ELFTE UND ZWÖLFTE FOLGE · 1919

[57] Zum fünfundzwanzigsten erscheinjahr der Blätter verweisen wir auf die geleitsätze der früheren bände die über das verhältnis von dichtung und kunst · von leben und kunst alles nötige anführen und begnügen uns heute mit der feststellung dass über das einzelne gelungene versgebild hinaus immer mehr der wert grösserer dichterischer zusammenhänge empfunden wird und dass jezt mit den werken der söhne zum erstenmal die der enkel auftreten – weiter reicht die erwartung eines menschendaseins kaum. Auch die zweite stufe unsrer wirkung ist inzwischen sichtbarer geworden – durch bedeutsame weithin bestaunte bücher des wissens und der überschau. Vom einfluss im lebendigen kann geschwiegen werden.. nur so viel dass in jeder beziehung eine folge: eine überlieferung geschaffen ist. Draussen aber hat wie überall sich in künsten und wissenschaften das chaos ins unabsehbare verbreitert: alles gleitend · freischwebend · vereinzelt – hier kleintierhafte tüftelei und verblüffende zerspaltung · dort auflösen und verzerren bis zu gestotter klecks und fratze. Wir haben uns nur zu beschäftigen mit dem was schon jenseits des grossen Sumpfes liegt.

Jüngst erging an uns die mehrfache mahnung dass in diesen gelockerten führungslosen zeiten es geboten sei · die ausschliessende haltung aufzugeben und an weiteste kreise sich zu wenden. Freilich ist vieles von dieser stelle aus seit jahrzehnten gesagte heut fasslicher. Doch scheint es dass unbelehrt durch die furchtbaren ereignisse das jezt dahintreibende geschlecht eher alles andre möchte als auf seine drei oder vier lieblingsgötzen aus dem vorigen jahrhundert verzichten – die es so schmählich im stich gelassen haben. Es vergeudet seinen kraftrest mit hoffnungsloser flickerei am verschlissenen · mit törichtem aufspüren einer schuld beim nebenmann und in allerlei nebendingen. Die donnernden worte der richter · voran Nietzsche · über die frevel der Neo-Europäer verklangen ungehört. Den Deutschen wurde als den ersten vom verhängnis die gelegenheit gegeben zu erwachen: doch die gemeinsamen wurzeln der übel zu erkennen – sei es oben unten rechts links oder mitte – sind erst die[57] Späteren nicht die Gegenwärtigen befähigt. Dadurch wird nach wie vor die haltung des geistigen menschen in den staatlichen und gesellschaftlichen dingen bestimmt. Es hat kaum einen sinn · in diesem allgemeinen wirrwarr wo alles sich wütend bekämpft was allzusehr dasselbe ist hineinzurufen mit einem wort der würde der edlen leidenschaft oder auch nur der vernunft. Mag auch mancher mann der öffentlichkeit schon zugestehen dass er über die ›zeichen der zeit‹ und ›was in der welt wirklich vorgeht‹ sich zuweilen besser aus gedichtbüchern unterrichtet hätte als aus zeitungspapieren: das will nicht viel besagen! Nur den wenigen dürfte es einleuchten dass in der dichtung eines volkes sich seine lezten schicksale enthüllen.[58]

Quelle:
Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst. Düsseldorf, München 1964, S. 57-59.
Lizenz:
Kategorien: