken

Den Laut, der meine Seele bannt,

Mich streift das Wehen deiner Locken,

Den Druck empfind' ich deiner Hand.


Ach, alles, alles kommt aufs neue,

Was mich so reich und froh gemacht;

Das sanfte Mondlicht deiner Treue

Schwebt über mir die ganze Nacht.


Und morgens dann in goldner Frühe,

Wenn kaum der letzte Stern erblich,

Gestärkt zu jeder Lebensmühe

Erwacht mein Herz und segnet dich.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 363-364.
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