ZWEITE FOLGE · ZWEITES HEFT · 1894

[10] Nicht bloss in zeiten des übergangs sind die schwankenden bohrenden andeutenden sätze den schulmässig feststehenden vorzuziehen: sie sind die sibyllinischen zeichen aus denen die jugend ihre tiefste anregung empfängt.


NIEDERGANG (dekadenz) in verschiedener hinsicht ist eine erscheinung die man unklugerweise zum einzigen ausfluss UNSRER zeit machen wollte – die gewiss auch einmal in den rechten händen künstlerische behandlung zulässt sonst aber ins gebiet der heilkunde gehört.

Jede niedergangs-erscheinung zeugt auch wieder von höherem leben.


Das SINNBILD (symbol) ist so alt wie sprache und dichtung selbst. es gibt sinnbild der einzelnen worte der einzelnen teile und des gesamt-inhalts einer kunst-schöpfung. das lezte nennt man auch die tiefere meinung die jedem bedeutenden werk innewohnt.

Sinnbildliches sehen ist die natürliche folge geistiger reife und tiefe.


Zwischen ÄLTERER UND HEUTIGER KUNST gibt es allerdings einige unterschiede:

Wir wollen keine erfindung von geschichten sondern wiedergabe von stimmungen keine betrachtung sondern darstellung keine unterhaltung sondern eindruck.

Die älteren dichter schufen der mehrzahl nach ihre werke oder wollten sie wenigstens angesehen haben als stütze einer meinung: einer weltanschauung – wir sehen in jedem ereignis jedem zeitalter nur ein mittel künstlerischer erregung. auch die freisten der freien konnten ohne den sittlichen deckmantel nicht auskommen (man denke an die begriffe von schuld usw.) der uns ganz wertlos geworden ist.

Drittens die kürze – rein ellenmässig – die kürze.


Das GEDICHT ist der höchste der endgültige ausdruck eines geschehens: nicht wiedergabe eines gedankens sondern einer stimmung. was in der malerei wirkt ist verteilung linie und farbe, in der dichtung: auswahl maass und klang.[10]

Viele die über ein zweck-gemälde oder ein zweck-tonstück lächeln würden glauben trotz ihres leugnens doch an die zweck-dichtung. auf der einen seite haben sie erkannt dass das stoffliche bedeutungslos ist, auf der andern suchen sie es beständig und fremd ist ihnen eine dichtung zu GENIESSEN.


ERZÄHLUNG. Man verwechselt heute kunst (literatur) mit berichterstatterei (reportage) zu welch lezter gattung die meisten unsrer erzählungen (sogen. romane) gehören. ein gewisser zeitgeschichtlicher wert bleibt ihnen immerhin obgleich er nicht dem der tagesblätter richtverhandlungen behördlichen zählungen u.ä. gleichkommt.


Eine neubelebung der BÜHNE ist nur durch ein völliges in-hintergrundtreten des schauspielers denkbar.

Warum gerade die bühnen-dichtung die HÖCHSTE sein soll?


KUNSTWERT besizt die arbeit die menschen oder dingen irgend eine neue unbekannte seite abzugewinnen und als möglich darzustellen weiss.


Unsre KUNSTRICHTER (kritiker) bedeuten deshalb so wenig weil sie meist verkümmerte künstler sind die andrer werke bereden und tadeln in der ohnmacht eigne hervorzubringen.


Wenn wir alle FREMDWÖRTER auch die eingewurzelten – alle schlagworte gehören hierzu – wegliessen so bliebe vieles leere ungesagt. wenn ein satz der eines solchen wortes nicht entbehren kann fortfällt so wird weder sprache noch gesellschaft dadurch einen verlust erfahren.


REIM ist ein teuer erkauftes spiel. hat ein künstler einmal zwei worte miteinander gereimt so ist eigentlich das spiel für ihn verbraucht und er soll es nie oder selten wiederholen.


Wir bemerken nun schon seit jahren: in keinem nebenstaate – auch den stammverwandten nieder- und nordländischen nicht-dürfen der gleichen leserstufe solche erzeugnisse als dichtungen dargeboten werden wie bei uns. daraus ergibt sich für die nächstfolgende zeit die verschiedenheit unsrer kunstaufgabe von der unsrer nachbarn.[11]

Quelle:
Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst. Düsseldorf, München 1964, S. 10-12.
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