Prüfung am Abend

[223] Der Tag ist wieder hin, und diesen Teil des Lebens,

Wie hab ich ihn verbracht? Verstrich er mir vergebens?

Hab ich mit allem Ernst dem Guten nachgestrebt?

Hab ich vielleicht nur mir, nicht meiner Pflicht gelebt?


War's in der Furcht des Herrn, daß ich ihn angefangen?

Mit Dank und mit Gebet, mit eifrigem Verlangen,

Als ein Geschöpf von Gott der Tugend mich zu weihn,

Und züchtig, und gerecht, und Gottes Freund zu sein?


Hab ich in dem Beruf, den Gott mir angewiesen,

Durch Eifer und durch Fleiß ihn, diesen Gott, gepriesen;[223]

Mir und der Welt genützt, und jeden Dienst getan,

Weil ihn der Herr gebot, nicht weil mich Menschen sahn?


Wie hab ich diesen Tag mein eigen Herz regieret?

Hat mich im stillen oft ein Blick auf Gott gerühret?

Erfreut ich mich des Herrn, der unser Flehn bemerkt?

Und hab ich im Vertraun auf ihn mein Herz gestärkt?


Dacht ich bei dem Genuß der Güter dieser Erden

An den Allmächtigen, durch den sie sind und werden?

Verehrt ich ihn im Staub? Empfand ich seine Huld?

Trug ich das Glück mit Dank, den Unfall mit Geduld?


Und wie genoß mein Herz des Umgangs süße Stunden?

Fühlt ich der Freundschaft Glück, sprach ich, was ich empfunden?

War auch mein Ernst noch sanft, mein Scherz noch unschuldsvoll?

Und hab ich nichts geredt, das ich bereuen soll?


Hab ich die Meinigen durch Sorgfalt mir verpflichtet,

Sie durch mein Beispiel still zum Guten unterrichtet?

War zu des Mitleids Pflicht mein Herz nicht zu bequem?

Ein Glück, das andre traf, war dies mir angenehm?


War mir der Fehltritt leid, so bald ich ihn begangen?

Bestritt ich auch in mir ein unerlaubt Verlangen?

Und wenn in dieser Nacht Gott über mich gebeut,

Bin ich, vor ihm zu stehn, auch willig und bereit?


Gott, der du alles weißt, was könnt ich dir verhehlen?

Ich fühle täglich noch die Schwachheit meiner Seelen.

Vergib durch Christi Blut mir die verletzte Pflicht;

Vergib, und gehe du nicht mit mir ins Gericht.


Ja, du verzeihest dem, den seine Sünden kränken;

Du liebst Barmherzigkeit, und wirst auch mir sie schenken.

Auch diese Nacht bist du der Wächter über mir;

Leb ich, so leb ich dir, sterb ich, so sterb ich dir!
[224]

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 223-225.
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