DER BLUMENELF

[33] In der bergschlucht wo niederschnellt

Der gletscher schmelzendes eis

Da hatte ein blumenelf sein zelt

Im kelch eines edelweiss.


Er lebte in seliger lust dahin

Genährt vom ätherischen trank

Er spielte froh wenn die sonne schien

Und träumte süss wenn sie sank.


Da sprosste zu seinen füssen nicht weit

Im felsigen gähnenden schacht

Die alpenrose im rötlichen kleid

In zarter und herrlicher pracht.[34]


Er sah sie und seine ruhe war fort ..

Nicht mehr der köstliche saft

Der sonne schein und der trauliche ort

Ihm freud und erquickung verschafft.


Ach sie vernahm es nicht was er sprach

Nicht konnte er flehend ihr nahn ..

Er welkte dahin von tag zu tag

Verzehrt von dem blinden wahn.


Und wieder einmal war sie erwacht

Geküsst von den perlen des taus

Und sah er sie leuchten in aller pracht –

Da hielt er es nicht mehr aus:


Er stürzte des sichern verderbens bewusst

Nach ihr in den gähnenden schlund

Und presste im fallen in brennender lust

Die blume an seinen mund.

Quelle:
Stefan George: Die Fibel. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 1, Berlin 1927, S. 33-35.
Lizenz:
Kategorien: