ZEHNTE FOLGE · 1914

[55] Wenn die Blätter für die Kunst nach längerer pause wieder erscheinen · muss es ihnen vergönnt sein mit einem überblick über die dichtung der jüngsten vergangenheit zu beginnen. Als im lezten viertel des vorigen jahrhunderts die deutsche poesie in süssliches nachfahrentum und theaterhafte rednerei verfiel · folgte in den achtziger jahren jene äusserliche gegenbewegung der sogenannten wirklichkeitskunst. Sie kam aus keiner gestaltenden not · sie war verneinend oder auflösend und änderte nur die stoffe. Es ist heute nur als geschichtliche tatsache begreiflich dass damals die Jugend wie die Gebildeten in den lyrischen epischen und dramatischen erörterungen über gesellschaftliche übelstände und den missbrauch gegorener getränke eine neue kunst erblickten – ihrer sprachlichen leistung und ihrer geistigen haltung nach unterschied sie sich in nichts von schlechten Sturmunddrang-liedern den vorelterlichen leihromanen und der bekannten bürgerlichen komödie. Erst in den neunziger jahren begann mit dem erwachen der bildenden künste auch die wiedergeburt der dichtung. Der neue ton drang langsam in alle verserzeugnisse so sehr dass das gedicht vor und nach 90 sofort zu erkennen war und der neue sinn wurde wenn auch abgeschwächt in den entlegensten winkeln des schreibewesens wahrnehmbar. So erfreulich nun auch die vielen verse mit rhythmischer schulung und die vielen schriften mit durchgebildeterer sprache waren: die nur oberflächlich ergriffenen gingen bald über zu einem formalen alexandrinertum zu nervenhaftem verfeinern und zu spielerischer freude am blossen schmuck. Aber nicht einmal in dieser form ging das einmal Gewonnene · wie befürchtet wurde · sich übersteigernd weiter: alle ›die fortschreiten zu müssen‹ glaubten verfielen wieder in die anfänglichste plattheit und kinderei. So sehen wir jezt in diesen bedeutungsvollen läuften die vers-hervorbringungen nicht etwa in das immerhin stosskräftige getobe der achtziger jahre sondern in den faden singsang der siebziger jahre zurückgesunken. Unsere Blätter · die eine warte für die dichtkunst waren und sein wollen · haben heute erst recht die aufgabe zu zeigen was als mindestes geleistet werden[55] muss · und ihr selteneres erscheinen verrät nur ein stärkeres gefühl der verantwortung – keine ermüdung. Sie haben zu zeigen dass in zeiten eines kräftigen gesamtlebens die Dichtung keine gelegenheits- mache und spielerei · sondern innerste seele des volkes ist.


NACHRICHTEN

Die zehnte folge der ›Blätter‹ war bereits im vorsommer zusammengestellt. Es lag kein grund vor das erscheinen hinauszuschieben da unsere haltung vor und in den ereignissen des jahres sich gleicht. Auf den verweis dass es jezt nicht der augenblick für gedichte sei antworten wir mit Jean Paul dass vielleicht keine zeit den dichter nötiger hat als die ihn am ehsten entbehren zu können glaubt. Wie in den vorigen folgen einige so sind in dieser lezten alle verfassernamen als nicht unbedingt zur sache gehörig unterblieben.[56]

Quelle:
Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst. Düsseldorf, München 1964, S. 55-57.
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