Vom Tode

[270] Meine Lebenszeit verstreicht,

Stündlich eil ich zu dem Grabe;

Und was ist's, das ich vielleicht,

Das ich noch zu leben habe?

Denk, o Mensch! an deinen Tod.

Säume nicht; denn eins ist not.


Lebe, wie du, wenn du stirbst,

Wünschen wirst, gelebt zu haben.

Güter, die du hier erwirbst,

Würden, die dir Menschen gaben;

Nichts wird dich im Tod erfreun;

Diese Güter sind nicht dein.


Nur ein Herz, das Gutes liebt,

Nur ein ruhiges Gewissen,

Das vor Gott dir Zeugnis gibt,[270]

Wird dir deinen Tod versüßen;

Dieses Herz, von Gott erneut,

Ist des Todes Freudigkeit.


Wenn in deiner letzten Not

Freunde hülflos um dich beben:

Dann wird über Welt und Tod

Dich dies reine Herz erheben;

Dann erschreckt dich kein Gericht;

Gott ist deine Zuversicht.


Daß du dieses Herz erwirbst,

Fürchte Gott, und bet und wache.

Sorge nicht, wie früh du stirbst;

Deine Zeit ist Gottes Sache.

Lern nicht nur den Tod nicht scheun,

Lern auch seiner dich erfreun.


Überwind ihn durch Vertraun,

Sprich: Ich weiß, an wen ich gläube,

Und ich weiß, ich werd ihn schaun

Einst in diesem meinem Leibe.

Er, der rief: Es ist vollbracht!

Nahm dem Tode seine Macht.


Tritt im Geist zum Grab oft hin,

Siehe dein Gebein versenken;

Sprich: Herr, daß ich Erde bin,

Lehre du mich selbst bedenken;

Lehre du mich's jeden Tag,

Daß ich weiser werden mag!


Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 270-271.
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