DER TULPENHÄNDLER

[99] Die tulpe ist unter den blumen was der pfau unter den vögeln ist. Die eine ist ohne duft · der andere ohne stimme · die eine ist stolz auf ihr kleid · der andere auf seinen schweif.


Kein geräusch ausser dem knittern der pergamentblätter unter dem finger des doktors Huylten · der von seiner mit gothischen maiereien besäten bibel nur die augen abwandte um das gold und den purpur zweier fische an den feuchten wänden einer glasglocke zu bewundern.

Die türflügel rollten: es war ein blumenhändler der die arme mit mehreren tulpentöpfen beladen sich entschuldigte dass er eine so gelehrte persönlichkeit im lesen unterbräche.

›Meister‹ – sagte er – ›hier ist der schatz der schätze · das wunder der wunder: eine zwiebel wie sie jedes jahrhundert nur einmal im schlosse des konstantinopolitanischen kaisers blüht.‹

›Eine tulpe‹ rief der alte mann erzürnt! ›dieses sinnbild des hochmuts und der prasserei die in der unglücklichen stadt Wittenberg die schrecklichen ketzer erzeugt haben.‹[100]

Meister Huylten hakte das schloss seiner bibel ein · legte seine brille ins futteral · zog den fenstervorhang zurück und in der sonne erschien eine passionsblume mit ihrer dornenkrone · ihrem schwamm · ihrer geissel · ihren nägeln und den fünf wunden Unsres Herrn.

Der tulpenhändler verbeugte sich ehrfürchtig und schweigend · durch einen forschenden blick des Herzogs Alba verwirrt dessen bild – ein meisterwerk Holbeins – an der wand hing.

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Stefan George: Tage und Taten. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 17, Berlin 1933, S. 99-101.
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