Romanze

[278] Überm Schloß und seinen Gärten

Brütet heiß im Dunst der Mittag;

Wie in einem Märchen wandl' ich

Durch die schwüle Totenstille.[278]


Schlummertrunken um die Türme

Hängt der Efeu; vor den Fenstern

Liegen Schalter, mit geschloßnen

Wimpern scheint das Haus zu träumen.


Auch die hohen roten Blumen

Nicken wie im Schlaf gespenstisch,

Schweigend am verfallnen Springborn

Sonnt sich eine grüne Schlange.


Zum smaragdnen Ring verschlungen

Züngelt sie und blickt mit klugen

Augen zu mir auf, als wüßte

Manch Geheimnis sie zu melden,


Manch verschollenes Geheimnis

Von der schönen Königstochter,

Die des Abends hier gewandelt,

Wenn der blonde Page seufzte,


Von den Schwüren, die die Mondnacht

Hört' im Dunkel jener Lauben,

Von dem Blut, das dort geflossen,

Wo die roten Blumen schwanken.


Schon beschleicht ein heimlich Grauen

Mir das Herz, da dröhnt die Schloßuhr

Eins, und raschelnd in die Büsche

Schlüpft zurück die grüne Schlange.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 278-279.
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